10.10.2008

Slum in Selbstverwaltung

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Slum in Selbstverwaltung

Wie die Schattenwirtschaft den abwesenden Staat ersetzt von Sudhir Venkatesh

Eines Tages mitten im Februar verlor die Familie Wilson ihre Wohnungstür. Die Wilsons lebten im zwölften Stock, nicht weit von Ms Baileys Büro entfernt. Ihre Tür fiel einfach aus den Angeln und setzte die Familie der brutalen Kälte des Chicagoer Winters aus. Selbst mit Wohnungstür war es in den Robert Taylor Homes im Winter nicht sehr gemütlich. Weil die Galerien im Freien lagen, konnte man auf dem Weg vom Aufzug in seine Wohnung vom kühlen Wind, der vom Michigansee herüberwehte, buchstäblich umgeblasen werden. Und in die Wohnung fand der Wind unweigerlich einen Weg durch die Türritzen.

Chris Wilson arbeitete für die Stadt. Er zog ständig ein und wieder aus, weil er mit seiner Frau Mari und den sechs Kindern zusammenlebte, ohne auf dem Mietvertrag zu erscheinen. Chris und Mari waren natürlich nicht begeistert, als ihre Tür abfiel. Es war nicht nur die Kälte – sie hatten Angst, ausgeraubt zu werden. Drogenabhängige nutzten jede Gelegenheit, Dinge zu stehlen und zu Geld zu machen.

Die Wilsons versuchten, die CHA, die Wohnungsbaubehörde, zu verständigen, bekamen aber keine Antwort. Sie errichteten eine behelfsmäßige Tür aus Brettern und Plastikfolie, die aber nicht besonders gut vor der Kälte schützte. Als auch noch Nachbarn, die versprochen hatten, auf die Wohnung aufzupassen, nicht wie vereinbart auftauchten, riefen die Wilsons Ms Bailey zur Hilfe.

Ms Bailey schritt umgehend zur Tat. Sie bat J. T., ein paar von seinen Gangmitgliedern im Treppenhaus vor dem zwölften Stock zu postieren, um potenzielle Einbrecher fernzuhalten. Als Präventivmaßnahme schloss J. T. außerdem eine leer stehende Wohnung in der Nähe, die als Crack-Höhle genutzt wurde. Dann kontaktierte Ms Bailey zwei Leute, die sie bei der CHA kannte. Der erste war ein Mann, der einen Gutschein besorgte, mit dem die Wilsons in einem billigen Hotel wohnen konnten, bis ihre Tür repariert war. Die zweite konnte den Anforderungsvorgang für eine neue Tür so weit beschleunigen, dass sie zwei Tage nach Ms Baileys Anruf geliefert wurde.

Alles in allem wurde die neue Tür für die Wilsons nicht gerade billig. Sie mussten Ms Bailey mehrere hundert Dollar bezahlen. Dieser Betrag deckte die „Gebühren“ ab, die Ms Bailey ihren Freunden bei der CHA bezahlte, und ebenso die Rechnung eines Elektrikers, weil einige der Leitungen in der Wohnung der Wilsons durch die Kälte Schaden genommen hatten. Vermutlich steckte Ms Bailey den Rest in die eigene Tasche. Mari Wilson sah das Ganze ziemlich gelassen. „Im letzten Sommer hatten wir einen Monat lang kein fließendes Wasser“, erzählte sie mir. „Dagegen war eine Woche ohne Tür gar nichts.“ Ich sah die Art und Weise, wie Ms Bailey Frauen wie Taneesha und Familien wie den Wilsons half, mit zutiefst gemischten Gefühlen. Ihre Methoden waren oft höchst kreativ und mindestens ebenso oft moralisch fragwürdig. Angesichts der wenigen Möglichkeiten, die ihr zur Verfügung standen, verstand ich, warum sie glaubte, dass der Zweck alle Mittel heiligte. Doch das Kooperieren mit den Gangs, das Bestechen von Beamten, um Dienstleistungen zu erhalten, und das Umverteilen von Drogeneinnahmen trugen wenig dazu bei, der durchschnittlichen Familie in ihrem Gebäude zu helfen.

Ms Bailey hatte mir oft gesagt, dass sie viel lieber nach den Regeln spielen würde, wenn diese Regeln nur funktionierten. Doch ich glaube, dass das, was Ms Bailey wirklich antrieb, ihr Machthunger war. Es gefiel ihr, dafür zu sorgen, dass Dinge erledigt wurden (und dafür bezahlt zu werden), und sie hatte kein Interesse daran, diesen Zustand zu ändern, auch wenn das bedeutete, dass „ihre“ Familien manchmal leer ausgingen. Die vermieden es wiederum, sie herauszufordern, aus Angst, ihren Zorn auf sich zu laden.

