Der Fremde als Lehrmeister
Von der Fibonacci-Folge und anderen Früchten der Migration von Ilija Trojanow
Es gibt verschiedene Formen von Migration, die selten erwähnt werden, wenn es um Migration geht. Die Auswanderung von Deutschen etwa, nach Australien, in die USA und seit kurzem verstärkt in die Schweiz (laut einer Umfrage vom März dieses Jahres könnten sich 43 Prozent der deutschen Berufstätigen grundsätzlich vorstellen, in der Schweiz zu leben); die verstärkte Rückkehr von Auswanderern in ihr ursprüngliches Herkunftsland oder die enorme Migration zwischen den Ländern des Südens.
Fast unerwähnt bleibt auch ein Aspekt von Migration, der die problembeladene Diskussion auf den Kopf stellen und die migrantenverachtende Einstellung von Behörden und Einheimischen konterkarieren könnte: die gewaltigen Erträge der Menschenwanderungen. Geschichtlich betracht haben Migranten keineswegs immer wieder das stabile Gefüge von Gemeinwesen bedroht, sondern deren wirtschaftliche und vor allem kulturelle Entwicklung befördert. Ohne dass Menschen in die Fremde ziehen, würden Ideen, Erfindungen, Ausdrucksformen und Rituale weniger Verbreitung finden. Ohne Migration wäre die Menschheit unvorstellbar ärmer, in jeder Hinsicht.
Um die Geschichte der wandernden Menschen und der sich wandelnden Identitäten vor dem Hintergrund Homogenität anstrebender Einheiten zu sehen, bedarf es eines flexiblen Blicks, der sich mit der jeweiligen Epoche treiben lässt, zu den jeweiligen Zusammenflüssen der Zeit. Wer den Verläufen kultureller Migration folgt, muss hinnehmen, dass Namen, die uns vertraut sind, einst etwas anderes bezeichneten.
Nehmen wir einige dieser Namen, nehmen wir einige dieser Orte. Zum Beispiel Heliodorus, Sohn des Dion und unzweifelhaft ein Hellene. Dass die Geschichte uns seinen Namen überliefert hat, obwohl er vor etwa 2 200 Jahren gelebt hat, hängt jedoch mit einer indischen Säule zusammen, sechs majestätische Meter hoch, gelegen nahe Besnagar im heutigen Bundesstaat Madhya Pradesh. Also mitten in Indien. Eine einfache Säule aus Sandstein, bar jeglicher Reliefs, auf deren Spitze ein majestätischer Adler hockt – Garuda, Symbol des Gottes Vishnu (damals Vasudeva genannt).
Die Heliodorus-Säule wäre nicht weiter bemerkenswert, handelte es sich nicht um die wohl erste in Stein gehauene Anbetung eines bis heute verehrten hinduistischen Gottes und würde die Inschrift am Sockel diese zu ihrer Zeit einmalige Säule nicht als Geschenk eines Bhagavata, also eines Verehrers dieses Gottes bezeichnen, und der trug den Namen Heliodorus, Sohn des Dion. Der Spender war also – im heutigen Sprachduktus – ein Ausländer.
Wie geht das an? Wie kann es sein, dass das älteste erhaltene Hindu-Monument von einem Griechen gestiftet wurde? Und müssten nicht die Anhänger von Hindutva, jener nationalistischen „Indien den Hindus“-Bewegung, die so eifrig dagegen protestieren, dass die Vorsitzende der Kongresspartei, Sonja Gandhi, eine Italienerin ist, angesichts dieser unbestrittenen Tatsache in ideologische Paralyse verfallen? Heliodorus hatte nicht einmal in eine indische Familie eingeheiratet, er war griechischer Botschafter am Hof von König Kasiputra Bhagabhadra, dessen Reich im heutigen Pakistan und Afghanistan lag. Der erste nachweisliche Verehrer von Vishnu war ergo ein Grieche – nach der üblichen Klassifizierung also Europäer.
