17.01.2003

Genies der kreativen Anpassung

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Genies der kreativen Anpassung

ALS einziges der asiatischen Nomadenvölker hatten die Magyaren in Europa dauerhaft Fuß gefasst und im Mittelalter ein zeitgemäßes Staatswesen begründet. Historische Katastrophen und Wirren ließen die ungarische Nation immer wieder an ihrem Überleben zweifeln. Dennoch überstand sie den Systemumbruch besser als die meisten ihrer Nachbarn. Bei aller verständlichen Zurückhaltung gegenüber der Brüsseler Bürokratie bedeutet der EU-Beitritt für Ungarn so etwas wie eine unwiderrufliche Heimkehr in die „Familie“.

Von GREGOR MAYER *

Am 8. Dezember 1941, dem Tag nach dem japanischen Überfall auf Pearl Harbor, erschien nach dem deutschen und dem italienischen Botschafter auch der ungarische bei Präsident Roosevelt, um den USA formal den Krieg zu erklären. „So, so, auch das Königreich Ungarn“, murmelte der Präsident, „wie heißt eigentlich Ihr König?“ – „Unser Land wird von keinem König regiert“, gab der Botschafter zurück, „sondern vom Reichsverweser Admiral Miklós Horthy.“ – „Ah, ein Admiral. An welchem Meer liegt Ihr Land?“ – „An keinem. Das Königreich Ungarn ist ein Binnenland.“ – „Und warum erklären Sie uns den Krieg? Haben Sie territoriale Ansprüche gegen uns?“ – „Nein. Admiral Horthy empfindet sogar große Sympathien für Ihr Land.“ – „Haben Sie gegen sonst jemanden territoriale Ansprüche?“ – „Ja, gegenüber Rumänien, der Slowakei und Österreich.“ – „Haben Sie denen auch den Krieg erklärt?“ – „Nein, mit diesen Ländern sind wir verbündet.“

Die Episode ist natürlich nicht wahr, sondern ein oft erzählter Witz. Er wirft ein Schlaglicht auf die weltpolitischen Widersprüche und zugleich auf die verworrenen inneren Verhältnisse, die den Ungarn über weite Teile ihrer Geschichte das Gefühl gaben, von der Auslöschung bedroht zu sein oder stets irgendwie auf der falschen Seite zu stehen. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde man als Teil des untergegangenen Habsburger-Imperiums in den Pariser Friedensverträgen mit dem Verlust von zwei Dritteln des Territoriums grausam abgestraft. Im Zweiten Weltkrieg war das Königreich ohne König unter dem Admiral ohne Flotte mit Deutschland verbündet, weil dieser der irrigen Hoffnung anhing, auf diese Weise die verlorenen Gebiete heimholen zu können. Nach dem Zweiten Weltkrieg geriet man – anders als das glücklichere Österreich mit seinen Mitläufern des Nazi-Regimes – unter die sowjetische Fuchtel. Jetzt, dreizehn Jahre nach der demokratischen Wende, fühlen sich die Ungarn dort angekommen, wo sie eigentlich immer hinwollten, wovon sie aber bislang widrige Umstände und unfähige Eliten abgehalten hatten: in der stinknormalen europäischen Normalität.

Dabei ist der Umstand, dass es die Ungarn überhaupt noch gibt, ein kleines Wunder, das sich schon vor tausend Jahren zutrug. „Vor den Pfeilen der Magyaren errette uns, o Herr!“, war ein Stoßgebet, das im Europa des 9. und 10. Jahrhunderts oft und vergeblich zum Himmel drang. Mit ihrer schnellen Reiterei waren die magyarischen Nomaden aus den Steppen Mittelasiens der Schrecken der europäischen Christenheit. Auch nachdem sie sich 896 in der pannonischen Ebene auf Dauer niedergelassen hatten (honfoglalás, die so genannte Landnahme), setzten sie ihre Raubzüge fort, die sie oft ins deutsche Reich und bis Apulien und Asturien führten.

Als ihnen Otto I. 955 auf dem Lechfeld bei Augsburg endlich eine vernichtende Niederlage zufügte, begann Großfürst Géza umzudenken. Er stellte die Raubzüge ab, holte bayerische und schwäbische Ritter und Missionare ins Land und nahm die unabhängigen Stammesfürsten an die Kandare. Seinen Sohn Vajk ließ er christlich taufen, wodurch dieser den Namen Stephan (ung. István) annahm, und die bayerische Prinzessin Gisela heiraten, eine Schwester Kaiser Heinrichs II. Während Géza noch damit prahlte, dass er reich genug sei, um sowohl den heidnischen als auch den christlichen Göttern opfern zu können, war der von bayerischen Geistlichen aufgezogene Stephan bereits Christ aus Überzeugung. Er setzte das Reformwerk seines Vaters fort und schmiedete einen straff zentralisierten, mittelalterlichen Kirchenstaat nach karolingischem Vorbild. Um 1000 wurde er mit der von Papst Silvester II. gesandten Krone zum König gekrönt. Damit war eine gigantische Anpassungsleistung vollzogen, neben der sich die Anstrengungen für den EU-Beitritt bescheiden ausnehmen: das einst wilde Nomadenvolk war nicht nur der drohenden Ausrottung durch das christliche Europa entgangen, sondern hatte sich in dessen Herzen dauerhaft einen allseits anerkannten Platz gesichert.

