Emsiges Treiben auf der Sozialabbaustelle
Seit neun Monaten ist die Regierung von Präsident Jacques Chirac und Premierminister Jean-Pierre Raffarin an der Macht, und schon kann sie eine Erfolgsbilanz in Sachen Abbau von sozialen Leistungen präsentieren. Die Liste ist nicht vollständig, zeigt aber einige Tricks und Kniffe der Rechten bei ihrem Vorgehen.
Von MARTINE BULARD
ALS Symbol für die Fortschritte (und das Chaos) der Linksregierung gehört das Gesetz über die Arbeitszeitverkürzung zu den ersten Gesetzen, die von der Regierung Jean-Pierre Raffarin in Frage gestellt wurden.
Angriff auf die 35-Stunden-Woche Offiziell bleibt die wöchentliche Arbeitszeit zwar bei 35 Stunden, aber eine Reihe von gesetzlichen Anordnungen und Vorschriften macht den Weg frei für eine problemlose Überschreitung.
So wird es möglich, die Lohnabhängigen für einen sehr geringen Zuschlag 39 Stunden pro Woche arbeiten zu lassen. Denn das Jahreskontingent an zulässigen Überstunden wurde auf 180 Stunden (vorher 130) erhöht. Das entspricht im Schnitt vier Stunden mehr pro Arbeitswoche. Die Lohnzuschläge, die 25 bis 50 Prozent betrugen, können auf 10 Prozent sinken, wenn zwischen Unternehmern und Gewerkschaften Branchenverträge abgeschlossen werden (es reicht der Abschluss mit einer einzigen Gewerkschaft, auch wenn sie absolut minoritär ist, damit die Entscheidung für die ganze Branche gültig wird). Dieser sehr niedrige Zuschlag wurde in Unternehmen mit 20 oder weniger Lohnabhängigen auch vorher schon angewandt, auf Beschluss der damaligen Arbeitsministerin Martine Aubry.
Zudem hat die Regierung die Reduktion der Unternehmerabgaben auf Löhne, die weniger als das 1,7-fache des staatlich garantierten Mindestlohns Smic betragen, auf alle Unternehmen ausgedehnt – bisher profitierten davon nur jene Unternehmen, die die Arbeitszeit verkürzten. Dies kommt einer Aufforderung zu Tatenlosigkeit gleich in einem Zeitpunkt, wo 46 Prozent der Lohnabhängigen, vor allem in kleinen Betrieben, immer noch keine verkürzte Arbeitszeit haben.
Und wenn sich eine Branche wie das Hotel- und Gaststättengewerbe endlich bewegt und mit Gewerkschaften eine Vereinbarung zur schrittweisen Arbeitszeitverkürzung unterzeichnet, stoppt die Regierung den von einem anderen Teil der Unternehmerschaft angefochtenen Vorstoß, hebt die Vereinbarung auf und kehrt zur offiziellen 41-Stunden-Woche zurück.
Bestehen bleibt dagegen die Berechnung der Arbeitszeit nach dem Jahresdurchschnitt, die seinerzeit als Gegenleistung für die 35-Stunden-Woche präsentiert wurde. Damit weichen die Unternehmen die Arbeitszeiten auf und verordnen in bestimmten Perioden 41 oder 45 Wochenstunden, zu anderen Zeiten Miniwochen, also Kurzarbeit. Viele Lohnabhängige sehen sich der Möglichkeit beraubt, über ihre Zeit selbst zu bestimmen, bekommen keine Überstunden mehr bezahlt und erfahren eine größere Arbeitsbelastung.
Manöver um den Mindestlohn Bis zum 1. Juli 2005 soll der Smic um 11,4 Prozent steigen. Nach Jahren des nahezu völligen Stillstands wirkt diese Ankündigung der neuen Regierung wie eine gerechtfertigte Angleichung. Doch die Realität ist weniger eindrucksvoll.
