12.09.2008

Die Kinder der Erdbeerpflücker

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Die Kinder der Erdbeerpflücker

In Rumänien wächst eine Generation von Migrationswaisen heran von Keno Verseck

Topoloveni in Südrumänien, ein Ort, halb armes Dorf, halb realsozialistisches Neubauviertel, zehntausend Einwohner, offiziell. In Wirklichkeit sind es weniger. Denn viele Bewohner sind ins Ausland gegangen, um dort zu arbeiten. Auch viele, die Kinder haben.

Diana war zwei, als ihr Vater bei einem Unfall starb, sie war acht, da ging ihre Mutter als Obstpflückerin nach Spanien. Es sollte für einige Monate sein, doch es wurden Jahre. Diana blieb bei ihrer Oma. Die Mutter ruft oft an und schickt Geld. Manchmal kommt sie an Weihnachten nach Hause, manchmal für ein paar Tage im Sommer, wenn ihre Tochter Geburtstag hat. Sie bringt Spielsachen mit, Puppen, eine Prinzessinnenkrone.

Nachdem ihre Mutter fortgegangen war, wurde Diana schlechter in der Schule, sie verbrachte ihre Zeit immer öfter auf der Straße, in einer Clique mit älteren Mädchen und Jungen. Die Großmutter konnte sie nicht aufhalten. Wenn die Mutter anruft, antwortet sie auf Dianas Fragen, wann sie zurück kommt: „Bald.“

Diana war gerade elf geworden und kurz davor, in ein Milieu von Drogenabhängigen und Kinderprostituierten abzurutschen, da holte ihre Klassenlehrerin sie von der Straße und nahm sie mit in eine Tagesstätte für allein gelassene Kinder. Das war im Herbst vor einem Jahr. Die Mutter protestierte am Telefon aus Spanien. Man sei keine Problemfamilie, man habe keine Hilfe nötig. Die Lehrerin überzeugte sie schließlich.

Diana macht in der Tagesstätte ihre Hausaufgaben, malt und tanzt in einer Ballettgruppe, später möchte sie Schauspielerin werden. Sie steht da mit anderen Mädchen aus der Gruppe. Sie wirkt nicht wie eine Zwölfjährige, sondern drei, vier Jahre jünger, als sei die Zeit nach dem Weggang ihrer Mutter stehen geblieben. Nur ihr Gesicht ist viel zu ernst und viel zu traurig.

Kinder, die ohne ihre Eltern aufwachsen, weil diese im Ausland arbeiten – das ist überall im Land Alltag. Rumänische Journalisten erfanden dafür schon vor Jahren die griffige Formulierung: „Eurogeneration allein gelassen“. Rund 350 000 Kinder und Jugendliche gehören in Rumänien dazu. Das ist fast jedes zehnte Kind. Diese Zahl wurde im April von der rumänischen Unicef veröffentlicht, sie basiert auf einer repräsentativen Untersuchung des Meinungsforschungsinstitutes Gallup. Zu einem ähnlichen Ergebnis waren im Januar bereits Mitarbeiter der Open-Society-Stiftung von George Soros gekommen. Selbst die rumänische Kinderschutzbehörde ANPCD, die Anfang letzten Jahres noch von weniger als 20 000 verlassenen Kindern ausging, nennt inzwischen eine Zahl von etwa 100 000 und räumt ein, dass viele Eltern aus Angst oder Scham nicht melden, wenn sie ihre Kinder allein oder bei Verwandten lassen.