Zumindest schien es so. Doch in den folgenden Zeiten hatten die Ungarn wiederholt das Gefühl, im Stich gelassen zu werden. Nach dem furchtbaren Mongolensturm von 1241 schrieb König Béla IV. an den Papst: „Von allen Seiten erhielten wir nur Worte. Wir haben in unserer großen Not von keinem christlichen Herrscher oder Volk Europas irgendeine Unterstützung erhalten.“ Ein traumatisches Muster, das sich wiederholen und steigern sollte: nach der Schlacht von Mohács im Jahr 1526 wird Ungarn von den Osmanen zerschlagen, aufgeteilt und besetzt, um nach 150-jähriger türkischer Herrschaft ausgerechnet von Habsburg-Österreich verschluckt zu werden. Im antihabsburgischen Freiheitskampf 1848/49 fühlten sich die Ungarn vom progressiven Teil der Welt ebenso schmählich vergessen wie im Oktober 1956, als sie vergeblich gegen sowjetische Panzer ankämpften.

Müssten die Ungarn nach all dem heute nicht eingefleischte Europa-Skeptiker sein? Einige sind es gewiss: Sie glauben heute noch, dass der Vertrag von „Trianon“, der 1919 die Abtrennung Siebenbürgens, der Slowakei („Oberungarn“), der Batschka, des Banats und des Burgenlandes von Ungarn verfügte, eine „jüdische Intrige“ war; dass sich die – natürlich „jüdisch dominierte“ – internationale Bankenwelt mit der ehemaligen kommunistischen Elite zusammengetan hätte, um die junge Demokratie ökonomisch auszubeuten und kulturell zu „überfremden“; sie sind Anhänger der Ungarischen Gerechtigkeits- und Lebens-Partei (MIÉP) des antisemitischen Schriftstellers István Csurka, der sich mit der „nach der Systemwende eingetretenen Verjudung nicht abfinden kann“, oder sie gehören einem der rechten Vereine oder Splittergruppen an, die dem ehemaligen rechtspopulistischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán nachlaufen. Doch sie bilden keine Mehrheit, wie dies ebenjener Viktor Orbán zu spüren bekam, der in der Wendezeit als charismatischer, redebegabter antikommunistischer Studentenrebell aufgefallen war.

In seiner Regierungszeit (1998–2002) umwarb er die extreme Rechte, übernahm einige ihrer Themen, stellte aber den Kurs auf den EU-Beitritt nicht in Frage. Bei der Parlamentswahl im April 2002 empfand jedoch eine knappe Mehrheit der Wahlbürger Orbáns aggressiven Herrschaftsstil und seine zweideutige Europa-Rhetorik („Es gibt auch ein Leben außerhalb der EU“) als so beängstigend, dass seine sicher scheinende Wiederwahl scheiterte.

Skeptisch sind die Ungarn gegenüber ihren eigenen Machthabern. Seit der Wende machten sie noch bei jeder Parlamentswahl von ihrem demokratischen Recht Gebrauch, die jeweilige Regierung in die Wüste zu schicken. Nun ist es dem Regierungsbündnis aus ehemaligen Kommunisten und ehemaligen Dissidenten beschieden, Ungarn am 1. Mai 2004 in die EU zu führen. Die Ungarische Sozialistische Partei (MSZP), die sozialdemokratisch gewendete Staatspartei des Ancien Régime, und der liberale Bund Freier Demokraten (SZDSZ), eine Gründung von ehemaligen Bürgerrechtlern und Regimegegnern, hatten das Land schon einmal, von 1994 bis 1998, regiert. Mit einem schmerzhaften Sparprogramm sowie der Privatisierung von Banken und Energiedienstleistern hatte diese Koalition die wirtschaftliche Transformation zu Ende gebracht.

Ungarn wurde zum Darling des ausländischen Kapitals, generöse Steuerbegünstigungen für Großinvestoren, die nun beim EU-Beitritt abgebaut werden müssen, wirkten zusätzlich anziehend. Kfz-Konzerne und Computer-Multis siedelten sich an, das Land weist die höchste Pro-Kopf-Investitionsquote unter allen Transformationsländern auf.

