14.02.2003

Rum darf nicht mehr aus Kartoffeln sein

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Rum darf nicht mehr aus Kartoffeln sein

DIE tschechische Bevölkerung reagiert distanziert auf die Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Auch wenn Umfragen vermuten lassen, dass sie im Juni mehrheitlich für den Beitritt stimmen werden – sicher ist das nicht. Das Land braucht die EU nicht mehr zur Identitätsstiftung, denn nach dem Ende der Tschechoslowakei haben sich die Böhmen, Mährer und Schlesier in ihrem neuen Staat eingerichtet. Selbst die großen Streitereien mit den Nachbarn werden nicht mehr in einem so schrillen Tonfall geführt wie in den vergangenen Jahren. Die Fortgeltung der Beneš-Dekrete und das Atomkraftwerk in Temelín werden den Beitritt nicht mehr blockieren.

Von ROBERT SCHUSTER *

Wer heute unter Tschechen herumfragt, was sie von der Mitgliedschaft ihres Landes in der Europäischen Union halten, bekommt nur zögerliche Antworten. Die Tschechen sind deutlich weniger von der EU begeistert als etwa die Ungarn, Slowaken oder Polen. Diese Zurückhaltung zeichnet sich schon seit vielen Jahren ab.

Auffällig ist, dass die Tschechen bei der Aufzählung der Gründe für eine Mitgliedschaft die anderswo üblichen Motive wie „Überwindung der Teilung Europas“, „Absicherung gegen künftige neue Ansprüche Russlands“ oder aber „Die Verbesserung des eigenen Lebensstandards“ fast gar nicht erwähnen. „So ist es nun einmal“ – lässt sich die unter den Befürwortern weit verbreitete Emotionslosigkeit zusammenfassen. Sie betrachten den Beitritt als etwas mehr oder weniger Notwendiges, das der Logik der Geschichte folge, sich ohnehin nicht aufhalten lasse.

Die Regierung will sich – im Bewusstsein der mangelnden Leidenschaftlichkeit – die Kampagne vor der tschechischen EU-Volksabstimmung, die für Mitte Juni angesetzt ist, 7,2 Millionen Euro kosten lassen. Einige Details sind bereits durchgesickert: So sollen die knapp sechs Millionen Wähler etwa mit einem Zeichentrickmaulwurf überzeugt werden. Schließlich ist das drollige Tierchen in vielen Ländern des Kontinents bekannt und darf somit als echter Europäer gelten.

Dass die Beitrittsdebatte so wenig Emotionen hervorruft, liegt in der Tradition begründet. Die historischen Landesteile Tschechiens – Böhmen, Mähren und Mährisch-Schlesien, die „böhmischen Länder“ also – waren schon seit dem Mittelalter fester Bestandteil jener europäischen Kulturtradition, auf die sich auch die EU so gern beruft. Selbst vier Jahrzehnte kommunistischen Totalitarismus schafften es nicht, die Kontinuität dieses geistigen Erbes im kollektiven Bewusstsein der Tschechen zu unterbrechen. Doch tschechische Beitrittsgegner verweisen heute gern auf den feinen Unterschied zwischen der Zugehörigkeit zum europäischen Kulturkreis (die nie aufgehört habe zu bestehen) und der Teilnahme an der politischen Union (die sie als „Eintrittskarte nach Europa“ nicht benötigen).

Die meiste Zeit waren die böhmischen Länder in übernationale politische Staatsgebilde eingebunden. Das letzte Beispiel dafür, der Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn, galt zwar lange als „Völkerkerker“, als Instrument zur Germanisierung und Magyarisierung der slawischen Bevölkerungsmehrheit. In den letzten 13 Jahren hat sich jedoch bei manchen Tschechen die Erkenntnis durchgesetzt, wonach die k. u. k. Monarchie mit ihrer recht gut funktionierenden Verwaltung und ihrem großen Binnenmarkt kein schlechtes Modell gewesen wäre, wenn unter den Habsburgern nur mehr politische und gesellschaftliche Freiheit existiert hätte.

Befördert wurde die Skepsis gegenüber dem EU-Beitritt sicherlich dadurch, dass die Tschechen ihr lange Zeit gestörtes Verhältnis zur eigenen Nation überwunden haben. Seitdem sie 1918 ihre Unabhängigkeit erlangten und mit den Slowaken zur Tschechoslowakei vereint wurden, löste sich im kollektiven Bewusstsein die Zugehörigkeit zur tschechischen Nation im Bekenntnis zum tschechoslowakischen Staat auf. Anders die herablassend behandelten Slowaken, die auf die tschechische Zweidrittelmehrheit mit dem Ruf nach mehr Autonomie reagierten.

