Von der Empörung zur Gewalt und wieder zurück
Wie die 68er den Pazifismus verlernten von Christian Semler
Wer darf unter welchen Bedingungen innerstaatliche Gewalt ausüben? Anscheinend ist diese Frage heutzutage auch im Milieu der Linken geklärt. Es ist der Staat, der das „Monopol legitimer physischer Gewaltausübung“ besitzen soll. So definierte es der Soziologe Max Weber vor über 100 Jahren. Legitim ist staatliche Gewalt aber nach heutiger Auffassung dann, wenn sie nicht willkürlich gehandhabt, wenn sie durch die Grundsätze des Rechtsstaats, der Grundrechte und der Demokratie „eingehegt“ wird.
Gemessen an diesem normativen Verständnis erscheint es schwer begreiflich, warum die Generation der radikal linken 68er – einschließlich vieler ihrer Sympathisanten aus dem intellektuellen Umfeld – eine gänzlich andere Vorstellung von der Legitimität politischer Gewalt entwickelten. Warum sie am Ende weder dem Rechtsstaat noch den Institutionen der parlamentarischen Demokratie vertrauten und insbesondere nicht bereit waren, dem staatlichen Gewaltmonopol einen Blankoscheck auszustellen. Und warum sie stattdessen der unterdrückerischen Gewalt des Staates die Gegengewalt der Unterdrückten entgegensetzen wollten.
Waren die radikalen Linken etwa psychisch defekt, wie manche Kritiker heute meinen? Waren sie Gewaltfetischisten, die sich eine existenzielle Entscheidungssituation herbeiträumten, sich vom Gebrauch von Knarre und Sprengstoff eine rauschhafte Steigerung ihres Erlebens versprachen?
Werfen wir einen Blick zurück, auf eine Demonstration linker Studenten Mitte der 1960er-Jahre. Wir sehen eine Versammlung kreuzbraver, meist dem akademischen Mittelstand entstammender Jugendlicher, die – nach dem Vorbild ihrer Kommilitonen in den USA – für Meinungsfreiheit auf dem Campus und demokratische Reformen der Universität streiten. Wenig später strömen sie zu friedlichen Demonstrationen in die Stadtzentren. Sie protestieren gegen den Krieg in Vietnam. Sie organisieren unter Missachtung der Straßenverkehrsordnung Sitzstreiks und Blockaden, also Formen des zivilen Ungehorsams – ebenfalls Importprodukte aus den USA. Von der Anfechtung des staatlichen Gewaltmonopols, gar von Gegengewalt keine Spur.
Auf diese wohlgesittete Schar wird ein entschlossener Gewaltapparat losgelassen. Als befinde man sich im Bürgerkrieg, rücken die Hundertschaften der Polizei, ausgerüstet mit Knüppeln, Tränengas und Wasserwerfern, gegen die Demonstranten vor. Flankiert wird diese Offensive durch ein Trommelfeuer des medienbeherrschenden Springer-Konzerns, der die Studenten als Tiere (langhaarige Affen) und rotlackierte Faschisten tituliert.
Der Aufmarsch staatlicher Gewalt gegen die linken Rebellen stieß in der deutschen Gesellschaft kaum auf Widerstand. Es regierte der Horror vor der bolschewistischen Gefahr, in dem sich die noch wirksame Nazi-Indoktrination und konkrete Bedrohungsängste trübe mischten. In dem Maße, in dem die Studentenbewegung in Schule und Familie ihr antiautoritär-demokratisches Potenzial entfaltete, wuchsen die Bedrohungsängste und verdichteten sich zu einem klar umrissenen Feindbild.
In Westberlin spielte sich noch ein anderes Psychodrama ab. Die große Mehrheit der Bevölkerung sah in der Kritik am Krieg in Vietnam eine elementare Verletzung der Solidarität mit den USA, die doch Westberlin während der Berliner Blockade „vor den Kommunisten gerettet“ hatten. Auch das heroische Selbstbild der Westberliner wurde durch die studentischen Aktionen angekratzt. Hatte man etwa der drohenden roten Machtübernahme getrotzt, um sich von den linken Studenten auf der Nase herumtanzen zu lassen?
Bis zum 2. Juni 1967, als der Student Benno Ohnesorg von einem Polizisten – keineswegs in Notwehr – erschossen wurde, hielten sich die studentischen Aktionen einfallsreich in der Schwebe, in einem trickreichen Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei. Danach änderte sich alles: Die Staatsgewalt tötete und versuchte auch noch den Totschlag zu vertuschen. Als die Linken durch eigene Ermittlungen die Wahrheit ans Licht brachten, stand für sie fest: Der Rechtsstaat hatte versagt.
Der Tod des Studenten Ohnesorg wurde fortan nicht mehr als isolierte Untat gesehen, sondern auf der Folie der politischen Auseinandersetzung um die „Notstands“-Gesetze interpretiert. Diese Gesetze, 1968 verabschiedet, schränkten die Geltung der Grundrechte im Notstandsfall ein, zu dem auch der „innere Notstand“ gehörte.