Und Heliodorus war keineswegs ein Ausnahmefall, wie eine Vielzahl archäologischer Funde aus dieser Region beweist, so auch die Vasudeva gewidmeten Münzen, die der indogriechische Herrscher Agathokles prägen ließ. Auf ihnen sehen wir die ersten überlieferten Abbildungen dieser Gottheit. Denn Vasudeva, was so viel wie „der strahlende Gott“ bedeutet, war ein Neuankömmling im Götterhimmel, eine kurz davor entstandene Mischfigur aus Pan, Dionysos und Indra, ein sakrales Erzeugnis von starken Migrationsströmungen im vorder- und mittelasiatischen Raum.
Nehmen wir Barlaam und Josaphat, die beiden Helden einer im Mittelalter weit verbreiteten Romanze. Doch der Stoff dieser Geschichte stammt aus dem Osten, die Legende von Barlaam und Josaphat war eine christianisierte Version des Lebens Buddhas, aufgeschrieben in jenen Buddhacarita-Manuskripten, die in den ersten Jahrhunderten nach Christus in den Satteltaschen von Kaufleuten nach Edessa (ins heutige Urfa) kamen. Diese im Osten der heutigen Türkei gelegene Stadt war nicht nur Handels-, sondern auch Übersetzungszentrum, von hier ausgehend wurden die vielen mit Buddha in Verbindung gebrachten Wunder im Lauf der Zeit Jesus Christus zugeschrieben: der Gang übers Wasser, die Heilung Kranker, die Beruhigung des Sturms.
Auch die Geschichten über die früheren Leben Buddhas, die Jatakas, durchquerten die Kontinente, überwanden die Grenzen: Wenn wir in einer katholischen Kirche den Heiligen Hubertus sehen, der gebannt auf einen Hirsch mit Kruzifix im Geweih blickt, oder den heiligen Martin, der seinen warmen Soldatenmantel mit seinem Schwert mitten entzwei teilt und einem erbärmlich frierenden nackten Bettler schenkt, dann betrachten wir die christliche Interpretation von Themen, Figuren und Symbolen, die zuerst in der buddhistischen Literatur in Afghanistan, Kaschmir und Nordindien aufgetaucht sind.
Der vermutlich erste Übersetzer von Barlaam und Josaphat war kein Geringerer als Johannes von Damaskus, eine bedeutende Gestalt im umayyadischen Christentum und orthodoxer Kirchenvater. Die Geschichten wurden in der Folgezeit so beliebt, dass Josaphat (eine gut belegte Verballhornung von Bodhisattva) im 14. Jahrhundert kanonisiert und als Heiliger in der katholischen Kirche verehrt wurde, ebenso wie Barlaam. Angesichts kultureller Abgrenzung mag es ironisch erscheinen, dass ein Christ, der am 27. November, dem St.-Josaphat-Tag, seine betenden Stimme an diesen Heiligen richtet, gleichzeitig die Gnade Buddhas erbittet. Es ist aber auch ein sehr tröstlicher Gedanke.
Nehmen wir den Großmoguln Humayun, der Mitte des 16. Jahrhunderts bei seiner Rückkehr nach Indien aus dem iranischen Exil zwei Meister der Malerschule aus Herat, heute in Afghanistan gelegen, mitnahm: Mir Sayyid Ali und Abdus Samad. Diese beiden Künstler bauten in Zusammenarbeit mit indischen Malern das berühmte imperiale Atelier der Moguln auf. Im Laufe des folgenden Jahrhunderts, unter der Ägide der Kaiser Akbar, Jehangir und Shah Jehan, erblühte dieses Atelier, brachte Miniaturen hervor, die das alltägliche Leben am Hofe genauso detailliert und reichhaltig wiedergaben, wie sie den Geschichten aus Epen und Legendenzyklen eine Gestalt gaben. Die Maler am Hofe der Moguln übernahmen einiges aus der chinesischen Tradition (die verschnörkelten Wolken etwa), vor allem aber adaptierten sie die Gravuren und Kopien, die aus Nürnberg und Venedig zu ihnen gelangten – Altdorfers Flusslandschaften und Rafaels Madonnen erfuhren eine Wiedergeburt in Übersetzung.