Zwar hatte die Regierung Lionel Jospin alles unternommen, um beim Übergang zur 35-Stunden-Woche eine klare Anhebung des Mindeststundenlohns zu verhindern. Am 1. Juli 2002 gab es nicht weniger als sechs Smic-Niveaus, von 1 035 bis 1 147,52 Euro, je nach Zeitpunkt der Einstellung oder des Übergangs zur 35-Stunden-Woche. Raffarin hat zwar eine – erfreuliche – Angleichung nach oben beschlossen, aber gleichzeitig eine seit Mai 1968 gültige Vorschrift außer Kraft gesetzt: die automatische Angleichung des Smic an die Entwicklung des Stundenlohns, was im Durchschnitt einer Erhöhung von 1 Prozent pro Jahr entspricht. Damit sinkt die angekündigte Erhöhung von 11,4 Prozent auf 8 bis 9 Prozent. Und dies betrifft nur 46 Prozent der Smic-Empfänger – jene am unteren Ende der Skala.
Dagegen wird die Kaufkraft von 20 Prozent der restlichen Mindestlohnempfänger stagnieren, und mehr als ein Drittel von ihnen wird weniger erhalten als ohne Gesetzesänderung. Anders gesagt: Die Mindestlohnempfänger selbst finanzieren einen Teil der Lohnerhöhung für die Schlechtestgestellten unter ihnen.
Dabei ist der Mindestlohn längst kein Mindestlohn mehr: 3,4 Millionen Lohnabhängige erhalten einen niedrigeren Lohn. Diese working poor erhalten kein bisschen mehr. Bei der Hälfte der zwischen 1993 und 1998 neu geschaffenen Arbeitsplätze lag der Lohn unter dem Smic. Und das geht weiter so.
Erweiterung des Kündigungsrechts Das Gesetz zur sozialen Modernisierung vom 17. Januar 2002 ist für mindestens achtzehn Monate außer Kraft gesetzt worden. Wichtigste Folge: Kündigungen, denen ohnehin schon nicht viele Hindernisse entgegenstanden, werden noch einfacher. So müssen die Unternehmen vor Entlassungen keine Kurzarbeit mehr aushandeln, die Betriebsräte nicht mehr über jede beschäftigungsrelevante Entscheidung informieren und auch keine Untersuchungen über die Sozialverträglichkeit der getroffenen Entscheidungen mehr durchführen. Die Betriebsräte verlieren in Bezug auf Pläne zum Stellenabbau das „Widerspruchsrecht“, das ihnen ermöglichte, einen Mediator einzuschalten und Entscheide für die Dauer von dessen Bemühungen auszusetzen.
In Fällen von Mobbing müssen die Opfer künftig den ganzen Tatbestand beweisen, und es genügt nicht mehr, einzelne Tatelemente zu belegen.
Schließlich hat die parlamentarische Rechte noch beschlossen, die Zusatzleistungen an Lohnabhängige mit befristeten Arbeitsverträgen oder nach Ablauf von Leiharbeitsverträgen um 40 Prozent zu kürzen. Laut der Gewerkschaft CGT bedeutet das für einen Mindestlohnempfänger bei einem Zwölfmonatsvertrag einen Verlust von 554 Euro – 4 Prozent seines Jahreslohns.
Außerdem hat die Regierung einen Erlass herausgegeben, der die Übernahme von bestimmten Aufgaben der Arbeitsmedizin durch Nichtmediziner erlaubt. Ihr Status garantiert aber ihre Unabhängigkeit nicht. Die Gefahr ist groß, dass die Unternehmen solche Beauftragte einstellen, um den Einfluss der Arbeitsmediziner zu schmälern. Das Dekret wurde am 9. Dezember 2002 vom ständigen Ausschuss des Rats zur Vorbeugung gegen Berufsrisiken geprüft und liegt jetzt dem Ministerium für Arbeit und Soziales zur Unterschrift vor.