Die „Eurogeneration allein gelassen“ ist die Kehrseite des rumänischen Wirtschaftsaufschwungs der letzten Jahre, zu dem die Milliardentransfers der Arbeitsemigranten entscheidend beigetragen haben. Anfang 2002 schafften die meisten EU-Staaten die Visumpflicht für rumänische Staatsbürger ab. Danach setzte im Land ein regelrechter Exodus ein. Derzeit arbeiten mindestens 2 Millionen Rumänen im Ausland, vor allem in Italien und Spanien. 2 Millionen – das sind knapp 10 Prozent der rumänischen Gesamtbevölkerung, und es ist jeder Sechste aus der Bevölkerungsgruppe zwischen 18 und 60 Jahren. Manche Schätzungen gehen sogar von bis zu 3 Millionen Arbeitsemigranten aus. Sie schicken jährlich bis zu 10 Milliarden Euro in ihre Heimat, haben rumänische Ökonomen berechnet. Das ist eine gewaltige Summe für ein armes Land wie Rumänien – in manchen Jahren seit 2002 waren es mehr als 10 Prozent des Bruttosozialprodukts.

Doch diese Summe sei nichts gegen den Preis, den das Land für die Generation der allein gelassenen Kinder bezahlen wird, findet Liliana Turturoiu. Die 39-Jährige ist Dianas Klassenlehrerin, diejenige, die das Mädchen von der Straße geholt hat. An der Grund- und Mittelschule Nr. 1 in Topoloveni unterrichtet Liliana Turturoiu Rumänisch und Religion. Seit langem sieht sie in ihrer Schule jeden Tag die Kinder, die ohne ihre Eltern aufwachsen. Sie ist eine sehr gläubige Frau. Eines Tages entschloss sie sich, nicht mehr zuzusehen. Im Mai letzten Jahres gründete sie zusammen mit Kollegen und Bekannten die Tagesstätte, in die jetzt Diana geht.

„Kein wirklich guter Lehrer kann übersehen, wie sehr diese Kinder leiden“, sagt Liliana Turturoiu. „Die Abwesenheit der Eltern hat verheerende Auswirkungen, die allein gelassenen Kinder wachsen mit furchtbaren seelischen Verletzungen auf. Am schlimmsten ist es für sie während der Feiertage, wenn alle anderen sich freuen und glücklich sind. Dann sind sie sehr einsam, manche begehen Selbstmord.“

Mütter nur am Telefon

Liliana Turturoiu, selbst Mutter zweier Kinder, ist eine zurückhaltende Frau, sie gibt sich weder besonders betroffen noch empört, sie spricht mit sanfter, fast nüchterner Stimme, aber nachdrücklich. Es macht den Eindruck, als hätten die Kinder ihrer Schule jemanden, auf den sie im Notfall zählen könnten. Liliana Turturoiu würde sich nie als Ausnahme betrachten. Doch Menschen wie sie trifft man nicht allzu oft, nicht in Topoloveni und auch nicht anderswo in Rumänien.

Es ist ein Land, in dem die Eliten schon immer mit hemmungsloser Selbstbereicherung beschäftigt waren, ein Land, in dem in den letzten Jahrzehnten meistens ein brutaler Alltag herrschte. Unter Ceausescu waren Lebensmittel, Strom, Wasser und Heizung auf ein Minimum rationiert, Städte und Dörfer wurden geschleift, es herrschte Gebärzwang, und die Ressourcen des Landes flossen in ebenso sinnlose wie gigantomanische Industrie- und Bauprojekte.

Nach den Jahrzehnten der Diktatur hat Rumänien knapp zwanzig Jahre postkommunistischer Transformationswirren hinter sich. Wirren, in denen eine korrupte Oligarchie ehemaliger Parteimitglieder und Offiziere des Geheimdienstes Securitate einen Großteil des Staatsvermögens unter sich aufgeteilt hat. Wirren, die Millionen Menschen als Übergang vom Terror des kommunistischen Mangels zum Terror von Raubtierkapitalismus und falsch verstandener Demokratie erlebten.

„Ce sa-i facem, asta e!“ Was soll man machen, so ist es eben! Das ist die am meisten gebrauchte Redewendung in Rumänien. Die Leute sagen es, wenn sie erschöpft sind, sie sagen es, um ihr Mitgefühl zu bekunden, sie sagen es auch, wenn sie über die Lage der Dinge schimpfen und sich empören. Es ist eine Redewendung, die man nicht aus dem Mund von Liliana Turturoiu hört.

