08.08.2008

Kunst für Hedgefonds

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Kunst für Hedgefonds

von Sighard Neckel

Die moderne Gesellschaft, so steht es in allen soziologischen Lehrbüchern, ist durch „funktionale Differenzierung“ charakterisiert, also durch den Vorgang, dass sich die Sozialwelt in verschiedene Felder und Sphären zerlegt, die nach einer je eigenen Logik operieren. So gilt etwa im demokratischen Staat für den Bereich der Machtausübung das Mehrheitsprinzip, während über wissenschaftliche Streitfragen im Volk nicht abgestimmt wird. Hier entscheiden vielmehr Experten aufgrund möglichst überzeugender Beweise.

Auch Wirtschaft und Kunst unterliegen entsprechend eigenen Regeln, die sich nicht vom einen in den anderen Bereich übertragen lassen. Die Wirtschaft der modernen Gesellschaft orientiert sich am Gelderwerb und lebt, von ihrer historischen Entwicklung her betrachtet, ganz vom Geist der Berechnung auf den eigenen Vorteil. Das künstlerische Feld hingegen, dem neben den Künstlern auch Sammler, Kritiker, Kuratoren, Mäzene, Akademien und Galeristen zugehören, hat sich mit der Entstehung der autonomen Kunst seit dem 18. Jahrhundert ethisch nicht zuletzt in Ablehnung oder in Umkehrung der Regeln des materiellen Profits gebildet. Künstlerische und finanzielle Wertsetzung fielen nicht ineinander, sondern wurden regelmäßig als Gegensätze begriffen. Was populär, also nachgefragt war, stand künstlerisch unter Verdacht, während finanzielle Erfolglosigkeit mitunter geradezu als Beweis ästhetischen Wertes und künstlerischer Einzigartigkeit galt.

Doch diese Sicht war womöglich schon immer eine Idealisierung. Schließlich bedurfte die autonome Kunst der Nachfrage auf Märkten, um sich aus dem Patronat von Thron und Altar befreien zu können. Neben den freiheitsverbürgenden Institutionen der modernen Demokratie trug insofern auch der Markt zur Autonomie der Kunst bei. Das künstlerische Feld blieb aber gegenüber dem Geschäftsleben abgrenzbar, solange das ästhetische Urteil sich von der Stärke einer wirtschaftlichen Nachfrage nicht bestimmen ließ.

Heute hingegen scheint eine Unterscheidung von Kunst und Ökonomie immer weniger möglich zu sein. Auf den gegenwärtigen Kunstmärkten sind ökonomische und künstlerische Logiken derart dicht miteinander verwoben, dass sie für die Beobachtung von außen schier ununterscheidbar geworden sind (siehe Beitrag von Philippe Pataud Célérier, S. 16 f.). Wenn auf Kunstauktionen immer neue Rekordsummen geboten werden, lassen sich ästhetischer Wert und finanzieller Ertrag von Kunstwerken kaum noch voneinander trennen, ja wächst dem Marktwert eines Kunstwerks immer mehr die Bedeutung zu, selbst als das am Ende maßgebliche Urteil über den künstlerischen Wert zu fungieren.

Operativ wird der monetäre Wert einzelner Kunstobjekte heute etwa durch den sogenannten Mei-Moses-Art-Index gemessen, der von New Yorker Wirtschaftsprofessoren entwickelt worden ist. Er soll die Renditen ermitteln, wenn Fondsmanager zeitgenössische Kunstwerke zur „Portfoliodiversifizierung“ verwenden. In den letzten Jahren entwickelte sich die Performance dieser Assetklasse moderner Künste so rasant, dass sie den Aktienindex der 500 größten börsennotierten US-Unternehmen deutlich übertrumpfte.

104 Millionen Dollar für einen Picasso, den die Besitzer einst für 30 000 Dollar gekauft hatten – das sind Gewinnspannen, von denen Aktienbesitzer nur träumen können. Da im selben Maße, wie der kommerzielle Hype um die Kunst die Fieberkurven der Art-Indizes nach oben trieb, die Kunstwelt die Suche nach eigenen Maßstäben für künstlerische Qualität teils fröhlich, teils resigniert einstellte, konnten finanzielle Erlöse nunmehr auch als Signalgeber ästhetischer Dividende angesehen werden. Die Auflösung des Kunstbegriffs ging Hand in Hand mit seiner Ökonomisierung.

Die Ununterscheidbarkeit von Kunst und Ökonomie beschränkt sich aber nicht auf das rein Monetäre; sie hat längst auch den Geist des heutigen Kapitalismus durchdrungen. Als künstlerische Maxime galt seit jeher die „Kreativität“, mit der die Fähigkeit bezeichnet wurde, das Neue ausdrücken und gestalten zu können. Nicht erst, seit die „Kreativindustrie“ pausenlos von der Wirtschaft beauftragt wird, technische, ästhetische und kulturelle „Innovationen“ zu liefern, darf der Künstler im Anbieterwettbewerb gegen den Webdesigner, die Art-Direktorin, den Marktforscher und die Medienmanagerin antreten und um die berüchtigten „kreativen Lösungen“ von Problemen ringen.

