14.02.2003

Solidarität und Palaver

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Solidarität und Palaver

DER 1998 verstorbene Dichter al-Baraduni bezeichnete das politische Klima im Jemen als nüchtern und sachlich, wie bei einer „Beamtenregierung“. Darauf lässt sich die Situation im Land allerdings nicht reduzieren. Denn auch wenn die allgemeine Stimmung eher einen strengen Ehrenkodex als staatsbürgerliche Grundnormen widerspiegelt, so trägt die Solidarität innerhalb der Stammesgesellschaft (des Nordens) dazu bei, die absolutistischen Machtansprüche der Regierenden in Schach zu halten. Der Einfluss dieser islamisch geprägten Stammesgesellschaft hat jedoch ganz unterschiedliche Auswirkungen. Auf der einen Seite lässt sich nicht abstreiten, dass etliche hemmungslose Geschäftemacher dem Staat so großen Schaden zufügen, dass dieser zu entsprechenden Sicherheitsmaßnahmen genötigt wird. Auf der anderen Seite gelten auf zivilgesellschaftlicher Ebene noch immer traditionelle Grundsätze: Es geht darum, dem Einzelnen zu helfen und sich gegen die menschenfeindlichen Auswüchse der Modernisierung und Urbanisierung zu wehren.

Dies geht mit einer traditionellen Gerichtsbarkeit einher, deren Urteile oft bürgernäher ausfallen als die der staatlichen Gerichte. Die Schutzwirkung dieser „bewaffneten Zivilgesellschaft“ begrenzt einerseits die rechtliche Diskriminierung durch den staatlichen Justizapparat, andererseits die durch regionale Entwicklungsprojekte erzeugte soziale Ungleichheit. Immerhin sind seit der Zeit des „wehrhaften Pluralismus“ in den 1990er-Jahren einige bürgerliche Freiheiten in der Gesellschaft verankert. In der öffentlichen Diskussion herrscht ein freier Ton, den man in vielen Ländern der Region vergebens sucht. Dies zeigt sich im alltäglichen Palaver der maqjals, wo die Jemeniten Qat kauend die Welt verändern, aber auch in der Presse, deren Unabhängigkeit trotz staatlicher Übergriffe nach wie vor gilt. Ein freierer Ton entfaltet sich auch in der Poesie und der Frauenliteratur, die einen riesigen Aufschwung erlebt. Während viele ausländische NGOs sich eher durch die Fähigkeit zum Fundraising bei internationalen Geberorganisationen auszeichnen als durch effektive Projekte, entstehen vor Ort viele karitative und kulturelle Vereinigungen, die sich bemühen, die Mängel der staatlichen Versorgungseinrichtungen zu kompensieren.

Le Monde diplomatique vom 14.02.2003