Um die Tagesstätte aufzubauen, sprach sie zusammen mit Kollegen beim Gemeinderat vor, schrieb an den Bischof der Diözese und stellte einen Förderantrag bei der Stiftung der liberalen englischen Europaparlamentarierin Emma Nicholson, die viele Kinderhilfsprojekte in Rumänien unterstützt. So kam eine Finanzierung für die ersten anderthalb Jahre zustande. Inzwischen ist das Geld fast verbraucht, Liliana Turturoiu muss ab Herbst neue Spenden und Unterstützer finden. Sie weiß noch nicht, wie es weitergehen wird, sie weiß bloß, dass es weitergehen muss.

Am Gebäude des Gemeinderats in Topoloveni hängt, wie eine Mahnung, ein großes Transparent, darauf steht: „Die Kinder kümmert es. Dich auch?“ Hier ist die Tagesstätte für die allein gelassenen Kinder untergebracht, die Räume in der ersten Etage hat der Gemeinderat dem Verein unentgeltlich überlassen. Täglich kommen 21 Kinder hierher, Erstklässler ebenso wie ältere Jugendliche. Die ehrenamtlichen Betreuerinnen, insgesamt 20 Frauen, die jeweils an verschiedenen Tagen kommen, unter ihnen auch eine Psychologin, helfen den Kindern beim Lernen, bei den Hausaufgaben und bieten sinnvolle Freizeitgestaltung an. Es gibt keine Computerspiele, Fernsehen nur sehr eingeschränkt, dafür Vorlesen, Malen und Basteln, Singen und Tanzen, Sport. Die Kantine des Gemeinderats wird von der Tagesstätte mitbenutzt, dort erhalten die Kinder zu festen Zeiten frisch zubereitetes Essen – zu Hause ist das für viele eine Ausnahme.

Im Flur der Tagesstätte hängen Kinderzeichnungen und Fotos. In einem Raum übt eine Betreuerin mit einer Gruppe Mädchen ein Geburtstagslied für Mütter ein. Auch Diana steht in der Gruppe, sie singt schüchtern mit. „An diesem Tag, liebe Mama“, heißt es in dem Lied, „da schenk ich dir mein Herz.“ Einige Mädchen singen voller Eifer, sie sehen aus, als könnten sie es kaum erwarten, ihren Müttern das Lied vorzutragen. Sie werden es wohl nur am Telefon singen. Keine der Mütter wird so bald nach Hause zurückkehren.

Fünf Uhr nachmittags, eine winzige Zweizimmerwohnung in einem verwahrlosten Wohnblock aus der Ceausescu-Zeit. Diana kommt nach Hause, ihre Großmutter begrüßt sie so freudig, als hätten sie sich ewig nicht gesehen. „Wie geht es dir, mein Kindchen, wie war es heute, hast du gegessen?“, fragt sie. „Alles gut, Omi“, sagt Diana und umarmt sie. Die 64-jährige Frau bewegt sich schwerfällig, sie ist herzkrank. Sie geht in die Küche, und kaum sitzt sie, bricht sie in Tränen aus. „Ich muss immerzu weinen“, sagt sie schluchzend. „Es ist sehr schwer für Diana, so ohne Vater und Mutter. Ich bin alt und kann mich nicht mehr richtig um sie kümmern. Gott sei Dank gibt es die Tagesstätte, dort hat sie Kinder, mit denen sie spielen kann, und Erwachsene, die ihr bei den Hausaufgaben helfen. Ihr geht es besser, seit sie da ist. Aber … ein Kind braucht doch seine Eltern!“