Und als Shah Jehan ein traumartiges Mausoleum für seine verstorbene Frau in Agra, das Taj Mahal, erbauen ließ, beauftragte er italienische Spezialisten, die delikaten Pietra-dura-Verzierungen vorzunehmen: Der Prozess beinhaltete das Polieren der Achat-, Jaspis- und Malachitsteine, die danach in den Marmor eingelegt wurden, um Motive wie Vasen, Bäume oder Vögel darzustellen – die indopersischen Bilderwelten glitten durch die Hände italienischer Kunsthandwerker. Die Pietra-dura-Mode ist nicht in Vergessenheit geraten. Wenn die heutigen Touristen durch Agra flanieren, bieten ihnen unzählige Läden dekorative Haushaltsgegenstände in diesem Stil an, allesamt Erben eines italomogulischen Austauschs. Es müssen im 17. Jahrhundert viele geübte Handwerker aus Florenz in Venedig Schiffe bestiegen haben, die zum Hof der Großmoguln segelten. Die meisten blieben dort.
Nehmen wir den Kaufmann und Mathematiker Leonardo Fibonacci, einen arabisierten Pisaner, der Ende des 12. Jahrhunderts im Maghreb aufwuchs. Sein berühmt gewordenes Rechenbuch „Liber Abaci“ verhalf dem arabischen Zahlensystem zum Durchbruch, das bald das römische verdrängen sollte. Heute ist er vor allem für die Fibonacci-Folge bekannt – darin ergibt jede Zahl außer den beiden ersten die Summe ihrer beiden Vorgänger (also 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21, …), bis ins Unendliche. Die Folge kommt häufig in der Natur vor, etwa bei der Verzweigung von Bäumen, den Spiralen von Muscheln oder der Anordnung von Pinienzapfen. Fibonaccis Überlegungen dazu leiten sich über arabische Quellen der Sanskrit-Grammatiker ab, die sich mit quantitativer Prosodie beschäftigten und von Matra Meru sprachen, dem „großen Berg des Metrums“ (Béla Bartók verwendete das Konzept übrigens in seiner „Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta“).
Fibonacci dachte jedoch noch nicht an Muscheln, Pinienzapfen und Versmaße. Im „Liber Abaci“ trat er überzeugend für die Verwendung der hindu-arabischen Zahlen ein, erklärte deren Vorteile beim Rechnen. Außerdem führte er die heute gebräuchlichen Zeichen für Addition, Subtraktion und Multiplikation ein, die zuvor in Europa unbekannt gewesen waren.
Der Norden Europas entwickelte sich damals in rasantem Tempo. Die europäischen Kaufleute mussten, um mit ihren schlauen und erfahrenen Kollegen aus dem arabischen Raum, aus Persien, Indien und Äthiopien erfolgreich Handel treiben zu können, die modernen Kenntnisse in Mathematik und Bankenwesen übernehmen. Fibonacci ist ein Beispiel für kulturelle Wechselwirkungen aufgrund von pragmatischen Überlegungen: Sein Vorschlag, beim Rechnen die indisch-arabischen Zahlen zu verwenden, und die Bereitwilligkeit, mit der die Methode umgesetzt wurde, ähneln sehr der Art und Weise, wie die alten Griechen das phönizische Alphabet übernahmen. In beiden Fällen musste sich Europa den veränderten Bedingungen anpassen. Wenn Europa nicht schnell lernte und sich das Andere zum Vorbild nahm, mit ihm zusammenarbeitete, ja sogar sein Komplize wurde, konnte es nicht mehr mithalten, geschweige denn den anderen voraus sein.