Weniger Geld für Arbeitslose Auf diesem Gebiet wurden die Reformen, mit denen den Arbeitslosen das Arbeitslosengeld gekürzt und den Lohnabhängigen die Beiträge erhöht werden, von den „Sozialpartnern“ ausgeheckt. Doch der am 20. Dezember 2002 von drei Minderheitsgewerkschaften (CFDT, CFTC und CGC) und dem Unternehmerverband Medef abgeschlossene Vertrag könnte von der Regierung aufgehoben oder aufgeschoben werden. Die mit diesem neuen Abkommen erzielten Einsparungen werden zu einem Viertel von den Arbeitgebern, zu einem Viertel von den Lohnabhängigen und zur Hälfte von den Arbeitslosen aufgebracht. Für Letztere wird der Beitrag für die Zusatzrente von 1,2 auf 3 Prozent steigen. Die Haupteinsparungen werden durch schärfere Selektion der anspruchsberechtigten Arbeitslosen und durch Verkürzung der Unterstützungsdauer erzielt.
So müssen die unter 50-jährigen Arbeitslosen in den letzten zweiundzwanzig Monaten sechs (vorher vier) Monate Beiträge gezahlt haben, um Anspruch auf drei Monate Unterstützung zu haben. Doch viele befristete Arbeitsverträge dauern nur vier Monate. Für jene, die mehr gearbeitet haben (mindestens vierzehn Monate während der letzten zwei Jahre) wird die bisherige Unterstützungsdauer von je nach Fall 30 bis 40 Monaten auf 23 Monate verkürzt – für alle. Das Arbeitslosengeld für Arbeitslose über 55 ist nicht mehr bis zu ihrer Rente gesichert. Dagegen können die Unternehmen sie jederzeit entlassen. Die Gesamtheit dieser Maßnahmen gilt für Lohnabhängige, die seit dem 1. Januar 2003 arbeitslos geworden sind; für die anderen treten die Verfügungen am 1. Januar 2004 in Kraft. Diese Entscheidungen sind umso skandalöser, als die drei Minderheitsgewerkschaften CFDT, CFTC, CGC die Sozialbeiträge, insbesondere den Arbeitgeberanteil, im Jahr 2001 stark gesenkt hatten.
Es ist das siebte Mal in zwanzig Jahren, dass die Vorschriften für die Arbeitslosenunterstützung revidiert werden – jedesmal nach unten. Die Arbeitslosen verfügen über ein immer geringer werdendes Ersatzeinkommen. Betrug es in den Achtzigerjahren noch 90 Prozent des früheren Lohnes bei Entlassungen aus ökonomischen Gründen, waren es im Jahr 2002 weniger als 54 Prozent – Tendenz weiter sinkend. Und immer weniger haben Anrecht auf die Unterstützung: Weniger als die Hälfte der von der Internationalen Arbeitsorganisation anerkannten Arbeitslosen werden unterstützt. In Frankreich bekommen nur 45,8 Prozent der Männer und 39,7 Prozent der Frauen eine Unterstützung; in Deutschland 77,7 und 72,6 Prozent; in Österreich 83,2 und 62,9 Prozent; in Großbritannien 53 und 21,6 Prozent (vgl. Margaret Maruani, „Les mécomptes du chômage“, Paris, Bayard 2002).
Keine Kontrolle öffentlicher Gelder Die Gesetzesänderung, die am 17. Dezember 2002 von der Rechten im Senat und am darauf folgenden Tag von der Nationalversammlung verabschiedet wurde, ist in einer Zeile enthalten: „Das Gesetz über die Kontrolle der staatlichen Subventionen für Unternehmen wird aufgehoben.“ Die 45 Milliarden Euro, die den Unternehmen jährlich an unterschiedlichster Unterstützung gewährt werden, können jetzt also zweckentfremdet werden, ohne dass irgendjemand eingreifen kann.
Zwar hatte das Gesetz die großen Unternehmen nicht daran gehindert, öffentliche Mittel oder Steuervergünstigungen in Anspruch zu nehmen und trotzdem gleichzeitig Arbeitsplätze abzubauen. Doch einerseits hatten Abgeordnete, Gewerkschaften und Verbände eben erst begonnen, mit diesem noch nicht einmal zwei Jahre alten Gesetz zu argumentieren. Und andererseits ist es bezeichnend, dass die Rechte und die Regierung eine Transparenz und Überprüfung der Verwendung öffentlicher Mittel fürchten.