Sie war Textilarbeiterin in der nahe gelegenen Großstadt Pitesti und bekommt umgerechnet 80 Euro Rente im Monat. Um bei Diana zu sein, ist sie nach Topoloveni gezogen. Dianas Mutter Carmen war im Juli zum Geburtstag ihrer Tochter da, davor ein Jahr lang gar nicht. Sie hat keine Berufsausbildung. Bevor sie als Obstpflückerin nach Spanien ging, hatte sie in Topoloveni mal als Verkäuferin, mal als Aushilfe in einer Bäckerei gearbeitet. Sie verdiente umgerechnet 150 Euro im Monat, manchmal ein wenig mehr, in Spanien bekommt sie das Fünf- bis Sechsfache. Sie wird vorerst nicht zurückkehren, sagt Dianas Großmutter, denn es gibt im Ort keine Arbeit, von der sie drei Personen ernähren und die Zukunft ihrer Tochter sichern könnte.

Capsunarii heißen solche wie Dianas Mutter in Rumänien, „Erdbeerpflücker“, es ist ein Sammelbegriff für die Arbeitsemigranten. Ursprünglich wurden so die ersten paar zehntausend Rumänen genannt, die vor Jahren bei spanischen Erdbeerbauern als Tagelöhner anheuerten. Inzwischen arbeiten in Westeuropa in fast allen Billiglohnbereichen Rumänen – als Hilfsarbeiter auf dem Bau, in der Gastronomie, im Groß- und Einzelhandel, in der Pflege. Sie alle heißen mittlerweile Erdbeerpflücker, und der Begriff klingt im Rumänischen ziemlich salopp und abfällig.

So meinen ihn auch viele, die ihn gebrauchen. Es ist nicht schwer, auf die Erdbeerpflücker herabzuschauen. Sie reisen in klapprigen Bussen oder Autos älterer Baujahre, die bis zum Rand mit Gepäck vollgestopft sind, sie sind verschwitzt, tragen praktische Trainingsanzüge, sehen müde und abgearbeitet aus. Auf den Weg ins Ausland machen sich fast nur die schlecht Ausgebildeten. Diejenigen, die schon unter Ceausescu zur millionenstarken Manövriermasse von Hilfsarbeitern in der Industrie und im Bergbau zählten. Oder die, die im postkommunistischen Chaos und Überlebenskampf einfach den Anschluss verloren haben, den Anschluss an Bildung, an Gesundheitsversorgung, an Ressourcen überhaupt.

Und doch verändern sie Rumänien. Wie sehr, ist besonders im Osten des Landes zu sehen, in der Moldau, der Region, aus der die meisten Arbeitsemigranten stammen. Da ist zum Beispiel Corod, ein Dorf in der sanft hügeligen Region um die Kleinstadt Tecuci in der südlichen Moldau, bekannt für die riesigen Gemüseäcker, auf denen Tomaten, Paprika, Gurken und Auberginen wachsen. Corod ist ein Dorf, in dem nur noch die Alten kleine Gemüsegärten bewirtschaften, ein Dorf, in dem es zweimal wöchentlich eine direkte Busverbindung nach Padua in Italien gibt und in dem jetzt, im Sommer, mehr Autos mit italienischen als mit rumänischen Nummernschildern fahren.

Es fing schon 1990 an, im Jahr nach dem Sturz Ceausescus. Einige Coroder gingen nach Italien, um dort illegal zu arbeiten. Ihr Erfolg sprach sich schnell herum. Gut zehn Jahre später war es bereits das halbe Dorf, das nach „Italien machte“. Inzwischen gibt es kaum einen Coroder im arbeitsfähigen Alter, der nicht schon einmal in Italien gearbeitet hat. Ungefähr die Hälfte der einst 10 000 Einwohner lebt ständig dort.

Corod ist jetzt ein Dorf, in dem zwischen den kleinen, alten Bauernhütten Dutzende seltsam großer halbfertiger Häuser stehen, die aussehen, als seien sie aus einer anderen Welt direkt hierher versetzt worden. Es sind die Häuser der Leute, die in Italien arbeiten, die stranierii, wie sie im Dorf nach dem italienischen Wort für Ausländer genannt werden. Sie kommen meistens ein-, zweimal im Jahr für einige Wochen von der Arbeit in Italien zum Arbeitsurlaub in die Heimat. Sie bauen an ihren Häusern weiter, dann fahren sie wieder weg.

