13.06.2008

Rausch der Kulturen

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Rausch der Kulturen

von Mathias Greffrath

Die Ruinen von Quilmes stehen in allen Reiseführern Argentiniens, aber das Museum neben dem rekonstruierten Pueblo existiert nicht mehr, der Staat hat es mitsamt dem kleinen Hotel privatisiert, jetzt rottet der Bau vor sich hin. Auf der Anfahrtsstraße ein paar Stände mit den üblichen Webarbeiten, an der Parkplatzmauer bieten Führer ihre Dienste an, Entgelt nach Gutdünken.

Der Stamm der Quilmes, so erzählt es uns Rodolfo, während er uns durch die rekonstruierten, in die Erde eingelassenen Großfamilienhäuser führt, wurde im 15. Jahrhundert von den Inkas unterworfen, kurz darauf kamen die Spanier, die wollten erst das Gold und dann die Arbeitskräfte für die Plantagen. 120 Jahre lang wehrte sich der Stamm, verwüstete die Städte der Kolonisatoren, dann machten die Eroberer kurzen Prozess: 6 000 Indios wurden abgeschlachtet, wer übrig blieb, wurde auf einen Todesmarsch in die Provinz Buenos Aires geschickt. In der Provinz Buenos Aires heißt eine Stadt nach den Quilmes – und das nationale Bier.

Unter Berufung auf die neue Verfassung des Landes, die zum ersten Mal überhaupt die Existenz der Indigenen anerkennt, klagt Rodolfos Dorf auf die Rückgabe von Gemeinland, bislang ohne Erfolg. Wie klagt man auch ein Recht auf Stammesländereien ein, wenn der Stamm nicht mehr existiert, die Ethnien sich über die Jahrhunderte vermischt haben und Emanzipation bis vor kurzem hieß, die Indio-Identität abzulegen und „Argentinier“ zu werden? Junge, ehrgeizige Anwälte aus der Hauptstadt veranstalten nun „Identitätskurse“, in denen besitzlose indianische Landarbeiter lernen, was es heißt, ein Indio zu sein. Das kann skurrile Formen annehmen wie in Amaichá, wo die Anhänger der rekonstruierten Ethnie gegen ihren Kaziken klagen, weil der nicht mehr der „indianischen Kosmologie“ anhänge, und korrupt sei er sowieso; anderswo rebellieren die Ortsansässigen gegen die Indio-Ideologen der NGO, weil die „aus einem anderen Tal“ kommen.

Die Kakteen zwischen den Ruinen von Quilmes standen schon dort, als der letzte Akt der Tragödie begann, aber von der Kultur der Indigenen im Nordwesten Argentiniens ist nichts übrig geblieben als ein paar Fruchtbarkeitsrituale, Gebete zur Pachamama in abgelegenen Tälern, ein paar Scherben und Pfeilspitzen in den örtlichen Museen und ein ungelenkes, zu groß geratenes Denkmal des Juan Calchaquí, der die Aufstände anführte vor fünf Jahrhunderten. Das Gold der Indio-Länder hat den Aufbruch Europas in die Neuzeit beschleunigt, die Kultschätze sind in den ethnologischen Museen der Metropolen gelandet, zumeist der europäischen. Beutekunst, deren Rückgabe heute nicht einmal populistische Führer mit indigenem Hintergrund reklamieren. Rodolfo liefert uns wieder am Eingang ab. „Deutsche, Europäer? Ihr sollt hier ordentlich Geld ausgeben“, rufen uns zwei dicke Damen einer einheimischen Reisegruppe zu und deuten auf die Verkaufstände; sie verkörpern die Gegenwart: Die alten Identitäten, die Ruinen zerstörter Kulturen – in der Gegenwart dienen sie allenfalls noch zur Legitimation von Landansprüchen, zum Mobilisieren von Kaufkraft.

Die Indiokultur in Argentinien ist ausgelöscht, und auch das ethnologische Museum in Salta wird sie nicht wiederbeleben. Seine Attraktion sind drei Kindermumien, die vor zehn Jahren auf dem Gipfel eines Sechstausenders ausgegraben wurden. Der Schirm vor ihnen weist Menschen mit Gefühl für Traditionen darauf hin, dass sie in ein offenes Grab schauen werden, wenn sie weitergehen. Ein kleiner anachronistischer Schauder rührt uns: Im Dahlemer Ethnologie-Museum zu Berlin stehen die Totenbündel zu Dutzenden herum, ein Kaufmann aus Hannover hat sie im 19. Jahrhundert eingesammelt.

