Schlecht für uns
von Serge Halimi
Angestellte, selbst in höheren Gehaltsgruppen, sehen besorgt auf die Lebensmittelpreise; verarmte Arbeiter und Rentner durchsuchen den Abfall der Supermärkte nach Essbarem. Der Kaufkraftschwund beginnt den politischen Kredit der Regierenden aufzuzehren. In Frankreich, Italien und Großbritannien mussten die herrschenden Parteien gerade bei kommunalen Wahlen empfindliche Rückschläge hinnehmen.
Für die meisten Menschen in diesen Ländern ist das tägliche Leben deutlich härter geworden. In Italien und Spanien gibt man dem Euro die Schuld. Aber auch in Großbritannien hat sich der Warenkorb für den täglichen Bedarf binnen einem Jahr um 15 Prozent verteuert.
Aus dem Jahr 1953 datiert der berühmte Ausspruch: „Was gut ist für General Motors, ist gut für das ganze Land.“ 55 Jahre später schreibt Präsident Clintons ehemaliger Finanzminister Lawrence Summers in der Financial Times vom 5. Mai, der Widerstand der Arbeitnehmer gegen Freihandelsabkommen zeige, dass diese erkannt haben: „Was der Weltwirtschaft und den Wirtschaftschampions nutzt, ist für die Beschäftigten keineswegs automatisch gut.“ Die Umkehrung des alten Mottos begründet Summers mit dem Hinweis, „die Abkoppelung der Unternehmensinteressen vom Gesamtinteresse“ der einzelnen Gesellschaften sei ein globaler und „unvermeidlicher“ Trend.
Unvermeidlich schon, doch keineswegs unvorhersehbar. Im Gefolge eines regelrechten „Feldzugs“ gegen die Einkommen der Arbeitnehmer – im Namen der „Wettbewerbsfähigkeit“ und der Reduzierung von Arbeitskosten – haben auch politische Entscheidungen dazu beigetragen, die Massenkaufkraft einzufrieren oder zu schwächen. Der Wirtschaftswissenschaftler Alain Cotta verweist darauf, dass es in Frankreich gerade die Sozialisten waren, die 1982 mit der Aufgabe einer an den Preisindex gekoppelten Löhne „den Privatunternehmen das größte Geschenk machten, das diese je von der öffentlichen Hand erhalten haben“.
Wer sich weigert, den Rückgang des Anteils der Arbeitslöhne am Volkseinkommen als wesentliche Ursache für die aktuelle Gefährdung des Lebensstandards zu erkennen, hat flugs allerlei Ersatzrezepturen zur Hand: Noch mehr Supermärkte, um die Konkurrenz im Handel anzuheizen, wie es Nicolas Sarkozy fordert. Oder Aufrufe zu noch mehr Opfern, damit die Masse der Beschäftigten die höheren Lebensmittelpreise und Energiekosten schluckt, ohne höhere Einkommen zu fordern – als Beitrag zum geheiligten Ziel der Inflationsbekämpfung, das die Europäische Zentralbank geradezu obsessiv verfolgt. Womit sie vor allem die Kaufkraft derer bewahrt, die ein arbeitsloses Einkommen beziehen.
Was die übrigen Menschen angeht, so können sie ja immer noch versuchen, wie der Geizige bei Molière „mit wenig Geld gut zu essen“. Das rät jedenfalls Robert Rochefort, Direktor des französischen Forschungsinstituts zum Studium der Lebensbedingungen (Crédoc): „Der Konsument muss lernen, seine verfügbaren Mittel optimal einzusetzen.“ Er soll die Fähigkeit entwickeln, zwischen verschiedenen Ausgaben abzuwägen, oder auf Soziologisch: Er soll sich daran gewöhnen, „dass der Begriff Kaufkraft eine mehr qualitative Bedeutung entwickelt“. Für die geforderte „Kraft zur Kaufentscheidung“ hat Rochefort auch ein gutes Beispiel zur Hand: „Um Mietkosten zu sparen, kann man in eine billigere Wohnung umziehen.“
Das läuft auf die Formel hinaus: „Länger arbeiten und schlechter leben.“ Sie hat den Vorzug, eine dankenswert eindeutige Aussage zu sein.