Die Machtfülle von Building Presidents wie Ms Bailey deprimierte mich. Die Menschen in dieser Community sollten nicht länger als eine Woche auf eine neue Wohnungstür warten müssen. Sie sollten nicht daran zweifeln müssen, dass Polizei oder Krankenwagen auf ihre Notrufe reagieren werden. Die Menschen in dieser Community sollten nicht gezwungen sein, eine Vermittlerin wie Ms Bailey zu bezahlen, damit sie eine Dienstleistung bekommen, die für die meisten Amerikaner selbstverständlich ist.

Dort, wo ich aufwuchs, würde niemand derartige Unannehmlichkeiten und Versäumnisse tolerieren. Doch das Leben in den Projects war eben nicht so wie in der Vorstadt meiner Kindheit. Es war nicht nur härter. Hier waren viele Dinge schlicht völlig unkalkulierbar, weshalb ein vollkommen anderes System von Regeln des Zusammenlebens vonnöten war. Und das Leben in einem Gebäude mit einem mächtigen Building President, so hart es sein konnte, war immer noch weniger hart als eines ohne einen solchen. Wenn man etwas brauchte, kostete es zwar etwas mehr, doch zumindest hatte man eine reelle Chance, es auch zu bekommen.

Nach vier Jahren Feldforschung in den Projects machte man mich darauf aufmerksam, dass ich eine Menge Ärger bekommen konnte, wenn ich so weitermachte wie bisher. Während eines beiläufigen Gesprächs mit einigen meiner Professoren erklärte ich, wie J. T.s Gang vorging, wenn sie ein Drive-by-Shooting plante – oft schickten sie eine junge Frau vor, die sich an die rivalisierende Gang heranmachen und die nötigen Informationen für einen Überraschungsangriff beschaffen sollte – daraufhin erklärten meine Professoren mir, dass ich dringend einen Anwalt konsultieren müsse. Offensichtlich bewegten sich meine Recherchen ein gutes Stück außerhalb der akzeptierten Grenzen der normalen akademischen Feldforschung. (…) Ich versuchte, ihn davon zu überzeugen, dass es nichts schaden konnte, wenn ich nur im Boys & Girls Club herumhing, aber er warf mir einen Blick zu, der mir klarmachte, dass diese Position nicht verhandelbar war.

Ich sprach also mit einem Anwalt, und der erklärte mir ein paar wichtige Dinge. Erstens, wenn ich Kenntnis davon erhielt, dass jemandem ein körperlicher Schaden zugefügt werden sollte, dann war ich verpflichtet, das der Polizei zu melden. Das bedeutete: Ich konnte nicht länger dabei zusehen, wie die Gang ein Drive-by-Shooting plante, ich konnte allenfalls in abstrakter Weise mit ihnen über derartige Dinge reden. Zweitens, es gibt keinen rechtlichen Schutz für die vertraulichen Gespräche zwischen Forscher und Beobachtungsobjekt – so wie es zwischen Anwalt und Klient, Arzt und Patient oder beim Beichtgeheimnis des Priesters der Fall ist. Das bedeutete, wenn ich jemals vorgeladen würde, als Zeuge gegen die Gang auszusagen, dann wäre ich gesetzlich dazu verpflichtet, das auch zu tun. Wenn ich Informationen zurückhielt, machte ich mich strafbar. (…)

Natürlich hatte ich nicht vor, selbst an einem Drive-by-Shooting der Gang teilzunehmen (und es war nicht besonders wahrscheinlich, dass sie mich dazu auffordern würden). Doch da es mich schon in Schwierigkeiten bringen konnte, nur mit der Gang zusammen zu sein, während sie davon sprachen, auf jemanden zu schießen, musste ich meine Methoden überdenken. Vor allem musste ich offen mit J. T. reden. Wir hatten diese Verstrickungsproblematik mehrfach in Gesprächen angeschnitten. Als ich zum Beispiel einen Tag lang Bandenführer war, kannte J. T. meine Grenzen, und ich verstand die seinen. Doch nun würde ich ihm – und vielleicht auch noch ein paar anderen – sagen müssen, dass ich gesetzlich verpflichtet war, meine Notizen offenzulegen, wenn ich jemals als Zeuge vorgeladen wurde.

Letzten Endes war dieser juristische Rat auch deswegen hilfreich, weil er mich dazu zwang, meine Recherchen einer ernsthaften Inventur zu unterziehen. Es war für mich an der Zeit, über den nächsten Schritt nachzudenken: meine Notizen zu einer Dissertation zusammenschreiben. Ich war so im täglichen Drama von Ms Baileys und J. T.s Alltag gefangen gewesen, dass ich meine Studien über die Underground Economy fast aufgegeben hatte.