An der Hauptstraße Nr. 52 errichtet die Familie Coada ihr Haus. Arbeiter wuchten ächzend Gerüste in den Rohbau, die Motorsäge springt nicht an. „Das ist Rumänien“, ruft Aurelian Coada halb im Scherz, halb entnervt, während er versucht, das Gerät in Gang zu bringen. „Wir arbeiten schwer, und nichts kommt dabei raus!“

Der drahtige 34-Jährige wohnt im norditalienischen Crespano del Grappa und arbeitet dort als selbstständiger Handwerker. Er ist alles in einem, Maurer und Bauschlosser, Zimmermann und Fliesenleger, Maler und Tapezierer, und nichts von alldem hat er jemals in einer richtigen Ausbildung gelernt. Nach der Schulzeit schlug er sich in Corod und in der Umgegend mit schlecht bezahlten Gelegenheitsarbeiten durch, dann ging er 1994 nach Italien und schuftete schwarz auf dem Bau. 1996 holte er seine Frau Mirela nach. Die Eheleute lebten illegal in Italien, vier Jahre lang wagten sie nicht auszureisen, erst dann bekamen sie eine Aufenthaltsgenehmigung und besuchten zum ersten Mal wieder ihr Heimatdorf.

Die Coadas haben einen Sohn, Fernando, er ist sechs und dort drüben, in Italien, geboren. Anders als viele im Dorf wollten Aurelian und Mirela ihr Kind um keinen Preis bei den Großeltern in Rumänien aufwachsen lassen. Zweimal im Jahr, im Sommer und vor Weihnachten, kommen sie nun nach Hause, Aurelian Coada baut dann am großen Familienhaus weiter. Wann es fertig wird, wann die Familie zurückkommt? Aurelian Coada zuckt die Achseln. Die beiden sind hin und her gerissen zwischen Heimweh und Enttäuschung. „Die Straßen sind ein Desaster, und überall liegt Müll herum“, sagt Aurelian Coada kopfschüttelnd. „Wenn Rumänien etwas zivilisierter ist und die Löhne hier auch so sind wie in Italien, dann kommen wir vielleicht zurück.“

Fernando spricht ein Rumänisch, in das er italienische Wörter mischt. Er will in Italien bleiben und dort Arzt werden, sagt er. „So Gott will“, fügt sein Vater lächelnd hinzu. Fernandos Großmutter, die 54-jährige Virginica Ciocoi, schaut ihren Enkel an. „Das Dorf ist leer, die Alten sind geblieben, die Jugend ist gegangen“, sagt sie. „Ich habe gehofft, dass die Familie zusammenbleibt, aber es geht nicht. Ich warte auf die Rückkehr der Kinder, und darüber werde ich alt. Ich würde meinen Enkel so gern zur Schule begleiten, aber es geht nicht. So ist das eben.“

Safta Jalba hat ihren Enkel oft zur Schule gebracht. Sie hat mit ihm Hausaufgaben gemacht, so gut sie konnte, hat für ihn gekocht und ihn getröstet, wenn er geweint und gefragt hat, wann seine Eltern nach Hause kommen. „Es war schwer“, sagt sie mit einem verlegenen Lächeln. Mehr kann oder möchte sie nicht erzählen. Sie nimmt eine Schüssel mit Mais, geht zu den Hühnern und streut ihn auf den Boden.

Silvia Jalba will nicht weinen, aber sie kann nichts machen, sie hört das Wort „Italien“, und ihre Tränen fließen einfach, es ist wie ein Reflex, noch immer, obwohl es jetzt schon eine ganze Weile her ist, dass sie zum letzten Mal dort war. Fünf Jahre hat sie in Brescia in der Nähe des Gardasees gearbeitet, erst in einer Sockenfabrik, dann als Mädchen für alles in Supermärkten. Fast täglich machte jemand Bemerkungen über Ausländer, nörgelte an ihrer Arbeit herum, einmal wurde sie des Diebstahls beschuldigt. Sie dachte fortwährend an ihren Sohn Marius, den sie im Dorf zurückgelassen hatte. „Ich würde nicht mal mehr in den Urlaub dorthin fahren“, sagt sie.

