09.05.2008

Brief aus Damaskus

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Brief aus Damaskus

von Samir Aita

Immer häufiger begegne ich in Syrien Frauen mit Kopftuch, vor allem sehr jungen Frauen. In den Straßencafés, die in den letzten beiden Jahren wie Pilze aus dem Boden geschossen sind, sitzen Jungen und Mädchen beisammen, Letztere mit oder ohne Kopftuch. Es wird Kaffee getrunken, aber auch Bier. Das Gespräch plätschert dahin. Sie unterhalten sich über Kunst und Kultur, über das Festival, das Damaskus als arabische Kulturhauptstadt 2008 ausrichtet.

Als Aleppo im vorigen Jahr als islamische Kulturhauptstadt firmierte, war nicht viel los. Jetzt gab es wenigstens die Konzerte der großen libanesischen Sängerin Fairuz, auch wenn syrienkritische Kräfte im Libanon deswegen Krach geschlagen haben. Ich habe allerdings niemanden gefunden, der da gewesen ist. Die 200 Dollar teuren Eintrittskarten waren sofort ausverkauft. Da nützte es auch nichts, einen ganzen Tag lang in der Schlage zu stehen. Die meisten Karten gingen sowieso an die „Wohlfahrtsvereine“, die mit den Machthabern und ihren Geschäftemachern unter einer Decke stecken.

Ein junger Mann erzählt, dass er seine kleine Galerie schließen musste. „So wie das jetzt läuft, kann ich nicht mehr mithalten. Die Neureichen stecken ihr Geld nicht nur in Immobilien, sondern auch in Kunst. In ihren Galerien verlangen sie von den Malern Exklusivrechte. Dafür zahlen sie Summen, von denen die Künstler früher nie zu träumen gewagt hätten: zehn- bis zwanzigtausend Dollar pro Bild!“

Meine Gesprächspartner sind sichtlich deprimiert. „Das Land verändert sich rasend schnell. Aber nicht so, wie wir es uns erträumt haben. Wir wollen nicht so einen Wahnsinn wie im Irak und auch nicht das Chaos, das im Libanon herrscht. Alles, nur das nicht. Aber was soll jetzt werden? Auch mit diesem UN-Tribunal wegen des Mordes an Rafik Hariri.“ Zwei Tage zuvor war Imad Mughnija, der Militärchef der Hisbollah, in Damaskus ermordet worden, ganz in der Nähe der Geheimdienstzentrale. Man befürchtet neue Spannungen: „Hassan Nasrallah hat Rache geschworen. Und der hält, was er verspricht.“

Ehe am Tisch das große Elend ausbricht, verabreden sich alle für nach dem Essen im „Club“ in der Altstadt. Wie jeden Freitag werden dort spätabends die Ängste weggetanzt. Ein merkwürdiger Anblick, wenn diese jungen Syrer bemüht lässig (wahrscheinlich haben sie stundenlang geübt) einen schwermütig schmachtenden Tango tanzen, auch Mädchen in Jeans und Bluse und mit züchtig bedecktem Haar. Ab und zu, bei Salsa oder Rumba, wird die Stimmung etwas fröhlicher.

Die neue syrische Jugend hat nur einen Traum: weggehen, woanders sein. Es gibt nicht genug Arbeit für die Babyboomer der 1970er- und 1980er-Jahre. Wer im Ausland, in den Golfstaaten oder besser noch in den USA oder in Europa, ein paar Erfahrungen sammeln konnte, dem bieten die neuen Privatbanken oder sonstige prosperierenden Holdings heute Spitzengehälter.

Das Leben ist schier unbezahlbar geworden, dabei hat man die modernen Konsumgüter direkt vor der Nase: Mobiltelefone, Markenkleidung und alle Automarken der Welt. Aber das Essen ist inzwischen viel teurer. Und wenn demnächst die Subventionen für Benzin und Grundbedarfsgüter wegfallen, wird es noch schlimmer werden.

Dass Wohnungen heute unerschwinglich sind, hat zwei Gründe: Zum einen ist das Geld, das nach dem Truppenabzug aus dem Libanon ins Land kam oder von den geflohenen Irakern mitgebracht wurde, vor allem in die Immobilienspekulation geflossen. Zum anderen gibt es keine Obergrenzen mehr für die Mieten: „Einmal im Jahr steht der Vermieter vor der Tür und verlangt 30 bis 50 Prozent mehr Miete. Wenn du das nicht zahlen kannst, fliegst du raus“, erzählt ein junger Mann. „Und die Gelegenheitsjobs schnappen uns die Iraker weg. Sie lassen sich schamlos ausbeuten. Aber sie brauchen das bisschen Geld zum Überleben, sonst müssen sie ihre Töchter auf den Strich schicken. Geh mal abends in die Vororte Al Tall und Mnin. Da steht ein Mädchen neben dem anderen.“

Sind also die irakischen Flüchtlinge schuld? In Damaskus wird wild darüber spekuliert, wie viele es denn nun sind: eine Million oder zwei Million? Das wären 10 Prozent der syrischen Bevölkerung! Im Vorort Jaramana ist ein Kleinbagdad entstanden, mit den gleichen berühmten Restaurants, die das gleiche Riesenschawarma servieren.