Nehmen wir Hippokrates, dessen Marmorbüste wir alle kennen, ebenso die wenigen Sätze des nach ihm benannten Eids, der dieser Tage, da das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient vom Staat bedroht wird (Aufhebung der Schweigepflicht), wieder an Aktualität gewonnen hat. Ansonsten aber ist Hippokrates eher Ahnherr und Gründungsvater einer Heilkunde, die später von anderen, als Pin-up-Doctors weniger geeigneten Figuren, weitergetrieben wurde. Etwa von dem Arzt und Chirurg Avenzoar von Sevilla (mit arabischem Namen Ibn Zohar, gestorben 1162), dessen Hauptwerk schon Ende des 13. Jahrhunderts in einer traduction à deux von Johannes von Capua und Jakob dem Juden ins Lateinische übertragen wurde („Liber Teisir“). Andere Texte von Avenzoar übersetzte fast zeitgleich der Alchemist Arnaldus von Villanova: Er arbeitete zusammen mit Mitgliedern der Ibn-Tibbon-Dynastie von Ärzten, in Montpellier ansässigen Emigranten aus Granada.
Ein anderer medizinischer Vordenker stammte aus Cordoba: Abu al-Kasim al-Zahrawi (936–1013, seinen lateinischen Lesern unter dem Namen Albucasis bekannt), der hoch geschätzt wurde wegen seiner präzisen Beschreibung von chirurgischen Instrumenten und der mit seinem Meisterwerk „At-Tashreef“ (Die Methode), in dem er unter anderem als Erster die Bluterkrankheit beschrieb, die Medizin in Europa revolutionierte.
Diese Heillehrer haben nicht nur die Forschung, die diagnostischen Verfahren und das pharmazeutische Repertoire aus griechischen, indischen, persischen und chinesischen Quellen zusammengefasst, sondern auch unser Wissen über den menschlichen Körper erweitert. Mit dem Buchdruck fanden ihre Werke von Venedig aus weite Verbreitung in Europa, die alten Meister konnten unmittelbar zu ihren Nachfolgern sprechen. So konnten Vesalius, Harvey und andere die Lehre der Anatomie, die Theorie der Blutzirkulation und andere Neuerungen weiterentwickeln. Und doch wird die westliche Medizin gemeinhin mit einem eher obskuren antiken Arzt identifiziert, dessen Hauptbeitrag das Beharren auf Hygiene gewesen ist, gekoppelt mit der frommen Hoffnung auf die selbstheilenden Kräfte der Natur.
Nehmen wir Edessa und Gondeshapur. Während sich die griechische Philosophie mit Beobachtungen und Ableitungen befasste, mit Zweifel und Skepsis, Experimenten und Risiken, stand das christliche Dogma für das genaue Gegenteil. Die Realität musste der Offenbarung angepasst werden. Man rang nicht um die Wahrheit, man ersetzte sie durch ein Abziehbild. Die Instrumente der Antike waren überflüssig geworden, wenn nicht sogar gefährlich.
Diese Lektion mussten die Philosophen im Jahre 489 n. Chr. lernen, als der byzantinische Kaiser Zenon die damals führende Schule von Edessa schließen ließ. Diese Stätte des interkulturellen Austauschs – wo etwa der „Häretiker“ Bardesanes mithilfe babylonischer, persischer, platonischer und christlicher Elemente den freien Willen propagiert hatte, der Schicksal und Natur überwinden konnte – fiel dem brudermordenden Konflikt der christlichen Interpretationen zum Opfer.
Zenon war Trinitarier und glaubte an die Dreieinigkeit, die Gelehrten in Edessa waren Nestorianer: Sie hatten sich geweigert, ihren Glauben dem des Kaisers anzupassen und mussten dafür den Preis bezahlen. Die Gelehrten von Edessa nahmen so viele Manuskripte wie möglich mit – das restliche Wissen hatten sie auswendig gelernt – und flohen ins Sassanidenreich, wo sie sich schließlich an der Akademie von Gondeshapur niederließen (gegründet 271 n. Chr. in der heutigen iranischen Provinz Khuzistan im Südwesten des Landes).
In Gondeshapur gab es das erste bekannte Lehrkrankenhaus sowie angesehene Fakultäten für Medizin, Astronomie und Mathematik. Die Nestorianer lehrten und forschten dort viele Generationen lang – derweil ging das Reich der Sassaniden unter, und Bagdad stieg zum Eldorado der damaligen Welt auf. Sie beteiligten sich an einem Übersetzungs- und Fortschreibungsprojekt, dessen Wissen aus dem platonischen Athen und dem polyglotten Alexandria, verfeinert in Edessa und Gondeshapur, nach Bagdad gelangte und später den weiten Weg nach Córdoba, Palermo, Venedig und damit mitten ins christliche Europa und die Neuzeit zurücklegte.