Das kalte Land Italien

Vor zwölf Jahren, sie war frisch verheiratet und ihr Sohn gerade vier Monate alt, ging ihr Mann Mitica nach Italien, um auf dem Bau zu arbeiten. „In dem Sommer ist nichts richtig gewachsen im Gemüsegarten“, erzählt sie. „Mein Mann musste nach Italien. Unser Haus war sehr alt, und wir hatten überhaupt keine Perspektive hier im Land.“ Anderthalb Jahre lang sah sie ihren Mann überhaupt nicht. Als er endlich kam, sagte sein Sohn zu ihm Onkel. Silvia Jalba kümmerte sich um Marius, bis er fünf war, dann folgte sie ihrem Mann nach Italien. Marius blieb bei der Großmutter. „Er war sehr verständig und brav“, sagt Silvia Jalba. „Aber wir haben uns gequält, wir dachten, das Getrenntsein macht uns alle todkrank.“

Vor zwei Jahren sind die Jalbas nach Rumänien zurückgekehrt, anders als viele Freunde und Verwandte aus dem Dorf endgültig, denn Silvia hat es nicht mehr ausgehalten, nicht Italien, nicht die Trennung von ihrem Sohn. Die Familie lebt in einem großen, komfortablen, zweistöckigen Haus mit sechs Zimmern und zwei Bädern. Zwischen den Bauernhütten der Nachbarn sieht es aus wie eine Luxuspension. Das meiste hat Mitica Jalba allein gebaut. Wenn es nach ihm gegangen wäre, wäre er noch ein paar Jahre in Italien geblieben, aber seiner Frau zuliebe ist er zurückgekehrt. Seitdem arbeitet er als selbstständiger Handwerker in der Gegend, zusammen mit zwei Freunden. Sie bauen Häuser, schlüsselfertig. Die Familie kann davon leben, der Verdienst ist nicht so gut wie in Italien, aber sie kommt zurecht.

Marius ist ein schüchterner, stiller Junge, er sieht wirklich brav und verständig aus. Er möchte nicht darüber sprechen, wie es war, jahrelang ohne Mutter und Vater zu leben. Er will Anwalt werden, sagt er, Anwälte machen Gerechtigkeit und verdienen viel Geld. „Ich hoffe“, sagt Silvia Jalba, „dass Marius eines Tages verstehen wird, dass wir Italien auch für ihn und seine Zukunft gemacht haben.“

„Die stranierii bringen der Gemeinde viele Vorteile“, sagt Vasile Carjeu, der Bürgermeister von Corod. In der breiten moldauischen Mundart des 52-Jährigen kommen viele Diminutive vor. „Die Leute kehren mit hübschen Sümmchen zurück, bauen sich Häuschen und machen kleine Firmen auf.“

Der Bürgermeister spricht aus Erfahrung. Bevor er in die Politik einstieg, hat er selbst in Italien gearbeitet, „schwarz“, wie er freimütig berichtet. Das war 1991/92. Knapp ein Jahr schuftete er in Mailand auf dem Bau, zusammen mit zwölf anderen Leuten aus dem Dorf. Der italienische Vorarbeiter schimpfte mit dem rumänischen Trupp wegen „unsachgemäßer Toilettenbenutzung“, erzählt Carjeu. Einige der Coroder kannten nur Klos mit einem Loch, über das man sich hockt – eigentlich eine recht hygienische Angelegenheit. Statt sich auf die Toilettenbrillen zu setzen, waren sie einfach auf die Becken geklettert. „Der Vorarbeiter hat uns behandelt, als ob wir aus der Wildnis kämen“, sagt Carjeu pikiert.