Als im Januar 1993 nach 75 Jahren die Tschechoslowakei zu bestehen aufhörte, waren die Slowaken auf die neue Situation weitaus besser vorbereitet als die Tschechen, die mit ihrem neuen Staat lange Zeit wenig anzufangen wussten. Selbst die Kurzbezeichnung blieb umstritten: Das verbreitete „Čechy“ bezeichnet nur Böhmen und schließt Mähren und Schlesien aus, während das neue, amtliche „Česko“ weithin als künstlich empfunden wird.

Im kollektiven Selbstfindungsprozess hat der Sport eine identitätsstiftende Rolle gespielt – besonders das Eishockey: Die Euphorie nach dem Gewinn des Turniers bei den Olympischen Winterspielen im japanischen Nagano 1998 gehörte zu diesen Schlüsselmomenten: Dieser Triumph ließ damals wohl kaum eine Gruppe in der tschechischen Gesellschaft gleichgültig und wirkte wie ein kollektiver Befreiungsschlag. Dass die tschechischen Spieler auch bei den Weltmeisterschaften von 1999 bis 2001 Gold holten, bestärkte den Glauben an die eigene Nation zusätzlich.

Mit dem östlichen Nachbarn ist das Verhältnis heute entspannt; auch mit Polen im Norden gibt es keine Probleme. Anders sieht es im Westen und im Süden aus, mit Deutschland und Österreich. Nach der Wende galt es zunächst einmal, das Jahrzehnte lang von oben verordnete Nichtverhältnis zu Deutschland auf neue Grundlagen zu stellen – kein leichtes Unterfangen, nachdem die kommunistische Propaganda 40 Jahre lang die Ängste vor einem angeblichen deutschen Revanchismus geschürt hatte.

Der Bürgerrechtler Václav Havel, der damals kurz vor seiner Wahl zum tschechoslowakischen Staatspräsidenten stand, fand im Dezember 1989 Worte des Bedauerns für die Vertreibung der Sudetendeutschen aus ihrem angestammten Siedlungsgebiet in der Tschechoslowakei nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Dafür erntete er Anerkennung im Ausland, doch im Land selber brach ein Sturm der Entrüstung aus, der Havel viel Sympathie kostete. Über Jahre schwangen vor allem tschechische Populisten die antideutsche Keule, um vor Wahlen an Einfluss zu gewinnen. Nach vielen Querschüssen von beiden Seiten einigten sich Deutschland und Tschechien 1997 auf eine gemeinsame Erklärung. Doch ausgerechnet der wichtigste Konfliktpunkt zwischen beiden Ländern blieb ungelöst: die Eigentumsfrage. Prag vertrat und vertritt die Auffassung, dass die deutsche Bundesregierung mit ihrer Unterschrift unter die Erklärung alle Ansprüche auf das nach 1945 auf Grund der Beneš-Dekrete konfiszierte sudetendeutsche Eigentum fallen ließ. Alle deutschen Regierungen behaupten das genaue Gegenteil, indem sie sich auf die im Grundgesetz verankerte Verpflichtung berufen, das Eigentum der Bundesbürger zu schützen. Dennoch hat die gemeinsame Erklärung ein Netz deutsch-tschechischer Initiativen ins Leben gerufen und für eine gewisse Normalität gesorgt. Ein Teil der tschechischen Ängste ist somit inzwischen verflogen.

Belasteter sind die österreichisch-tschechischen Beziehungen. Da viele nach 1945 vertriebene Sudetendeutsche auch in Österreich eine neue Heimat fanden, erhöhten die Vertriebenenverbände ab dem Jahr 2000 den Druck auf die damals neue Wiener Koalitionsregierung, an der auch die populistische Freiheitliche Partei Jörg Haiders beteiligt war. Die FPÖ verkündete seither, ohne die Aufhebung der Beneš-Dekrete werde Österreich dem EU-Beitritt Tschechiens nicht zustimmen.