Die Entwicklung von Wissenschaft, der Zusammenfluss von kulturellen Ausdrucksformen, das Verschmelzen von Glaubensinhalten sind offensichtlich von Mobilität abhängig, von der Mobilität von Menschen und – mit ihnen – Ideen, Gütern und Dienstleistungen, die auf den Autobahnen des Austauschs gehandelt und im Schatten von Unterführungen verschoben werden, ausgelegt in luxuriösen Vitrinen oder verstohlen angeboten auf den Basaren der Diebe, den randläufigen Treffpunkten der Hehler.
Das Andere muss gegenwärtig sein, um zugänglich zu sein, es muss zugänglich sein, um wirkungsvoll zu sein, es muss wirkungsvoll sein, um zu verändern. Der Einzelne in einer kreativen Gesellschaft muss von Unterschieden umgeben sein; er muss sie leben, essen, atmen können. Ohne Programm oder Absichtserklärung ersetzt in einem solchen Ambiente Neugierde und Offenheit jedes selbstgerechte Dogma von unaufhebbarer Differenz, ganz selbstverständlich wird Interesse geweckt an dem, was anders, was verblüffend, was ungewohnt konditioniert ist. Es ist typisch menschlich, schreibt der Philosoph und Kardinal Nikolaus von Kues Mitte des 15. Jahrhunderts, dass man eine alte Gewohnheit, die einem in Fleisch und Blut übergegangen ist, für die Wahrheit hält und sie entsprechend verteidigt. In einem offenen Raum, wo man einander sehen und erkennen kann, ergibt sich eher die Möglichkeit, solche Gewohnheiten zu hinterfragen. Und dazu braucht es den Fremden.
Die Kämpfe des Alltags, die Schlachten der Epoche, sie werden in der Kunst gespiegelt und sie wirken auf die Kunst ein. Das Zusammenfließen von Eigenem und Fremdem basiert keineswegs auf gegenseitigem Verständnis. Viele Errungenschaften entstanden aus Irrtümern und Missverständnissen. Auf einer Charta der kulturellen Grundrechte müsste das Recht auf Fehlinterpretation weit oben stehen. Die künstlerische Vorstellungskraft wird oft von fremden Formen angeregt, die aus dem Zusammenhang gerissen einen neuen Sinn erhalten.
Die westeuropäischen Maler und Bildhauer Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts entdeckten altägyptische Flachreliefs, Drucke aus Fernost und westafrikanische Statuen, sie waren begeistert von deren Ausdruckskraft, der Stilisierung von Körper und Raum. Doch selten kannten sie den spirituellen Zusammenhang dieser Kultobjekte. Sie nahmen den ästhetischen Gehalt auf und revolutionierten ihre eigene Kultur. Sie waren Schleuser und Schlepper: Gauguin und van Gogh schlichen durch Japan; Picasso, Braque und Kirchner tummelten sich in Westafrika und Ozeanien; Matisse, Klee und Macke trieben sich in Nordafrika und der Türkei herum; und Kandinsky, Mondrian und Malewitsch irrten durch die asiatische Spiritualität. Sie alle schmuggelten die Fremde so unauffällig offensichtlich ins Eigene hinein, dass die moderne europäische Kunst ohne diese Schmuggelware aus anderen Kulturen heute undenkbar wäre. So betrachtet ist die Sinnfigur europäischer Größe der Pirat.
Gewiss, dies sind nur disparate Beispiele, die man als Ausnahmen ignorieren könnte, wären sie nicht symptomatisch für eine fortwährende Interaktion zwischen Europa und dem Rest der Welt, vor allem Asien. Ideologiefrei betrachtet müsste sie zu der Schlussfolgerung führen, dass sowohl die Werte als auch die kulturellen Errungenschaften eines selbstbewussten Europa inspiriert und geprägt wurden von Einflüssen, die als „nichteuropäisch“ gelten. Es gab Zeiten, da war das Mittelmeer nicht die südliche Mauer Europas – zwar ohne Selbstschussanlage, aber trotzdem für viele tödlich –, sondern eine Brücke, ein Geflecht von Beziehungen und Neuschöpfungen. Die Grundlagen der europäischen Kultur wären ohne die durchlässige, wechselhafte und manchmal sogar symbiotische Qualität dieses vermeintlichen Randes nicht möglich gewesen.
