Der breite und der schmale Weg
DIE irakische Opposition scheint überaus zerstritten und zersplittert. Der entscheidende Richtungsstreit wird jedoch zwischen zwei Gruppen ausgetragen, die sich in der Einschätzung des herrschenden Baath-Regimes unter Saddam Husein grundsätzlich unterscheiden. Die einen wollen den vollständigen Bruch mit dessen Institutionen und Funktionsträgern und den Irak mit massiver Unterstützung der USA ganz neu und demokratisch wieder aufbauen – wie es nach dem Zweiten Weltkrieg in Japan geschah. Die andere Gruppe setzt eher auf die – wenn auch korrumpierten – Eliten und Staatsorgane, die zumindest eines verhindern sollen: das vollständige Chaos zu Beginn der neuen Ära.
Von ISAM AL KHAFAJI *
„Mutter aller Workshops“ haben die 32 Vertreter der irakischen Opposition ihre Zusammenkunft in Wilton Park getauft. Bei ihrem Eintreffen bekamen sie eine Broschüre überreicht, die ihnen die Geschichte des Anwesens nahe bringen sollte, wo sie ein Dokument über die Grundprinzipien einer Übergangsregierung für die Nach-Saddam-Ära verabschieden wollen. Die symbolische Bedeutung der Tagungsstätte war unübersehbar. Als Konferenzzentrum wurde sie erstmals genutzt, als britische und deutsche Vertreter hier in Wilton Park den Übergang zu einem demokratischen System nach dem Ende des Nazi-Regimes diskutierten. Zyniker könnten anmerken, dass die deutschen Teilnehmer an dieser ersten Wilton-Park-Veranstaltung als Kriegsgefangene aus britischen Lagern antraten.
Die „Mutter aller Workshops“ trägt offiziell den Titel „Workshop zur Erarbeitung demokratischer Grundsätze“. Es handelt sich um das Treffen einer der 18 Arbeitsgruppen, bei denen unter der Schirmherrschaft des US-Außenministeriums irakische Politiker und Experten zusammenkommen, um Zukunftsvisionen für den Irak zu entwickeln, und zwar auf allen möglichen Gebieten: von der Struktur des Übergangsregimes über ökonomische Fragen (etwa der Ölpolitik) bis hin zur Rolle der Medien und der Zivilgesellschaft. Diese Arbeitsgruppen erörtern nicht nur alle möglichen technischen Aspekte und berichten anschließend vor der Presse in diplomatischen Floskeln über den demokratischen und zivilisierten Meinungsaustausch zwischen Irakis unterschiedlicher Herkunft und politischer Überzeugung. Dass solche Treffen stattfinden, wirft auch ein bezeichnendes Licht auf die Dilemmata, die in der Irakpolitik der US-Regierung zutage treten, das heißt auf den erbitterten Kampf zwischen Außenministerium und CIA auf der einen und dem Vizepräsidenten, den neokonservativen Kräften in Pentagon und dem Kongress auf der anderen Seite.
Im Hintergrund des Tagungsraumes sitzen als Beobachter zwei stumme Gäste aus Washington: Der eine ist Assistent des US-Vize-Verteidigungsministers Paul Wolfowitz, der andere ein höherer Mitarbeiter aus dem Stab von Vizepräsident Dick Cheney. Ob sie das Auftreten ihrer eigenen irakischen Marionetten beobachten oder ihre amerikanischen Rivalen aus dem State Department im Auge behalten sollen, lässt sich nur schwer ausmachen.
Innerhalb der US-Regierung gibt es diametral entgegengesetzte Auffassungen hinsichtlich der politischen Führungsstrukturen wie des politischen Systems, die von Washington zu unterstützen seien, aber auch hinsichtlich der Frage nach den Methoden, mit denen man in der Ära nach Saddam eine neue irakische Autorität installieren sollte. Der Streit um diese Konzepte ist für die künftige Gesamtstrategie der USA im Nahen Osten von unmittelbarer Bedeutung. Die Kontroverse ist zwar nicht neu, wird aber jetzt erstmals institutionell ausgetragen: Während das Außenministerium (und die CIA) eine realistische Haltung einnehmen (weswegen man sie auch als Tauben bezeichnet) und einen Regimewechsel im Irak mehr oder weniger als letzten Schritt zur Wiederherstellung regionaler Stabilität sehen, steht am anderen Ende des Spektrums das Pentagon, unterstützt von Cheney und einflussreichen Mitgliedern des Kongresses und des Nationalen Sicherheitsrats. Diese Gruppe sieht den Regimewechsel in Bagdad als Beginn einer „demokratischen Welle“, die den Irak zur führenden Kraft bei der Demokratisierung der Region machen soll, mit deren Hilfe man den gesamten Nahen Osten in eine US-freundliche liberale Oase verwandelt könne.