„Ich weiß nicht, ob sie schuld sind“, zweifelt ein junger Mann, der an unserem Tisch seine Nargileh raucht. „Es liegt auch an der Regierungspolitik. Die betreiben eine hemmungslose Liberalisierung. Nehmt nur die Arbeitsministerin, Baathistin und angeblich Sozialistin. Sie bereitet ein neues Arbeitsgesetz vor: Der Arbeitsvertrag soll ein völlig ungeregelter Vertrag sein, in den sich die Regierung nicht einmischen darf. So ‚liberal‘ ist nicht mal George Bush.“

Der Mann ist nicht dagegen, dass Syrien den Irakern Zuflucht gewährt: „Auch während des Kriegs im Sommer 2006 haben wir schließlich alles getan, um die Schiiten aus dem Südlibanon aufzunehmen und sie zu unterstützen. Gott hat ihnen al-Bala’ geschickt (wörtlich: eine Prüfung, aber das arabische Wort bedeutet auch Katastrophe oder Pest), und wenn wir ihnen helfen, wird Gott uns ein derartiges Unglück ersparen. Iraker und Libanesen sind schließlich unsere Brüder, trotz allem und unabhängig von ihrer Religion, egal ob Schiiten, Sunniten, Syriaken, Kurden oder Jesiden. Die Grenzen haben doch die Franzosen und Engländer festgelegt. Und das Schlimmste wäre, wenn am Ende noch die Amerikaner und Israelis von dem Chaos profitieren, das sie angerichtet haben.“

„Aber heute hassen euch die Libanesen“, wende ich ein, „sie wollen, dass ihr ihre Unabhängigkeit anerkennt, den Grenzverlauf festlegt, eine syrische Botschaft in Beirut eröffnet!“ Ein Kopftuch-Mädchen entgegnet wütend: „Dagegen haben wir doch nichts! Aber wer hat denn die jungen Libanesen gegen uns aufgehetzt? Und wer fordert das jetzt alles, nachdem gerade die Neokons vom US-Außenministerium in Beirut waren? Das sind dieselben Leute, die früher in den Cafés von Damaskus saßen und auf eine Audienz bei den Machthabern warteten.“ Repression gegen die Bevölkerung habe es doch in beiden Ländern gegeben, meint die junge Frau. Aber sie fragt empört: „Wo waren diese libanesischen Politiker, als die Leute hier in Syrien wegen einer politischen Äußerung für fünfzehn Jahre ins Gefängnis wanderten? Sie haben sich mit den Geheimdienstchefs auf Partys vergnügt. Im Libanon durfte man wenigstens frei reden.“ Dann empört sie sich über die Beschuldigung, hinter dem Mord an Hariri würden „die Syrer“ stehen: „Welche Syrer? Wir haben nichts damit zu tun, uns ging’s noch dreckiger als denen. Wenn jetzt in Beirut an den Hauswänden steht: ‚Die Syrer sind Hunde‘, und wenn syrische Bauern gedemütigt werden, die für einen Hungerlohn im Libanon arbeiten, ist das die Zedernrevolution? Ist das der Hoffnungsschimmer auf Freiheit von autoritären Regimen?“ Dann wird sie ruhiger und deutlich leiser: „Wir wehren uns doch nicht gegen die Assad-Familie, damit wir stattdessen die Familie Hariri hier sitzen haben.“ Für Sekunden starren alle an die Decke.

Tags darauf geht das Gespräch am selben Ort weiter. Wie sieht es in Syrien aus? Was ist mit Exvizepräsident Khaddam, den Muslimbrüdern, dem Manifest von Damaskus und der neuen Presse im Land? Ein älterer Mann ergreift das Wort: „Reden wir erst mal über den Damaszener Frühling. Wir haben der Antrittsrede des neuen Präsidenten geglaubt. Er war so jung wie wir. Deshalb begann im Herbst 2002 ganz Syrien über die Zukunft zu diskutieren. Überall gab es Clubs und Gesprächszirkel. Das war toll, wenn auch nicht immer ganz einfach. Die Machthaber schickten uns baathistische Professoren, die wichtigtaten und pausenlos redeten. Aber das war halb so schlimm. Endlich durfte über alles geredet werden.“