Aber auch das kreative Potenzial, das in den Ungarn schlummerte, begann sich zu entfalten: vor allem im Dienstleistungsbereich schossen neue Firmen aus dem Boden, neue Lokale prägen das Budapester Szeneleben, adrette Frühstückspensionen, von unternehmerisch denkenden Familien geführt, säumen die Transitrouten. Seit 1996 wächst Ungarns Volkswirtschaft beständig, und zwar doppelt so stark wie die der Alt-EU. Zwar ist dieses Wachstum immer noch von den immensen Exporten der in Ungarn tätigen Multis getragen. Doch steigende Gehälter und Umverteilungsmaßnahmen der alten und der neuen Regierung sorgen langsam für eine konstante Inlandsnachfrage.

Europa-Euphorie kommt dennoch keine auf. Dazu sind die Ungarn zu sehr Realisten. Der Preis der Wende war hoch. Der Kaufwert der Renten und Sozialleistungen schmolz. Die meisten Intellektuellen nahmen enorme biografische Brüche in Kauf. Russischlehrer mussten sich umschulen lassen, aus Metallurgie-Ingenieuren wurden Schuhgroßhändler, aus Philosophen Gastronomen, aus Topjournalisten Reisebürogründer. Umbruch und Systemwandel verlangten den Menschen ungeheure Anpassungsleistungen ab. Im Vergleich mit deutschen Zuständen, wo jede kleine Rentenreform oder geringfügige Liberalisierung des Ladenschlusses Schockwellen durch die Gesellschaft jagt, kann einem das nur Bewunderung entlocken.

Natürlich wird auch gejammert: Das Wort vom japanischen Leistungsdruck, den schwedischen Steuer- und Sozialabgaben und den äthiopischen Löhnen macht die Runde. Tatsächlich liegt das Einkommensniveau bei einem Viertel oder Fünftel des EU-Schnitts.

Doch der steigende Wohlstand wird langsam auch sichtbar: In den Straßen von Budapest wimmelt es nicht mehr von Wartburgs und Ladas, sondern von Suzukis und Fiats, unter die sich gar nicht so wenige Limousinen teurerer Bauart mischen; in den Budapester Grünzonen entstehen immer mehr elegante Wohnparks, wie sie auch in jeder anderen westlichen Metropole stehen könnten; die Charterflüge nach Tunesien, in die Türkei oder zu den Kapverden sind voll mit Menschen, die sich vor der Wende bestenfalls zwei Wochen Gewerkschaftsheim an der bulgarischen Schwarzmeerküste gönnten.

Längst schon wirbelt Ungarns Bevölkerung durch die Spirale des nachholenden Wachstums. Als Orbán 1998 an die Macht kam, hatte er selbst die Wandlung vom liberalen Rebellen über den pragmatischen Yuppie zum nationsväterlichen Wertkonservativen durchlaufen. Mit einem bombastischen Staats- und Historienkult wollte er den im Kommunismus sozialisierten und nun im turbokapitalistischen Konsumrausch vermeintlich haltlos werdenden Ungarn ihr „Gefühl für die eigene Größe“ zurückgeben. Die Stephanskrone wurde vom Nationalmuseum ins Parlament umgebettet, wo sie als „Staatsreliquie“ glänzen sollte (und die Nachbarn im Karpatenbecken mit einem Anflug von Irredentismus verstörte). Große Historienfilme wurden in Auftrag gegeben, in deren Besetzungslisten und Drehbücher der junge Ministerpräsident persönlich eingriff. Die Ungarn winkten ab.

Jetzt regiert sie mit Péter Medgyessy ein kreuzbraver Technokrat vom Reformflügel der ehemaligen Kommunistischen Partei, an dem zudem der Makel einer – wie von den Sozialisten felsenfest behauptet wird – harmlosen Stasi-Informantentätigkeit haftet. Trotzdem ist Medgyessy der politisch professionellste Regierungschef seit der Wende: Probleme packt er sachbezogen an, Konfliktthemen entschärft er durch oft mühsame Konsenssuche, statt vollmundiger Deklarationen im öffentlichen Raum bevorzugt er Kärrnerarbeit in stickigen Sitzungsräumlichkeiten.

So ist der Vorsprung der MSZP gegenüber Orbáns Bund Junger Demokraten (Fidesz) von einem Prozent bei den Aprilwahlen auf heute 12 bis 15 Prozent in den Meinungsumfragen angewachsen. Der Beitritt zur EU wurde vom Medgyessy-Team zu Ende verhandelt. Es gab keine Überraschungen. Von Anfang an war klar, dass sich die EU finanziell engherziger als bei jeder vorherigen Beitrittsrunde gebärden würde. Die Diskriminierung bei den Agrar-Direktzahlungen trifft jedoch Ungarn nicht ins Mark.