Weniger Steuern für die Reichen Die Einkommensteuern sind 2002 um 5 Prozent gesunken und werden sich in diesem Jahr noch einmal um 1 Prozent verringern. Davon profitieren die Reichsten am meisten. Dem Verband der Steuerzahler zufolge hat ein kinderloses Ehepaar bei einem Einkommen von 80 650 Euro im Jahr 2002 1 154 Euro gespart (was einem monatlichen Mindestlohn entspricht), abgesehen von den mit Geldanlagen verbundenen Steuervorteilen. Das betrifft rund 200 000 Familien. Die 5 000 kinderlosen Paare mit einem erklärten Einkommen von 421 150 Euro haben 10 100 Euro gespart (mehr als acht Monate Bruttomindestlohn). Am anderen Ende der Einkommensskala hat ein Paar, das über nicht mehr als 20 500 Euro verfügt, nur 75 Euro gespart.
Die Regierung ist nicht auf halbem Wege stehen geblieben: Sie hat die Steuerreduktion für Hausarbeit weiter erhöht – was gut gestellten Haushalten am meisten bringt. Die mit Geldanlagen verbundenen Steuervorteile wurden erhöht (zum Beispiel die Steuerbefreiung auf Gewinne aus Wertpapieren bis 15 000 Euro). Gestrichen hat sie dagegen die Steuervorteile für Bausparer, die das Geld für andere Zwecke als für den Kauf einer Wohnung oder eines Hauses verwenden. Diese Maßnahme, die ein Anreiz zum Wohnungsbau sein soll, wäre zu rechtfertigen, wenn die Regierung nicht gleichzeitig den spekulativen Geldanlegern immer mehr steuerliche Anreize gewähren würde. Hauptsächlich betroffen sind aber die Kleinsparer.
Die Armen können zahlen Vorbei sind die Gratisbehandlungen, von nun an müssen Empfänger der staatlichen medizinischen Hilfe den Selbstbehalt und die Krankenhauspauschale selbst zahlen. Gratisbehandlung wird nur den Ärmsten der Armen bewilligt und den Schutzlosesten unter ihnen, wie Ausländern ohne reguläre Papiere oder Franzosen, die aus dem Ausland zurückkommen. Ohnehin gab es staatliche Hilfe nur in einem sehr engen Bereich (Arztkosten, Krankenhausaufenthalt, Medikamente, aber keine Sehhilfen oder Zahnbehandlungen), und für Menschen ohne Papiere war es nicht selbstverständlich, sich an staatliche Stellen zu wenden. Die weitere Einschränkung wird eine dramatische Situation noch weiter verschlimmern.
Organisationen wie Médecins sans Frontières fürchten, dass diese Maßnahme auf die 8 Millionen Anspruchsberechtigten der allgemeinen Krankenversicherung ausgeweitet wird, für die die Krankenhauspauschale und der Eigenanteil bisher teilweise von Zusatzversicherungen übernommen werden. „Die Regierung hat beschlossen, ein hundert Jahre altes Recht abzuschaffen: die kostenlose Behandlung der Ärmsten“, erklärt Médecins sans Frontières. Sie beginnt bei den Ärmsten, bevor sie sich dann die Übrigen vornimmt.
Der soziale Wohnungsbau am Ende? Sozialer Wohnungsbau ja, aber nicht bei mir – dies ist offenbar die Meinung der rechten Abgeordneten aus den reichen Kommunen. Am 13. November 2002 haben sie deshalb den Artikel 55 des Gesetzes zur städtischen Solidarität und Erneuerung aufgehoben. Er verpflichtete Kommunen außerhalb der Hauptstadt mit mehr als 3 500 Einwohnern, Sozialwohnungen im Umfang von 20 Prozent des gesamten Wohnungsbestandes zur Verfügung zu stellen. Gemeinden, die sich weigerten, dieses Programm umzusetzen, drohten Strafen von bis zu 152 Euro für jede fehlende Wohnung.
dt. Sigrid Vagt