Die Geschichte dieses Disputs reicht zumindest bis in die Mitte der 1980er-Jahre zurück. Damals versuchte eine einflussreiche Gruppe innerhalb der Regierungen Reagan und Bush sen. – unterstützt durch eine ganze Kompanie von „Wissenschaftlern“, Propagandisten, Industriellen und Politikern – mit viel Zeitaufwand und Geld die Idee zu verbreiten, die USA müsse sich mit nationalistischen Diktaturen – und besonders mit der von Saddam Hussein – eng verbünden, um der fundamentalistischen Gefahr entgegenzutreten und die Ölversorgung des Westens zu sichern.
Auch als Saddam sich 1988, nach dem Ende des Iran-Irak-Kriegs, zu einer ernsthaften Bedrohung für die Interessen der USA entwickelte, blieb der Einfluss dieser Denkschule bestehen. Dann wurde die irakische Armee im Golfkrieg geschlagen, und im ganzen Land revoltierte das Volk gegen die Diktatur. Doch obwohl Präsident Bush sen. in dieser Situation die irakische Armee und das Volk aufforderte, „die Dinge selbst in die Hand zu nehmen“, hatten die ehemaligen Befürworter einer Allianz mit Saddan Hussein noch immer großen Einfluss. Der reichte aus, um die Regierung dazu zu bringen, den Aufstand von 1991 nicht zu unterstützen und stattdessen passiv zuzusehen, wie Saddams Truppen 60 000 Menschen abschlachteten, während die Alliierten ein Sechstel des irakischen Territoriums besetzten. Das Argument dieser Berater lautete damals, ein Volksaufstand könne unerwünschte Folgen haben. Man solle sich damit begnügen, Saddam und seine engste Umgebung zu beseitigen, zugleich aber die Grundlagen seines Regimes unangetastet lassen.
Die beiden beschriebenen Lager bemühten sich über die letzten zehn Jahre um politische Partner in der irakischen Opposition. Dabei setzte die realistische Schule auf den INA (Iraqui National Accord), eine Organisation ehemaliger Mitglieder der Baath-Partei, die einen begrenzten Staatsstreich befürwortet. Die neokonservativen Ideologen unterstützten dagegen den INC (Iraqi National Congress), der sich als liberale und prowestliche Organisation darstellt. Es wäre allerdings zu einfach, dem INA und dem INC, aber auch den anderen, unbedeutenderen Fraktionen und Repräsentanten der irakischen Opposition zu unterstellen, sie verfolgten lediglich ein US-amerikanisches Programm. Tatsächlich spiegeln beide Organisationen zu einem guten Teil den tief greifenden Wandel wider, den das Baath-Regime in der irakischen Gesellschaft bewirkt hat.
Der INC besteht vorwiegend aus Leuten, die ihren gesellschaftlichen, wirtschaftlichen oder auch politischen Aufstieg den vorrepublikanischen Regimes aus der Zeit vor dem Fall der Monarchie 1958 verdanken. Dagegen stammt die INA-Führung aus den sozialen Schichten, deren sozialer Aufstieg sich unter der Republik und vor allem unter dem Baath-Regime vollzogen hat. Deshalb hat die INC-Führung nichts mit den aktuellen Eliten und deren autoritären Auffassungen gemein. Anders die INA-Führer, die sich aus unterschiedlichen Gründen vom Baath-Regime losgesagt haben, aber noch immer an vielen politischen Haltungen und Positionen festhalten, denen sie ihren sozialen, ökonomischen und politischen Status verdanken.