Aber nun ist „die Zeit des Kolonialismus und des eurozentrischen Weltbilds vorüber“, und wir leben in der Weltgesellschaft, in der „alle Kulturen der Erde bedeutend und gleichwertig sind“. So schreibt es Professor Lehmann, jüngst noch Präsident des Preußischen Kulturbesitzes und jetzt des Goethe-Instituts, in einer begeisterten Ankündigung des neuen „Humboldt-Forums“. Die Sammlungen der „außereuropäischen Kulturen“ sollen in die neue Mitte der Hauptstadt geholt werden, ins rekonstruierte Schloss der Hohenzollern, auf dass, sekundiert der Bundespräsident, die „Zentralperspektive der westlichen Weltsicht gebrochen“ werde.

The winner takes all, mit wohlwollender Semantik, für die es nur noch die eine große pluralistische Menschheit gibt. Der Blick auf diese soll, so Professor Lehmann, nicht mehr durch ethnologische Fachegoismen zersplittert werden. In einem „Kulturpanorama“ oder auch „Ethnologischen Weltarchiv“ sollen die Besucher in einer „visuellen, akustischen und sinnlichen Erlebniswelt“ die ganze Vielfalt der „außereuropäischen Kulturen“ genießen. Nicht mehr so staubtrocken wie in den klassifikatorisch geordneten Vitrinen der alten Ethnologie, sondern „publikumswirksam“: „Restaurants und Bistros animieren zur kulinarischen Reise durch die Kontinente, Museums- und Buchshops, Boutiquen machen neugierig auf Literatur, Kunstgewerbe und Mode anderer Kontinente.“ Und im Eventbereich werden „Menschen aus Asien, Afrika und Lateinamerika … den interkulturellen Austausch beleben“, damit das „globale Netzwerk … Dynamik“ bekommt, „die Lebenswelten Außereuropas zum integralen und vitalisierenden Bestandteil der Kulturmetropole Berlins“ werden. Auf 37 000 Quadratmetern kommt es so zum Stelldichein „hochwertiger Sammlungen“ und „gastronomischer Oasen“ mit Angeboten wie „Teezeremonien …, Gamelan- oder Trommelkursen …“. Ach ja, auch die „Globalisierung“ soll thematisiert werden, und „Welttheater, Weltkino, Weltküche, Weltmoden“ von heute, die „chinesische Kunst- und Ausstellungsszene“ und all die anderen „Impulsgeber“.

Es mag ja anders aussehen in ein paar Jahren, aber von guten und friedensstiftenden Absichten getragen, droht hier die subtile und abschließende Art der Vereinnahmung all dessen, was der „Globalisierungsprozess“ der letzten fünf Jahrhunderte zerstört oder gleichgemacht hat und verquirlt zu einer wissenschaftlich gestützten pluralistischen Weltkultur. Paris hat es vorgemacht. Das alte Musée de l’Homme, in dessen Vitrinen in positivistischer Sammelwut, aber auch mit rationalistischer Didaktik und Distanz die Objekte untergegangener Kulturen präsentiert wurden, mit Schildchen an jedem Objekt und so altbacken, dass die „Traurigkeit der Tropen“ schwer in den Sälen hing – es ist zu einer Show der menschlichen Evolution geworden, mit ausgewählten Stücken, fein ausgeleuchtet und nach ästhetischen Gesichtspunkten sortiert. Es hat eure vielen Geschichten gegeben, ist die implizite Botschaft, aber nun gibt es nur noch eine, die der menschlichen Gattung.

Das Schlimme daran: Es stimmt ja. Ein Kreis hat sich geschlossen. Was mit dem Horten von Kuriositäten in den Schatzkammern der vorbürgerlichen Feudalabsolutisten begann, endet mit der niederdemokratisierten Erlebniskultur und dem ästhetischen Kick für Ferntouristen und Global Shoppers. Da war einmal ein wenig Blut und Zerstörung, aber nun sind wir alle Sieger, wir, die globalisierte Menschheit, und das Familiensilber gehört uns allen, denn wir sind alle „bedeutend und gleichwertig“. Das ist so großzügig wie das Prinzip Cap and Trade in der Klimapolitik: Drei Jahrhunderte haben wir uns bedient, aber ab 2050 wird jeder das gleiche Recht auf CO2-Konsum haben. Die Reste teilen wir gerecht.