Die Landwirtschaft spielt im Wirtschafts- und Sozialgefüge bei weitem nicht die Rolle wie etwa in Polen. Da nun auch aus dem nationalen Budget dazugefördert werden darf und die Preisstruktur auch eine andere ist, befürchtet niemand eine Katastrophe für den Agrarsektor. In der Gesamtbilanz von Ein- und Auszahlungen steigt Ungarn, wie von der Brüsseler Kommission versprochen, mit einer verbesserten Nettoposition aus: 2003 erhält das Land noch 197 Millionen Euro als Vor-Beitrittshilfen, 2004 als Mitglied bereits netto 271 Millionen Euro, 2005 netto 494 Millionen Euro.

Mehr als diese abstrakte Zahlenreihe gehen allerdings unter den Durchschnittsbürgern Befürchtungen um, dass das zu übernehmende komplizierte Regelwerk der Brüsseler Technokraten in den Kern der ungarischen Lebensweise – das heißt in die Essgewohnheiten – eingreifen könnte. Das Gerücht, dass in der EU der Anbau von Mohn verboten sei, erwies sich als Falschmeldung. Die Sorge, die vor allem zu großen Festlichkeiten verzehrten Mohnmehlspeisen (beigli) würden in die Illegalität verdrängt, war mithin unbegründet. Wahr hingegen ist, dass in der EU keine Küchenabfälle an Schweine verfüttert werden dürfen. Die Regierung erließ Ende 2002 eine entsprechende Verfügung, womit diese eher mit Unverständnis aufgenommene Regel nun auch in Ungarn gilt.

Ob sie sich bei hunderttausenden Kleinlandwirten durchsetzen lassen wird, die für den Eigenbedarf produzieren und ihre Überschüsse auf dem nächstgelegenen Bauernmarkt verkaufen, darf bezweifelt werden. Vielmehr ist eine Segregierung des Agrarsektors zu erwarten: die Kleinbauern, für die allein schon das Ausfüllen der komplizierten Formulare eine unüberwindbare Hürde darstellt, werden kaum in den Genuss der EU-Agrarförderungen kommen und dafür weiterhin so produzieren, wie sie es gewohnt sind; ernsthafte Agrarbetriebe, die ohne Förderungen ihre Wettbewerbsfähigkeit verlieren würden, werden sich wohl an diese Regeln halten. Schon jetzt verkünden Großkantinen und Gaststätten, die ihre Abfälle bisher Landwirtschaftsbetrieben überließen, dass sie ihre Preise erhöhen müssten, weil sie nun für die Entsorgung des Küchenmülls selbst zu bezahlen haben.

Trotz allem ist aber in der Bevölkerung immer noch jene Haltung vorherrschend, die den EU-Beitritt als unvermeidlich ansieht. Die Erwartung, langfristig ähnliche Wohlstandszuwächse genießen zu können wie die einst armen EU-Zugänge Spanien oder Irland, verbindet sich mit der emotionalen Befriedigung über eine „Rückkehr nach Europa“, die als längst fällig empfunden wird. Das Lager der Skeptiker und Gegner umfasst nicht nur die Rechts-Nationalen, sondern auch kritische Demokraten, die eine Verschärfung und Verrohung des wirtschaftlichen Wettbewerbs befürchten. Für sie spricht der – über jeden Nationalismus-Verdacht erhabene – Filmregisseur Miklós Jancsó, wenn er meint: „Wir werden Mitglieder zweiter Klasse sein und nur die Schattenseiten des Wettbewerbs zu spüren bekommen.“

Schließlich gibt es noch die jüngeren und dynamischen Zeitgenossen, die die Chancen offener Grenzen und die Arbeits- und Karrieremöglichkeiten im Ausland vor Augen haben. Wie etwa jener ehemalige Direktor einer Budapester Gummifabrik, die bei der Privatisierung vom französischen Reifenhersteller Michelin aufgekauft wurde. Er lebt nun mit seiner Familie seit vier Jahren am Stammsitz des Mutterkonzerns in Clermont-Ferrand. Obwohl er es zu einem Platz im Topmanagement der Konzernzentrale „geschafft“ hat, baut er sich bei Budapest ein Haus für eine spätere Heimkehr. Keine Perspektive ist das für seine beiden Töchter im Teenageralter: Sie wollen unbedingt in Frankreich bleiben. Menschen kommen und gehen, andere verweilen: auch so wächst das neue Europa zusammen.

Dieser Text erscheint nur in der deutschsprachigen Ausgabe.

* Von 1990 bis 2000 Korrespondent des österreichischen Nachrichtenmagazins profil in Budapest, seit 2001 in Belgrad.

Le Monde diplomatique vom 17.01.2003, von GREGOR MAYER