17.01.2003

Hier ist niemand!

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Hier ist niemand!

Von SANTOS JULIÁ *

MANUEL AZAÑA, der letzte Präsident der spanischen Republik, erzählt in seinem Buch „La Velada en Benicarló“ (1939, Der Abend in Benicarló) von einem grausigen Erlebnis, mit dem sich für ihn der Beginn des Bürgerkriegs verbindet: „Eines Nachts Ende August – ich stand am offenen Fenster, um frische Luft zu schnappen – knallten vom Friedhof her drei Schüsse. Dann war es still … Plötzlich war ein schwaches Stöhnen zu hören. Ich spitzte die Ohren. Das Stöhnen kam wieder, lauter, und steigerte sich zu einem herzzerreißenden Geheul … Der Sterbende, den Tod vor Augen, brüllte vor Entsetzen … Der Schrei ging mir durch und durch. Ich holte zwei oder drei Angestellte des Krankenhauses ans Fenster. (Wir müssen ihn suchen gehen; vielleicht können wir ihn retten!) Sie weigerten sich; ich blieb hartnäckig; sie wollten mich nicht gehen lassen. Da mischt man sich besser nicht ein! Da alarmiert man höchstens die Behörden. Das geschah auch. Die Zeit verrann. Peng, peng! Wieder zwei Schüsse aus der Friedhofsrichtung. Das Stöhnen verstummte.“

Dieses Ereignis, die Gnadenschüsse für einen mit dem Tode ringenden Exekutierten, spiegelt die ganze Grausamkeit des Spanischen Bürgerkriegs, die Ohnmacht der einen, die Feigheit der anderen und die Mitleidlosigkeit aller Übrigen. In dieser Hinsicht gab der Bürgerkrieg mit seiner Brutalität einen Vorgeschmack auf den nahenden Zweiten Weltkrieg. Republikaner wie Franquisten wussten, dass sie einen Kampf ums Überleben führten, der nur mit der totalen Vernichtung des Gegners enden konnte, ohne Hoffnung auf Verhandlungen oder Frieden. Unter diesen Umständen war die Unterscheidung zwischen Soldaten und Zivilisten, aktiven Kriegsteilnehmern und Unbeteiligten pure Illusion. Misshandlungen, Folter, Vergewaltigungen, Ermordungen, Hinrichtungen, Fangschüsse, die Politik der verbrannten Erde, Massenmorde waren an der Tagesordnung: Hunderttausende von Zivilisten – weit mehr als Soldaten auf den Schlachtfeldern – kamen während dieses Krieges in Spanien ums Leben.

Von Anfang an entwickelte sich der Konflikt zu einem regelrechten Vernichtungskrieg. Die Kriegsreden aus den Lagern der aufständischen Militärs und der sozialen Revolutionäre stigmatisierten den Gegner als „fremden (faschistischen oder bolschewistischen) Eindringling“, der massakriert, vernichtet werden musste. Eine vermittelnde Perspektive oder ein Verhandlungsfrieden standen – trotz einiger Anläufe seitens der Republik – nie zur Debatte. Als Großbritannien sich auf Anregung von Azaña um Vermittlung bemühte und den Vatikan um Unterstützung bat, ließ ein spanischer Kardinal wissen, niemand habe den Charakter dieses Krieges richtig begriffen, es handle sich um einen Konflikt, der nur mit dem totalen Sieg einer der beiden Seiten enden könne.

Dazu kam es dann tatsächlich, mit den bekannten Konsequenzen: die Leichen entlang den Straßen, die Erschossenen am Rand der Friedhöfe, die Ermordeten in den Massengräbern überstiegen die Zahl der an der Front Gefallenen bei weitem. Es war ein erbarmungsloser Krieg, in dem nicht nur der Soldat im Schützengraben gegenüber als Feind galt, sondern auch der Zivilist, der für die andere Seite gestimmt, in einem Wahlbüro als Delegierter einer Partei oder Gewerkschaft gewirkt, an einem Streik teilgenommen oder nicht genehme Ansichten vertreten hatte. Im Spanien der Jahre 1936 bis 1939 kam es für einen Zivilisten einem Todesurteil gleich, dem gegnerischen Lager anzugehören.

Während des Bürgerkriegs und in der langen Nacht, die sich anschließend über die Besiegten senkte, fand diese barbarische Brutalität Nahrung in dem Mythos eines „wahren Spanien“ (das des Militärs und der katholischen Kirche), das mit einem „Anti-Spanien“ (dem der „Roten“) rang. Dieser Mythos zweier ewiger, tödlich verfeindeter Prinzipien bot zu keinem Zeitpunkt die Möglichkeit, den Argumenten der Gegenseite Gehör zu schenken, förderte im Gegenteil eine Politik der Verdächtigung, Verfolgung und Ermordung. Die Repression kannte keine Atempause. Mit der Zeit dann veränderte sich im kollektiven Bewusstsein das Bild des Bürgerkriegs als „Krieg gegen einen äußeren Feind“ in das eines „Bruderkriegs“.

Dieses neue Erinnerungsbild, das in den Sechziger- und Siebzigerjahren als moralische Grundlage für den Pakt zwischen den politischen Kräften der Opposition, des Exils und diverser Dissidentengruppen innerhalb des Franquismus diente, eröffnete den Blick auf eine neue Sicht der Geschichte, die größeren Wert auf die Prinzipien von Vergebung und Versöhnung legte als auf die von Vergeltung, Unterdrückung und Vernichtung. Die Erinnerung an den Krieg als Bruderkrieg ermöglichte eine Politik der Aussöhnung und Amnestie.

Trotz zahlloser, innerhalb und außerhalb Spaniens geschriebener Bücher über diese entsetzliche Zeit fehlte der Debatte über den Bürgerkrieg und über die Erinnerung daran eine literarische Konkretisierung. Hier nun schließt Javier Cercas mit seinem ausgezeichneten Recherche-Roman „Die Soldaten von Salamis“ eine Lücke. Eine Massenhinrichtung von Gefangenen ohne Gerichtsurteil – ein für Vernichtungskriege typisches Ereignis – findet ihren Höhepunkt in einem aus dem Zufall geborenen Moment der Barmherzigkeit: Als der Soldat, der das Gebiet durchkämmt, dem Flüchtling plötzlich direkt gegenübersteht, schaut er ihm in die Augen, ruft seinen Kameraden zu: „Hier ist niemand!“ und lässt ihn laufen. Damit widersetzt er sich der Fatalität der Vernichtungspolitik und bricht eine Lanze für die Barmherzigkeit. Diese Geste ebnet der Aussöhnung den Weg, denn sie beweist, dass es während des Krieges Momente von Großmut gegeben hat.

Die Tat des Soldaten – anonymes Mitglied eines Erschießungskommandos – ist durch nichts als seinen Willen motiviert. Dagegen verweist der Schrei des Sterbenden in „La Velada en Benicarló“ auf das, was sich im Sommer 1936 in Madrid oder Barcelona, Sevilla oder Pamplona abspielte – das nämlich, was dem entdeckten Flüchtling hätte widerfahren müssen: Peng! Peng! … und gute Nacht, Rafael Sánchez Mazas. Aber dazu kam es nicht. In einem Akt absoluter Freiheit oder auch des Überdrusses angesichts so vieler Toter schoss der Soldat diesmal nicht, verständigte nicht seine Kameraden. Er schaute ihm in die Augen und machte kehrt.

dt. Christian Hansen

* Historiker und Essayist.

Le Monde diplomatique vom 17.01.2003, von SANTOS JULIÁ