Das Künstlerethos scheint inzwischen gesellschaftlich so weit absorbiert, dass selbst der Künstler in prekärer Lebenslage mehr und mehr zur Leitfigur für den neuen Arbeitnehmer im flexiblen Kapitalismus wird. Ohne feste Beschäftigung und auf Aufträge angewiesen, materiell unsicher, aber dafür mit der Freiheit versehen, von einzelnen Organisationen und Dienstgebern unabhängig zu sein, firmiert der Künstler als Urbild aller Freelancer, Selbstunternehmer und Portfolio Workers.

Tatsächlich haben es ja zahlreiche der großen (und auch der kleineren) Lichtgestalten unter den Künstlern stets vermocht, aus sich selbst eine Marke zu machen, die Erkennbarkeit, Charisma und Erfolg zu befördern verspricht. Daraus beziehen jetzt zahlreiche Ratgeber ihre Inspiration, die sich der Frage widmen, wie man die eigene Ich-AG ästhetisch verfeinern kann. Dazu zählt auch die Empfehlung, am Vorbild der Avantgarde orientiert tunlichst das Unangepasste zu repräsentieren. Umgekehrt kursieren auch bei Absolventen von Kunstakademien Handbücher für das „Selbstmanagement im Kunstbetrieb“. Früher gehörte es wahrscheinlich zum Signum der Verlierer unter den Künstleraspiranten, sich flugs mit Karriereratgebern zu munitionieren. Heute ist das Selbstmarketing ein selbstverständlicher Teil der Kunstszene, zumal diverse künstlerische Konzepte dieser besonderen Kunst auch ästhetische Weihen verliehen.

Die Grenze einer Ökonomisierung der Kunst dürfte hingegen in den Regeln des künstlerischen Feldes selbst begründet sein. Jedenfalls wird sich die ökonomische Logik hier stets als Fortentwicklung künstlerischer Strömungen manifestieren müssen, wenn die Künstler auch in der Außenwahrnehmung nicht zu bloßen Wirtschaftssubjekten werden wollen.

Der vom britischen Künstler Damien Hirst jüngst für 75 Millionen Euro verkaufte Platinabguss eines echten Totenschädels mit dem Titel „For the Love of God“, den Hirst mit 8.601 Diamanten bestückt hatte (darunter einem 52-Karat-Diamanten auf der Stirn), stellt sich daher nicht als wirtschaftliches Anlageobjekt dar, sondern als künstlerische Aussage über die heutige Welt der Anlageobjekte, obgleich das Schädelkunstwerk natürlich auch eine ökonomische Anlage darstellt.

Gleichwohl würde allein nach der Logik, dass das teuerste Kunstwerk aller Zeiten auch das bedeutendste sei, noch nicht einmal der Kunstmarkt funktionieren, und schon gar nicht das künstlerische Feld, welches im Kern bedroht wäre, würde es an der eigenen Differenz zum wirtschaftlichen Geschäft nicht erkennbar festhalten wollen. Ohne künstlerische Ethiken kein künstlerisches Feld – was schließlich auch ökonomisch den Künstlern nicht zum Nachteil gereicht. Andy Warhol, Prototyp des Unternehmertums in der modernen Kunst, konnte immer dann seine stärksten künstlerischen Aussagen zum ökonomischen Universum machen, wenn er selbst als Business Artist auftrat. Daher zählen seine Brillo-Boxen, auf denen er US-amerikanische Markennamen zu Ikonen auf Pappschachteln verewigt hat, zu den bedeutendsten Kunstereignissen seit den 1960er-Jahren.

Die Kunstmärkte stehen solch künstlerischen Strategien so lange nicht entgegen, wie sie ihr Geld gleichsam zur ästhetischen Schatzbildung nutzen. So werden durch die ökonomischen Praktiken des Sammelns und Hortens, durch Kauf, Herzeigen und rezeptiven Genuss immer wieder auch ästhetische Wertschöpfungsketten erzeugt.

Ein kritischer Punkt für die Künste ist jedoch deshalb erreicht, weil sich die Märkte – auch die der Kunst – mittlerweile selbst tiefgreifend gewandelt haben. Sie sind zu spekulativen Finanzmärkten geworden, die auf virtuellem Kapital und volatilen Werten beruhen. Und so nimmt es nicht Wunder, dass es nunmehr Hedgefonds sind, die für Riesensummen Kunstwerke aufkaufen, deren ästhetische Werte in den Blasen eines finanziellen Steigerungswahns zerplatzen. Wie man hört, verwenden Künstler wie Gerhard Richter deshalb zurzeit viel Mühe darauf, ihre Kunstwerke vor dem Markt in Sicherheit zu bringen. Würde die Kunst nicht selbst für ihre Unterscheidung vom Ökonomischen sorgen, hätten am Ende die Märkte nichts Teures mehr zu verkaufen.

Sighard Neckel ist Professor für Allgemeine Soziologie an der Universität Wien und Mitglied der Leitung des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt am Main. © Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 08.08.2008, von Sighard Neckel