Von Quilmes aus gesehen, oder von den elenden Baracken, in denen die Nachfahren der Indios zur Zuckerrohrernte hausen, fühlt sich das etwas anders an. Aber historisches Unrecht ist keine juristische Kategorie, auch dann nicht, wenn seine Folgen bis in die Gegenwart reichen. Tote Kulturen haben keine Rechtsansprüche. Von Feuerland bis an den Nordrand des alten Inkareiches liegen die Eigentumstitel in den Händern der Nachkommen von Eroberern oder der Multis von heute. Die Wiedergutmachungsforderungen der Afrikaner waren gerade mal dem Feuilleton ein paar Reflexionen wert, und allenfalls romantische Philosophen träumen von einer Renaissance des indianischen Denkens als Mittel gegen die Klimaveränderung.

In Quilmes aber, zwischen den Kakteen, den stummen Zeitgenossen der beginnenden Neuzeit, hatte ich ein paar merkwürdige Erscheinungen, ganz ohne psychedelische Indiopilze, nur mit ein wenig Wein aus dem Calchaquí-Tal: Mich ruft zu später Stunde der Kustos des Museums von Salta in Quilmes an, auf dem Handy. „Kommen Sie doch unbedingt morgen vorbei“, sagt er mit rauer Stimme, „es ist zwar montags geschlossen, aber wenn Sie den Sarkophag von Otto I. aus Quedlinburg sehen wollen, mit allen Grabbeigaben, dann schließe ich Ihnen auf. Vielleicht interessiert Sie auch der Bamberger Reiter oder die Knochen von Schiller – wir haben sie mit Röntgenstrahlen sichtbar machen können, ohne den Sarg zu öffnen. Die Schmucksärge aus Niedersachsen liegen allerdings im Depot, nichts Besonderes, nur für Fachleute interessant. Interessanter für Sie ist eher die Kaiserkrone Wilhelms I., ein vorzügliches Stück preußischer Goldschmiedekunst. Wissen Sie, wir sehen neuerdings ab von der ‚traditionellen Historisierung‘ der außeramerikanischen Kunst, unter der Woche können Sie unser globales Event- und Gastronomie-Angebot genießen, es gibt Wiener Schnitzel und Kurse in Walzer und Zitterspiel, ach ja, nicht zu vergessen die Wechselausstellung, in der das Eindringen der europäischen Formenwelt in die hiesige Malerei gezeigt wird.“

Den beiden, die in Quilmes mit mir am Tisch saßen, kam das etwas weit hergeholt vor, also entwickelten wir eine realistischere Vision. Unsere Kanzlerin könnte doch beim nächsten Gipfel Lateinamerika – Europa das Wort ergreifen: „Ich hätte da einen Vorschlag“, würde sie sagen: „Was in unseren nationalen Museen aus dem alten Inkareich stammt, werden wir zurückgeben, wir haben es 200 oder 300 Jahre bewundert, und im Übrigen reichlich Gold nach Europa geholt, das war ein Teil des Startkapitals der Moderne, das nun auch zu Ihnen zurückkommt. Und so sollen nun auch die Kult- und Kunstgegenstände dorthin heimkehren, wo sie hingehören. Drei unserer größten, auch hier tätigen Unternehmen haben sich bereit erklärt, in La Paz den alten Gouverneurspalast zu einem modernen Museum umzurüsten.

Aber da wir jetzt eine Weltgemeinschaft sind – man sieht es an den wachsenden Importen an Biotreibstoff und Futtersoja einerseits, dem steigenden Engagement unserer Investoren in Ihren Ländern andererseits –, schlagen wir vor, dass alle zehn Jahre eine repräsentative Auswahl Ihrer Kunstwerke und Kultgegenstände für ein Jahr nach Berlin kommt. Die Münchner Rück, eine Expertin in der Bewältigung der Nebenfolgen globaler Prozesse, hat sich verpflichtet, die Versicherung unentgeltlich zu übernehmen, und im Übrigen glaube ich, dass dieses neue, kontinentale Museum in La Paz ein Magnet für alle Lateinamerika-Reisenden aus Europa werden wird.“ Vielleicht waren doch Pilze im Wein.

© Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 13.06.2008, von Mathias Greffrath