Frieden in Vietnam und Waffen für den Vietcong
Die linken Rebellen standen vor einem bedrückenden Szenario: Der autoritäre Polizei- und Sicherheitsstaat kann sich auch im Rahmen einer parlamentarischen Demokratie etablieren und diese von innen aushöhlen. Was tun? Die linken Studenten befürworteten mit Teilen der Gewerkschaftsbasis den (gesetzlich verbotenen) politischen Generalstreik. Der Versuch scheiterte.
Und dann war da noch der Krieg in Vietnam. Demokratischen Institutionen und einer unabhängigen Presse zum Trotz beging die US-Armee fortlaufend Kriegsverbrechen und löschte in den drei Staaten Indochinas ganze Bevölkerungsgruppen aus. In den Augen der Linken führte das vietnamesische Volk, repräsentiert durch die nationale Befreiungsfront (FNL) und Nordvietnam, einen Befreiungskrieg. Deshalb rief man an den Universitäten nicht nur zum Frieden in Vietnam auf, sondern sammelte auch Geld für „Waffen für den Vietcong“. Die Gewaltanwendung durch die Vietnamesen und andere Befreiungsfronten galt fraglos als gerecht. Die radikale Linke von 1968 unterstützte, im Gegensatz zur Friedensbewegung der 1980er-Jahre, weitgehend die Vorstellung vom gerechten Krieg, wenn er als Verteidigung gegenüber dem Imperialismus auftrat und dabei Elemente der sozialen Befreiung und der Demokratie hervorbrachte. Als historischen Bezugspunkt sah man die Anti-Hitler-Koalition. Die Vorstellung einer prinzipiellen Gewaltfreiheit war in dieser Zeit eine Minderheitsposition.
Die radikalen Linken waren aktions- und praxisgläubig und dazu buchgläubig. Was sie erlebten, mussten sie theoretisch begreifen und einordnen. Aber der Komplex der Gewaltanwendung sperrte sich gegen schlichte Kategorisierung: Auf internationaler Ebene mochte die allgemeine Solidarität mit den gegen den Imperialismus kämpfenden Völkern selbstverständlich sein. Aber wie stand es mit der Gewaltanwendung durch die radikale Linke in den kapitalistischen Metropolen?
Diese seit 1967 schwelende Debatte wurde mit strategisch-utilitaristischen wie mit ethischen Kategorien geführt, die sich oft vermischten und verschoben – auch in den Köpfen ihrer Protagonisten. Tilman Fichter, ein Berliner SDS-Aktivist, formulierte es kürzlich so: „Beim Frühstück konnte Rudi Dutschke noch überzeugter Pazifist sein, während er beim Mittagessen revolutionäre Gewalt für notwendig hielt. Ehrlicherweise muss man sagen, dass jeder von uns in diesen Debatten unterschiedliche Auffassungen vertreten hat.“
In strategisch-utilitaristischer Sicht erschien Gewaltanwendung unter den Bedingungen entwickelter kapitalistischer Industriestaaten als ungeeignetes Kampfmittel, solange der autoritäre Staat nicht seine eigene bürgerlich-parlamentarische Verfassung über Bord warf und zum systematischen Terror überging. Bis dahin sollten sich die Aktionen der radikalen Linken in einem Rahmen bewegen, der Leben und Gesundheit auch der gegen sie eingesetzten Polizei- und Sicherheitskräfte nicht bedroht. Die von der antiautoritären Revolte propagierten Aktionsformen, die Organisation in selbstbestimmten Aktions- und Basisgruppen, die massenhafte Verweigerung gegenüber individualisierenden bürgerlichen Karrieren und die Sabotagearbeit in den bürokratischen Apparaten machten in den Augen der radikalen Linken den Rekurs auf Gewaltanwendung in einem Land wie der Bundesrepublik auch nicht nötig.
Neben diesen strategischen Überlegungen gab es einen ethisch motivierten Argumentationsstrang, der in der Losung „Gewalt gegen Sachen ja, Gewalt gegen Personen nein“ mitschwang. Man konnte diese Losung als prinzipielle ethische Maxime verstehen. Gerade von einer Bewegung, die sich angesichts der Verletzung ethischer Normen radikalisiert hatte, war eigentlich zu erwarten, dass der Grundsatz „keine Gewalt gegen Personen“ als entscheidendes ursprüngliches Motiv außer Zweifel steht.
Das Problem war nur, dass diese differenzierte Definition von Gewalt bei der Härte der Auseinandersetzungen mit der Staatsmacht schwer durchzuhalten war. Das zeigte sich schon bei den letztlich erfolglosen Blockadeaktionen gegen den Springer-Konzern nach dem Attentat auf Rudi Dutschke, wo Gewalt gegen Sachen und Gewalt gegen Personen nicht mehr trennscharf zu unterscheiden waren. Noch deutlicher wurde das Dilemma in der Berliner „Schlacht am Tegeler Weg“ Ende 1968, wo gegen das drohende Berufsverbot für den APO-Anwalt Horst Mahler demonstriert wurde.