Unter Ceausescu war Carjeu Leiter der örtlichen Consumcoop, eines realsozialistischen Supermarkts, in dem der Mangel organisiert und viel unterm Tisch gehandelt wurde. Nach dem Sturz Ceausescus eröffnete der Bürgermeister von dem in Italien ersparten Geld einen kleinen Supermarkt und ein Café.

Und die allein gelassenen Kinder? „Jaaa“, sagt Vasile Carjeu gedehnt und wiegt den Kopf. „Das ist ein Nachteil, aber wissen Sie, immer mehr Eltern sehen das und nehmen ihre Kinder mit nach Italien.“ Der Bürgermeister scheint zu finden, dass es im Leben nun einmal Härten gebe und sich alles schon wieder einrenken werde.

„Manche Großeltern schaffen es nicht, auf ihre Enkel aufzupassen. Sie sind zu alt und überfordert“, sagt die Direktorin der Schule, Maria Vasu, die in Corod seit drei Jahrzehnten Chemie und Physik unterrichtet. „Die Kinder der Arbeitsemigranten sind meistens Problemkinder. Sie bleiben sitzen oder sie schwänzen. Wir haben ein spezielles Programm für sie, den Wochenendklub, wo sie lernen, ihre Freizeit sinnvoll zu gestalten.“ Maria Vasu seufzt. Sie klingt nicht wirklich überzeugt, vielmehr so, als sei ihr Wochenendklub eine hilflose Geste. Tatsächlich hätte Maria Vasu allen Grund zu klagen.

Fast überall in Rumänien stehen diejenigen, die mit den allein gelassenen Kindern der Arbeitsemigranten zu tun haben, allein da. Denn staatlicherseits gibt es für diese Kinder kaum Sozial- und Betreuungsmaßnahmen in adäquater oder auch nur nennenswerter Größenordnung. Fast alle Politiker ignorieren das Thema, Kinder- und Jugendämter haben zu wenig Sozialarbeiter und sind überfordert, und innerhalb der an Agenturen und Komissionen sonst so reichen Verwaltung beschäftigt sich keine Abteilung mit dem Problem.

Um nicht den Eindruck völliger Tatenlosigkeit zu erwecken, erließ die Regierung Ende 2006 die Vorschrift, dass Arbeitsemigranten, die Kinder haben, verpflichtet sind, ihre Abwesenheit beim örtlichen Jugendamt oder Bürgermeisteramt zu melden. Dabei müssen sie angeben, wo ihre minderjährigen Kinder während ihrer Abwesenheit untergebracht sind. Doch die meisten Eltern halten die Meldepflicht nicht ein. Sanktionen haben sie deshalb nicht zu befürchten. Ob die Meldepflicht eingehalten wird, kontrollieren Behörden nicht.

Ebenfalls Ende 2006 wurde eine dem Ministerpräsidenten unterstellte Agentur gegründet, die dafür sorgen soll, die „Erdbeerpflücker“ aus dem Ausland zurückzuholen. Doch dabei hatte die Regierung keineswegs das Wohl der allein gelassenen Kinder im Sinn. Vielmehr leidet Rumänien unter einem drastischen Arbeitskräftemangel. In den Ballungszentren des Landes, etwa in der Hauptstadt Bukarest oder im nordwestrumänischen Temeswar, herrscht Vollbeschäftigung. So gut wie alle Unternehmen klagen, dass sie keine Arbeitskräfte finden, weder qualifizierte noch unqualifizierte. Viele große öffentliche Infrastrukturprojekte, darunter auch zahlreiche, die mit EU-Mitteln gefördert werden, können nicht fristgerecht realisiert werden.