Welche Auswirkungen haben diese beiden – in der US-Regierung wie innerhalb der irakischen Opposition vertretenen – Konzepte auf die politische Landschaft, die sich nach Saddam ergeben könnte? Bei so vielen unbekannten Variablen lässt sich vorerst nur eine plausible Feststellung treffen: Die Frage, wie die irakischen Durchschnittsbürger reagieren und ob sie auf längere Sicht die furchtbare Hinterlassenschaft der Saddam-Ära bewältigen können, wird maßgeblich davon abhängen, auf welche Weise das Saddam-Regime am Ende von der Bühne verschwindet. Es ist ein Unterschied, ob eine Serie verheerender US-Angriffe auf die Infrastruktur und die Zivilbevölkerung dem Regime die propagandistische Chance geben wird, den Krieg als gegen das ganze Volk gerichtet und Saddam Hussein als Verteidiger der nationalen Interessen darzustellen – oder ob Saddam noch vor der Kapitulation demonstriert, dass er um jeden Preis an der Macht bleiben will. Es ist ein Unterschied, ob Saddam am Ende durch die silberne Kugel eines Armeegenerals fällt oder ob ein Volksaufstand das Regime zur Aufgabe zwingt. Davon wird es letztlich abhängen, wie euphorisch oder verzagt die Menschen sich fühlen werden, wie sie zu einem neuen Regime stehen; ob sie diesem zutrauen, das alte Regime auf rechtsstaatliche Weise abzuurteilen, oder ob der Mob auf eigene Faust Vergeltung üben wird.
Wie kann eine Übergangsregierung der Bevölkerung ihren Willen aufnötigen? Es ist keineswegs garantiert, dass die Streitkräfte ihre Loyalität einfach vom alten auf das neue Regime übertragen werden. Nach über dreißig Jahren Indoktrination und Isolation wäre die Kommunikation zwischen dem neuen Regime und der Armee sehr stark beeinträchtigt.
Angst vor einem neuen Putsch
DER Zusammenbruch des Terrorregimes könnte der Armee auch die goldene Gelegenheit bieten, sich straflos über jede Disziplin hinwegzusetzen. Noch beunruhigender ist ein anderer Aspekt: die Existenz eines umfassenden Netzwerks von Clans, Familien und Interessencliquen wird die neue Regierung in ständiger Angst vor einem erneuten Putsch halten. Diskutiert man mit den Oppositionsgruppen im Exil über die Frage, wie eine solche Situation zu bewältigen wäre, kann man ziemlich interessante Meinungen hören. Die Vertreter eines „leichten Szenarios“, deren politische Partner im US-Außenministerium sitzen, verweisen vor allem auf „die kulturellen Normen und bestehenden Strukturen des Irak“. Angesichts der turbulenten Geschichte und des regionalen Umfeldes, aber auch der schrecklichen Hinterlassenschaft des Baath-Regimes könne man sich unmöglich auf den Luxus einer demokratischen Transformation einlassen, und zwar kurzfristig wie auf mittlere Sicht. Nach diesem Szenario besteht die dringlichste Aufgabe vielmehr darin, für politisch stabile und einigermaßen normale Verhältnisse zu sorgen. Auf den ersten Blick scheint es zwar so, als wolle diese Denkschule die Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Landes auf ein Minimum beschränken, doch ihre konkreten Vorschläge erinnern eher an die Strategie der britischen Kolonialpolitik der 1920er-Jahre (siehe den Beitrag auf Seite 11). So will man den Stammesältesten ein weitgehendes Mitspracherecht in der Innenpolitik einräumen und im Süden die Milizen des schiitischen SCIRI (Supreme Council for Islamic Revolution in Iraq) zur Aufrechterhaltung der Ordnung heranziehen. Zugleich sollen im neuen System nach Saddam – unter dem Vorwand stabiler Verhältnisse – die zentralen Strukturen des Baath-Regimes intakt und viele Spitzenfunktionäre im Amt bleiben.
Der INC geht hingegen davon aus, dass das Baath-Regime ein faschistisches System darstellt, nach dessen Beseitigung zuallererst eine Ent-Baathifizierung erfolgen müsse. Man müsse also zunächst die Grundstrukturen des Saddam-Regimes zerschlagen und dabei auf die Unterstützung wie auf eine langfristige Präsenz der USA setzen. Nur so könne man die öffentliche Ordnung wahren, das politische System umbauen, wobei eine längere Interimsperiode vorgesehen ist, und aus irakischen Exilkräften eine Miliz – als Kern der künftigen Streitkräfte – aufbauen.
Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass beide Szenarien politische Tatsachen schaffen würden, die für die irakische Gesellschaft weitreichende Folgen hätten. Zunächst ist das „leichte Szenario“ keineswegs so leicht, wie seine Verfechter glauben machen: Zum einen reproduziert es viele der verabscheuten Züge des Baath-Regimes, dem viel beschworenen Prozess des Wandels drohen also seine zentralen Reformziele abhanden zu kommen. Zum anderen läuft es – unter Verweis auf die notwendige Rücksicht auf lokale Gegebenheiten – darauf hinaus, dem irakischen Volk die nekrotischen Strukturen von Gesellschaft und Politik erneut aufzuzwingen.
Demgegenüber geht das „liberale“ Szenario von der Prämisse aus, dass die Grundlagen für eine demokratische Transformation nicht aus dem „internen“ Funktionieren der irakischen Gesellschaft selbst reproduziert werden können. Dabei wird auf das historische Vorbild Japan verwiesen, wo die US-amerikanische Besatzung zur Transformation in einen demokratischen Staat geführt habe. Doch bei diesem Szenario der Falken zeigt sich ein gravierender Widerspruch zwischen Mitteln und Zielen. Die Transformation des Irak in ein pazifistisches und demokratisches Japan des Nahen Ostens soll im Rahmen einer Strategie erfolgen, die eine Verdreifachung der irakischen Ölexporte vorsieht, von 3,5 auf etwa 10 Millionen Barrel täglich. Doch diese massive Steigerung dürfte mit dem Ziel einer demokratischen und friedlichen Entwicklung des Landes kaum vereinbar sein: die öffentlichen Einnahmen durch das Ölgeschäft zu steigern bedeutet, den allmächtigen Staat zu alimentieren, in dem die Diktatur verwurzelt ist.
Kurzfristig würden sich Gefahren und Widersprüche ergeben, die unmittelbar aus der geografischen Lage des Landes erwachsen. Die Verdreifachung der irakischen Ölexporte dürfte zum Absturz der Ölpreise führen und damit die Interessen aller anderen großen Ölexportstaaten bedrohen. Der Irak verfügt als einziges Opec-Land über keine unabhängigen Exportwege, obwohl der Persische Golf in Reichweite seiner Artillerie liegt. Und Länder wie Iran und Saudi-Arabien dürften angesichts einer Entwicklung, die sie an den Rand des Ruins treiben würde, kaum untätig bleiben. Dieses Szenario ließe sich also nur realisieren, wenn der Irak massiv aufrüstet oder sich auf eine massive US-Militärpräsenz verlässt. In beiden Fällen würde man die künftigen Gewinne aus den verdreifachten Ölexporten – wenn sie sich bei dem zu erwartenden Preisverfall überhaupt realisieren lassen – für die Produktion und den Import von Rüstungsgütern ausgeben. Das Ergebnis wäre also keinesfalls ein nahöstliches Wirtschaftswunder nach japanischem Vorbild.
Überdies zeigt die historische Erfahrung, dass sich der Wandel gesellschaftlicher Strukturen nach seinen eigenen Regeln und Gesetzmäßigkeiten vollzieht. Innere oder äußere Mächte mögen versuchen, einem Land ihr politisches Programm aufzupfropfen, und sich dabei auf die Notwendigkeit von Modernisierung oder den Respekt vor der einheimischen Kultur berufen; am Ende wird sich jedoch stets die immanente Logik der sozialen Strukturen durchsetzen – und auf die Mächte zurückschlagen, die sie zu vergewaltigen versuchen. Bewaffnete Milizen – des SCIRI oder des INC –, die nicht den Willen größerer Segmente des Volkes ausdrücken oder nicht glaubwürdig im allgemeinen Interesse agieren, werden zur Usurpation der Macht und zum Terror gegen die Bevölkerung neigen. Sie werden eher die Macht ihrer Auftraggeber stärken, als den Kern einer künftigen nationalen Streitmacht bilden.
In einem Land, in dem alle Strukturen und Traditionen politischer Repräsentation zerstört sind, können solche Milizen nur den mit so großen Hoffnungen verbundenen Wahlprozess verfälschen. Und sie werden sich nur schwer in neue innenpolitische Strukturen integrieren lassen.