Trotzdem versuchen wir uns einzubunkern, uns abzuschotten, bauen die Mauern immer höher, bis wir irgendwann einmal nur den Himmel, aber nicht mehr die Nachbarn sehen können. Doch wir können – und das beweist die Geschichte, wenn sie überhaupt etwas beweist – ohne fließende Formen, unstete Identitäten und unscharfe Definitionen nicht überleben. Auch wenn der öffentliche Diskurs nach einer kategorischen Klärung von Merkmalen der Zugehörigkeit verlangt, als ließe sich europäisch von nichteuropäisch per Rasterfahndung unterscheiden.
Wenn wir uns für eine humane Zukunft wappnen wollen, sollten wir Grenzen als Zusammenflüsse begreifen, die uns in der Vergangenheit befruchtet haben, als Spielwiesen von Mischkulturen, die für die Entwicklung unseres Kontinents von entscheidender Bedeutung waren. Denn je genauer man die Herkunft der heiligen europäischen Familie betrachtet, desto mehr Bastarde werden sichtbar.
Noch weigert sich die herrschende Meinung in Europa, die fremden Elemente in der eigenen DNA anzuerkennen und daraus Schlüsse für die Migrations- und Einwanderungspolitik zu ziehen. Von außergewöhnlicher Bedeutung wäre ein neuer Blick auf die Wechselverhältnisse zwischen Europa und Asien, zwischen Europa und Afrika, für die Zukunft Europas, für die Fähigkeit unserer Gesellschaften, sich neuen Realitäten anzupassen, die mit der weltumfassenden Überlegenheit Europas wenig zu tun haben werden.
Die imperiale Arroganz, die den Mythos eines essenzialistischen zivilisatorischen Genius Europas schuf, von Hellas über die Renaissance bis zur Aufklärung, ist in Zeiten zunehmender wirtschaftlicher und geopolitischer Parität nicht mehr durchzuhalten. Wer etwa, völlig ahistorisch, behauptet, der Islam habe in Europa nichts verloren, oder wer, völlig unsinnig, „Kinder statt Inder“ deklamiert, wer also die Keule eines unüberbrückbaren Antagonismus schwingt – Abendland gegen Morgenland, Europa gegen Asien, Aufklärung gegen Aberglaube, Demokratie gegen Despotismus –, der lebt in einem historischen Vakuum. Der hat das Geheimnis der Kulturbegegnung, die gewaltige positive und kreative Energie, die aus der Migration erwächst, nicht begriffen. Dass nämlich, ob wir wollen oder nicht, die Auseinandersetzung mit der Fremde, mit den Anderen vor allem nach innen, ins Eigene dringt.
Die Überzeugung, man könne und müsse das Eigene durch die Fremde anreichern, verändern, beflügelt diesen Prozess natürlich ebenso wie die Erkenntnis, dass der Unterschied zwischen dem Eigenen und der Fremde nur eine momentane Differenz ist, eine Flüchtigkeit in der Geschichte. Jeder Migrant gemahnt mit seiner Lebensgeschichte und seiner Anwesenheit an diese Flüchtigkeit.
Ilija Trojanow, 1965 in Sofia geboren, kam als Sechsjähriger mit seiner Familie nach Deutschland. Ein Jahr später gingen die Trojanows nach Kenia, wo er eine englische Schule besuchte. Später studierte er Ethnologie und Jura in München. 1999 zog er nach Bombay, vier Jahre später nach Kapstadt. Zurzeit lebt er in Wien. Zuletzt erschien von ihm „Der entfesselte Globus. Reportagen“, München (Hanser) 2008. © Le Monde diplomatique, Berlin