Und der Mann schildert eine Diskussion an der Universität Damaskus: „Da wurde Khaddam, damals noch Vizepräsident, von denselben Professoren ausgebuht, die uns so genervt haben: ‚Das Benzin in den Autos deiner Söhne hätte gereicht, um unsere mageren Gehälter aufzubessern!‘, musste er sich anhören. Er fragte zurück: ‚Wollt ihr vielleicht algerische Zustände in Syrien?‘ An dem Tag triumphierte der Damaszener Frühling. Die offene Atmosphäre und die neuen Ideen erreichten auch die andere Seite, die Baathisten.“

Dann aber bekamen sie es mit der Angst und setzten dem Frühling ein Ende: „Seitdem ist das politische Leben allmählich erloschen. Ein paar haben weiter dran geglaubt, wie der kritische Journalist Michel Kilo. Er hatte den Baath-Leuten noch im Juni 2005 bei der Vorbereitung ihres Parteitags geholfen. In den Dokumenten stand sogar etwas von der Freiheit, politische Parteien zu gründen. Aber am letzten Tag hielt Präsident Assad eine dreistündige Rede, und alles war wieder umgeworfen.“

Als es um Michel Kilo geht, der inzwischen im Gefängnis sitzt, wird die Diskussion lebhafter. Ein junger Mann, der den Mund bisher nicht aufgemacht hat, meint schüchtern: „Kilo wollte schlauer sein als sie. Sie haben nur drauf gewartet, dass er einen Fehler macht. Und prompt kam dieser lächerliche Artikel, in dem er die Traueranzeigen in den alawitischen Bergen mit denen in Damaskus verglich. Das sah nach Instrumentalisierung der Religion aus. Das war jammerschade.“

Ein anderer widerspricht: „Wenigstens hat er nicht den Sturz des korrupten Regimes verlangt, wie Khaddam, der den ganzen steinreichen Hariri-Clan in Paris hinter sich hatte.“ Jemand lacht: „Letztlich hat Khaddam Syrien einen Dienst erwiesen, weil die Muslimbrüder sich mit ihm verbündet und damit ihre Glaubwürdigkeit eingebüßt haben. Khaddam hat sozusagen die islamische Option in Syrien erledigt!“

Ich frage nach dem Manifest von Damaskus. Zuerst herrscht langes Schweigen, dann wagt sich der etwas Ältere vor: „Die erste Erklärung vom Herbst 2005, als die Leute gerade anfingen, den Damaszener Frühling zu vergessen, war wirklich mutig. Aber darin stand auch der Satz über den ‚Islam als Mehrheitsreligion‘. Der hat alles verdorben. Diese Leute waren sehr mutig; einige gingen für ihre abweichende Meinung 12 oder 15 Jahre ins Gefängnis.“

Danach sei alles wieder vergessen worden und in den Wirren im Gefolge des Mordes an Hariri und des syrischen Rückzugs aus dem Libanon untergegangen. Erst im letzten Dezember habe es ein neues Treffen gegeben, um einen neuen Text zu beschließen: „Da kamen etwa 200 Leute zusammen und wählten eine Frau an ihre Spitze, die nicht mal zu einer der drei politischen Strömungen des Manifests gehörte. Diese Wahl war auch wieder mutig – und teuer bezahlt: mit Sondergericht und Gefängnis.“

Ein Mädchen wirft süffisant ein: „Eine Frau an der Spitze, das passte ihnen nicht, und dann noch eine, die in ihrem Revier wildert – nämlich Fidaa Horani, die Tochter von Akram Horani, einem Gründer der Baath-Partei.“

Nach kurzem, gewichtigem Schweigen verkündet jemand: „Wir müssen zum Geist des Damaszener Frühlings zurück. Der Frühling war symbolisch wichtig, weil er den Dialog akzeptiert hat, sogar den mit den Baathisten. Diesen Geist müssen wir wiederbeleben, trotz des Drucks von außen.“

Die syrische Jugend träumt weder von großen politischen Veränderungen noch von prächtigen Festen. Sie träumt nur einen wehmütigen Traum vom Dialog mit allen, die zuhören wollen. Sie will nur, dass man den Tango noch einmal spielt, damit sie dazu tanzen kann, mit oder ohne Kopftuch.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz Samir Aita gibt die arabische Ausgabe von Le Monde diplomatique heraus (www.mondiplo ar.com), die in zehn Ländern erscheint, unter anderem als Beilage der palästinensischen Tageszeitung al-Ayyam (Ramallah). Siehe dazu auch das Charity-Projekt von Le Monde diplomatique, Berlin, unter monde-diplomatique.de/pm/.hoercd. © Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 09.05.2008, von Samir Aita