Staatliche Autorität und Ordnung können nur von einer neu konstituierten Armee und einem regulären irakischen Polizeiapparat durchgesetzt werden – und auch das wird unmittelbar nach dem Fall des Saddam-Regimes nur sehr schwer möglich sein. Dabei geht es nicht nur um den technischen Auftrag, eine besiegte und aufgeriebene Armee wieder aufzubauen und aktionsfähig zu machen. Viel schwerer wird es sein, ein Instrument der politischen Repression in eine nationale Institution zu verwandeln, die von der Bevölkerung als Instrument zur Verteidigung der Ordnung und der Souveränität des Landes anerkannt wird.
Im Gegensatz zu den Republikanischen Garden, den später gebildeten Sondertruppen und den diversen Geheimdienst- und Sicherheitsorganen können die regulären Streitkräfte und die Polizei, die unter dem Baath-Regime marginalisiert und gedemütigt wurden, durchaus mit gewissen Sympathien rechnen. Die Privilegien, die das Regime den Offizieren der regulären Armee zu Beginn des Kriegs mit dem Iran spendiert hatte, wurden gegen Ende dieses Krieges wieder stark eingeschränkt, viele kampfbewährte Generäle wurden mit Degradierung oder anderweitig bestraft. Doch eine reguläre Armee, die ihre Aufgabe erfüllen soll, muss von der Bevölkerung als Institution eines legitimen Staates wahrgenmmen werden. Allerdings gründete sich Legitimität im modernen Irak nur selten auf eine demokratisch verabschiedete Verfassung, die von der Gesamtheit der staatlichen Organe aus Überzeugung respektiert und geschützt worden wäre. Vielmehr verschaffte sich der Staat seine Legitimation zumeist mittels Patronage, das heißt indem er den Eindruck vermittelte, dass weite Teile der Bevölkerung von ihm gewisse Leistungen oder Vergünstigungen beziehen. Ein erster Schritt zur Legitimierung eines neuen Regimes wird zwar durch die internationale Anerkennung und die Aufnahme in internationale Organisationen vollzogen. Aber das garantiert noch längst nicht die Anerkennung durch die irakische Gesellschaft. Vielmehr gilt es, in dieser Gesellschaft zuerst einmal die schwierige Balance zwischen den beiden entscheidenden Gruppen herzustellen. Das heißt: zwischen den Vertretern der Bevölkerung, die dank ihrer moralischen und politischen Qualitäten eine gewisse Anerkennung und Glaubwürdigkeit erworben haben, und einer Führungsgruppe, die sich die Loyalität von Armee und Polizei sichern kann.
Dieser Balanceakt könnte extrem schwierig sein, weil das Volk in Zeiten revolutionärer Umwälzungen sehr hohe Erwartungen hegt. Die Organisationen und ihre Vertreter werden umso glaubwürdiger dastehen, je weniger sie mit dem alten Regime zu tun hatten. Aber gerade die Leute mit Distanz zum alten Regime werden sich ex definitione mit den Institutionen und Mechanismen der Macht am wenigsten auskennen.
Wenn wir keine umfassende Revolution erleben, die alternative Führer und Institutionen hervorbringt, wird der Fall des Regimes ein unstabiles und konfliktreiches Interregnum hervorbringen. Zwar könnte nach – oder sogar noch vor – einem militärischen Angriff auf den Irak durchaus eine spontane Revolte ausbrechen, aber angesichts der atomisierten und verdorrten politischen Kultur erscheint es nahezu ausgeschlossen, dass sich eine solche Revolte zur umfassenden Revolution ausweitet. Zehn Jahre Wirtschaftssanktionen und dreißig Jahre Diktatur haben die Bildungselite und die Mittelschichten, die eine aufgeklärte neue Führung hervorbringen könnten, stark in Mitleidenschaft gezogen. Deshalb wäre es keine Überraschung, wenn nach dem unsäglichen Leiden von Millionen Irakis einige der alten Schlächter sich zu Vorkämpfern für die neuen modischen Werte wandeln sollten – für Liberalismus, Marktwirtschaft pur und den Slogan „Gott schütze Amerika“.
aus dem Engl. Niels Kadritzke
* Forscher, lehrt an der Universität von Amsterdam.