Die 68er erlaubten sich keine Denkpause
Die „Schlacht“ hinterließ eine große Anzahl durch Steinwürfe verletzter Polizisten. Sie wurde von den Demonstranten als legitime Gegenwehr verstanden, als endlich gelungener Nachweis, dass die Polizei die Protestierenden nicht wie eine Herde Schafe vor sich hertreiben konnte. Freilich war damit ein Exempel von Gegengewalt gesetzt, das der prekären Unterscheidung von Gewalt gegen Personen und Gewalt gegen Sachen ihre ethische Komponente entzog.
Zahlreiche Debatten in studentischen Vollversammlungen wie im Rahmen des SDS in den Jahren 1967/68 zeugten von dem Bemühen, die Gewaltfrage theoretisch wie praktisch „in den Griff“ zu bekommen. Alle Aktionen, in denen Gewalt mitspielte, sollten nach dem ursprünglichen Willen der linken Radikalen dem Prinzip der Einheit von Aktion und (anschließender) Reflexion unterliegen. Die Radikalen wollten so einem nicht mehr kontrollierbaren Aktion-Reaktion-Schema der Gewaltanwendung entrinnen und verhindern, dass Gewalt ihre kommunikationstötende stumme Potenz entfaltet.
Warum gelang das nicht mehr? Die linke Versammlungsöffentlichkeit, die lange Zeit in der Studentenbewegung ein wirksames Instrument demokratischer Debatte und Kontrolle gewesen war, zerfiel rasch. Es bildeten sich Subkulturen, die sich keiner solchen Öffentlichkeit mehr rechenschaftspflichtig wähnten. Ausschlaggebend aber war eine Mentalität in allen Gruppen der APO, die sich dem Innehalten, dem gründlichen Nachdenken über den eingeschlagenen Weg widersetzte.
Ende des Jahres 1968 rief eine Gruppe um den Theologen Helmut Gollwitzer die gesamte außerparlamentarische Opposition dazu auf, alle Aktionen für einen Moment ruhen zu lassen, eine „Denkpause“ einzulegen. Doch genau das, was die Radikalen damals am nötigsten hatten, mochte ihnen am wenigsten schmecken. Es sollte immer weiter-, immer vorangehen. Das Eisen schmieden, so lange es heiß ist: Die Revolution macht keine Pause. Wäre diese Selbsttäuschung vermeidbar gewesen? Sicher. Aber das hätte eine entwickelte politische Kultur der Linken in Deutschland vorausgesetzt.
Der radikale Ausweg aus dem Gewaltdilemma war ein dezisionistischer Akt – die Gründung der Roten Armee Fraktion (RAF). Die von ihr propagierte Losung des bewaffneten Kampfs in den Metropolen stieß auf die fast vollständige Ablehnung der radikalen Linken. Das gilt für die Gruppen, die auf der Basis des bürgerlichen Staates für den Sozialismus kämpfen wollten, wie für die dogmatischen K-Gruppen, die die revolutionäre Gewalt an die Erhebung des Proletariats banden. Sie lehnten die Anschläge der RAF als konterrevolutionär ab, da zur Unzeit und von den falschen Leuten verübt – also mit den alten utilitaristischen Argumenten .
Erst der Siegeszug der ökologischen Bewegung in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre pflügte dieses Gelände um. Einer der vier Grundpfeiler der entstehenden Grünen-Partei war die Forderung nach prinzipieller Gewaltfreiheit. In ihrer übergroßen Mehrheit unterschrieben die Aktivisten der 1960er-Jahre dieses Postulat und zogen damit die Konsequenz aus dem zwiespältigen Ergebnis, das die Anwendung revolutionärer Gewalt im 20. Jahrhundert gezeitigt hat. Doch dieser fast geräuschlose Übergang entlastete die Linksradikalen von einer allzu schmerzlichen Beschäftigung mit ihren früheren Positionen.
Diese Bejahung des Prinzips der Gewaltlosigkeit bedeutete jedoch nicht die vorbehaltlose Anerkennung des staatlichen Gewaltmonopols „ohne Wenn und Aber“, wie sie Otto Schily einforderte. Der Grund für diesen Vorbehalt war rational. Denn mit der blanken Anerkennung des staatlichen Gewaltmonopols drohte auch die Anerkennung seiner jeweils konkreten Erscheinungsformen. Ganz zu schweigen vom Imperativ jeder linken Politik, staatliche Gewaltanwendung durch neue Formen der Gewaltprävention und Konfliktschlichtung einzugrenzen und schrittweise zurückzunehmen.
Von dieser kritischen Reserve der Linken ist heute, im Zeichen des „Kampfs gegen den internationalen Terrorismus“, nicht viel übrig geblieben. Der Zivilisationsgewinn durch das prinzipielle Ja zur Gewaltfreiheit hat also eine Schattenseite. Der präventive Sicherheitsstaat, der die Grenzen des staatlichen Gewaltmonopols verwischt und damit die Demokratie gefährdet, braucht kaum mehr mit gesellschaftlicher Gegenwehr zu rechnen.
Christian Semler, Jahrgang 1938, hat Jura, Politikwissenschaft und Geschichte studiert und war 1968 führendes Mitglied des SDS. Er lebt als freier Autor in Berlin. © Le Monde diplomatique, Berlin