Zwar ist das Lohnniveau in Rumänien inzwischen deutlich gestiegen. Lag der Durchschnittslohn vor einigen Jahren noch bei umgerechnet 150 bis 200 Euro, können selbst Ungelernte inzwischen leicht das Doppelte oder Dreifache verdienen. Das rumänische Arbeitsministerium veranstaltet seit einiger Zeit regelmäßig sogenannte Jobbörsen im Ausland, vor allem in Italien und Spanien. Dennoch zeigen die rumänischen Emigranten bisher keine Neigung zurückzukehren. Sie wollen, das haben Meinungsumfragen ergeben, nicht nur höhere Löhne, sie warten auch auf mehr Rechtssicherheit und weniger Korruption, auf eine bessere Infrastruktur und auf bessere öffentliche Dienstleistungen. Doch bis diese Bedingungen in Rumänien erfüllt sind, könnten noch viele Jahre vergehen.

Rückkehr, endgültig. Nie wieder Trennung, nie wieder Italien. Maria Nicolescu hat ihren Eltern geglaubt. Die 14-Jährige hat große, sehr ernste Augen und eine schöne Altstimme, sie wirkt unglaublich erwachsen. Sie ist die Zweitälteste von drei Schwestern und wohnt in Topoloveni in einem halbfertigen Haus. Marias Eltern haben mehrmals in Italien gearbeitet, zuletzt von Januar bis September 2007. Sie wollten Geld verdienen, um ihr Haus zu Ende zu bauen. Ion Nicolescu war in Trani im süditalienischen Apulien Pförtner und Wächter in einer Fabrik, seine Frau Elena Haushälterin in der Villa der Fabrikbesitzer. Sie kümmerte sich auch um die beiden Kinder der Fabrikbesitzer, kochte ihnen jeden Tag Essen und fragte sich dabei, ob ihre eigenen Kinder genug zu essen hätten. Ihren Mann sah sie nur manchmal am Wochenende. Sie schlief selten gut, meistens wachte sie auf und weinte.

Sie hatte ihren 76-jährigen Schwiegervater und dessen 83-jährige Schwester gebeten, sich um die drei Töchter zu kümmern. Doch eigentlich waren die Mädchen auf sich gestellt, und Maria hatte die Rolle des Familienoberhauptes inne, sie wollte ihren Eltern, vor allem ihrer Mutter beweisen, dass sie eine gute, eine starke Tochter sei. Vor und nach der Schule führte sie den Haushalt und kümmerte sich um ihre fünfjährige Schwester Ioana. Als im Mai letzten Jahres die Tagesstätte gegründet wurde, ging sie zusammen mit Ioana dorthin, manchmal spielte sie selbst, manchmal half sie, andere Kinder zu betreuen.

Ihre Eltern hätten noch länger in Italien bleiben müssen, um Geld für den Hausbau zu sparen, aber sie kamen letzten September zurück, sie hatten es nicht mehr ausgehalten. Nicht die Trennung von ihren Kindern, nicht, dass sie von ihren italienischen Dienstherren wie minderwertige Menschen behandelt wurden. Elena Nicolescu versprach, zu Hause zu bleiben. Sie fing als Fließbandarbeiterin in einer Konservenfabrik an, für 180 Euro im Monat. Ihr Mann fand keine Arbeit.

Im Juni fuhr Elena Nicolescu nach Spanien, um Obst zu pflücken. Für Maria brach eine Welt zusammen. Sie ist seitdem sehr still geworden. Liliana Turturoiu schlug ihr vor, zu einer Psychologin zu gehen, Maria hat abgelehnt. Man kann nur ahnen, was in ihr vorgeht. „Ich hatte mich sehr gefreut, dass meine Mutter nicht mehr wegfährt, meine Schwester und ich, wir haben sie sehr vermisst“, sagt sie monoton, fast gleichgültig. „Ich habe gedacht, ich könnte sie überzeugen, dass sie nicht mehr weggeht. Ich habe mich geirrt.“

Keno Verseck ist Journalist. Er lebte lange Zeit in Budapest, danach in Bukarest und berichtet aus Osteuropa. © Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 12.09.2008, von Keno Verseck