Also kehrte ich mit zwei Entschlüssen im Gepäck in die Robert Taylor Homes zurück: Ich wollte, dass die Leute von meinen juristischen Problemen wussten, und ich wollte mehr über die illegalen wirtschaftlichen Aktivitäten der Bewohner erfahren. Ich hatte erwartet, dass die meisten Leute davor zurückschrecken würden, mir die Einzelheiten ihrer illegalen Verdienste offenzulegen, doch als ich die Idee J. T., Ms Bailey und mehreren anderen gegenüber ansprach, waren fast alle dazu bereit mitzuarbeiten.

Die meisten Hustler wollten als Geschäftsleute ernst genommen werden – und waren im Übrigen, auch das sollte man nicht verschweigen, begierig darauf zu erfahren, ob sie mehr verdienten als ihre Konkurrenten. Ich betonte, dass es mir natürlich nicht möglich wäre, die geschäftlichen Details anderer Leute zu verraten, doch die meisten Befragten gingen über meine Einwände hinweg, als seien das reine Formalitäten, die man auch umgehen konnte.

Also begann ich mit dem Segen von J. T. und Ms Bailey, die Hustler in der Gegend zu interviewen: Süßigkeitenverkäufer, Zuhälter, Prostituierte, Schneider, Hellseher und die Männer, die den an der Ampel wartenden Autos die Scheiben putzten. Ich erzählte J. T. und Ms Bailey auch von meinem zweiten Problem, der gesetzlichen Verpflichtung, meine Notizen der Polizei zu zeigen. „Wollen Sie damit sagen, dass Sie das die ganze Zeit nicht wussten?“, fragte Ms Bailey. „Sogar ich wusste, dass man der Polizei sagen muss, was man macht – außer man gibt ihnen die Information unter der Hand.“ „Oh nein!“, protestierte ich. „Ich werde nicht zum Informanten werden.“

„Schätzchen, hier sind alle Informanten. Das ist nichts, wofür man sich schämen muss. Man muss nur zusehen, dass man dafür auch bekommt, was man haben will, sage ich immer. Und lassen Sie sich nicht von ihnen verprügeln.“ „Ich gebe meine Informationen nicht an die Polizei weiter, das will ich damit sagen.“ „Sie meinen, Sie gehen stattdessen lieber ins Gefängnis?“ „Na ja, nicht ganz. Ich meine nur, dass ich meine Informationen nicht an die Polizei weitergebe.“ „Wissen Sie, was auf die Missachtung gerichtlicher Anordnungen steht?“ Als ich nicht antwortete, schüttelte Ms Bailey fast schon empört den Kopf. Ich hatte diesen Blick schon früher zu sehen bekommen: Angesichts meiner Weltfremdheit fragte sie sich, wie ich mich jemals für eine Universitätsausbildung qualifiziert hatte. „Jeder Nigger hier kann Ihnen sagen, dass Sie zwei Möglichkeiten haben“, sagte sie. „Du sagst ihnen, was sie wissen wollen, oder du sitzt im Bezirksgefängnis.“ Ich blieb stumm und versuchte, eine dritte Option zu finden. „Ich frage Sie noch einmal“, sagte Ms Bailey. „Werden Sie Ihre Informationen preisgeben oder werden Sie ins Gefängnis gehen?“ „Müssen Sie das wissen? Ist das wichtig für Sie?“ „Sudhir, lassen Sie mich Ihnen etwas erklären. Sie denken, dass wir hier alle von gestern sind. Haben wir diese Unterhaltung nicht schon hundertmal geführt? Glauben Sie, wir wissen nicht, was Sie tun? Glauben Sie, wir wissen nicht, dass Sie all Ihre Notizbücher in Ms Maes Wohnung aufbewahren?“

Mir lief es kalt den Rücken hinunter. Ms Mae vermittelte mir das Gefühl, in ihrer Wohnung immer willkommen zu sein. Es war mir noch nie in den Sinn gekommen, dass jemand wie Ms Bailey auch nur einen Gedanken an meine Notizbücher verschwenden – oder sie vielleicht gar durchblättern – könnte.

„Warum lassen Sie mich dann hier herumhängen?“, fragte ich. „Warum wollen Sie hier herumhängen?“ „Ich lerne, nehme ich an. Das ist es, was ich tue, die Armen studieren.“ „Okay, gut, Sie wollen den Heiligen markieren, viel Spaß dabei“, sagte Ms Bailey und lachte. „Natürlich lernen Sie! Aber Sie sind auch ein Hustler – Sie machen krumme Geschäfte. Wir alle hier sind Hustler. Und wenn wir jemanden sehen, der so ist wie wir, dann fühlen wir uns zu ihm hingezogen. Weil wir andere Hustler brauchen, um zu überleben.“

Sudhir Venkatesh ist Professor für Soziologie und Afroamerikanische Studien an der Columbia University in New York. © Econ Verlag / Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 10.10.2008, von Sudhir Venkatesh