Prag reagierte äußerst gereizt und schloss sich als einziges Land unter den Beitrittskandidaten den Sanktionen der EU-14 gegen Österreichs Regierung an. Das wurde wiederum in Wien als ein Affront sondergleichen empfunden und führte zu einer gegenseitigen Verhärtung der Positionen. Und ohnehin sorgt das als unsicher geltende südböhmische Atomkraftwerk Temelín, dessen Schließung österreichische Atomgegner auch schon durch Grenzblockaden zu erzwingen versuchten, seit seiner Planung für Dauerkonflikte. Auch hier zeigten sich die Freiheitlichen auf der Seite der Protestierer.

Mittlerweile ist auf beiden Schauplätzen Ruhe eingekehrt. Tschechien kam unter Vermittlung der Europäischen Kommission den Wünschen Österreichs nach zusätzlichen Sicherheitsvorkehrungen im AKW Temelín nach, und auch die Dekrete sind nicht mehr beherrschendes Thema der bilateralen Beziehungen. Begünstigt hat den Klimawechsel nicht zuletzt das schlechte Abschneiden der Freiheitlichen bei den vorgezogenen Wahlen vom November 2002 in Österreich sowie die neue tschechische Mitte-links-Regierung unter Ministerpräsident Vladimír Špidla, die seit Juli letzten Jahres im Amt ist. Špidlas Amtsvorgänger Miloš Zeman war zwar ebenfalls Sozialdemokrat, aber rabiater: so bezeichnete er im letzten Jahr etwa die Sudetendeutschen pauschal als „fünfte Kolonne Hitlers“.

Im Parlament verfügt das Bündnis aus Sozialdemokraten, Christlich-Demokratischer Volkspartei und liberaler Freiheitsunion jedoch nur über die hauchdünne Mehrheit einer einzigen Stimme. Die vergangenen Monate haben gezeigt, dass Špidla diese knappe Mehrheit nicht immer zur Verfügung haben wird; vor allem in der liberalen Freiheitsunion gibt es einen starken Flügel, dem die Politik des Regierungschefs „zu sozialistisch“ ist. So liegen etwa in der Steuer- und Sozialpolitik zwischen Špidla, dem bekennenden Anhänger des skandinavischen Wohlfahrtsstaatsmodells, und den Liberalen scheinbar unüberbrückbare Welten.

Keine Differenzen unter den drei Koalitionsparteien hingegen gibt es in der Europafrage. Das Kabinett gibt sich betont europafreundlich, was jetzt der erstarkten kommunistischen Opposition zum Vorwurf dient, die Regierung habe in einigen Bereichen zu stark dem Brüsseler Druck nachgegeben. Die andere große Oppositionspartei, die rechtsliberale Demokratische Bürgerpartei (ODS), ist da in ihrer Kritik schon einfallsreicher. Ihr langjähriger Vorsitzender und früherer Ministerpräsident Václav Klaus betreibt seit einigen Jahren einen Euroskeptizismus in Samthandschuhen. Obwohl die Partei nie ein klares Nein zur EU-Mitgliedschaft beschloss und ihre Anhängerschaft zu drei Vierteln den Beitritt bejaht, kritisiert die ODS den Brüsseler Zentralismus und äußert wiederholt die Befürchtung, das kleine 10-Millionen-Volk könnte sich innerhalb der EU „wie ein Stück Würfelzucker im Kaffee“ auflösen.

Durch Veränderungen in der Parteispitze scheint sich die stärkste bürgerliche Kraft Tschechiens aber wieder im Pro-EU-Lager eingefunden zu haben. Der vielleicht wichtigste Befürworter einer EU-Mitgliedschaft Tschechiens wird jedoch dem Land in den kommenden Monaten fehlen: Präsident Václav Havel, der Anfang Februar nach 13 Jahren aus dem Amt geschieden ist und sich wohl wie kein anderer Verdienste um die eindeutige außenpolitische Ausrichtung des Landes zugute halten kann.

Lange Zeit verliefen die tschechischen Beitrittsverhandlungen, teilweise auch aus Mangel an wirklichen Konfliktthemen, am normalen Leben der Bürger vorbei. Die Ergebnisse wurden lange Zeit fast nur in Fachkreisen diskutiert. Empörung kam erst auf, als ruchbar wurde, dass die neuen Normen einigen beliebten tschechischen Alkoholika den Garaus machen könnten. Davon besonders betroffen war der in Tschechien hergestellte Rum, der in der EU nicht aus Kartoffeln und Rumessenz hergestellt werden darf, sondern nur aus Zuckerrohr. Die Aufregung legte sich erst, als die Regierung versicherte, dass es den einheimischen Rum weiterhin geben wird, wenn auch unter anderem Etikett. Erfolgreicher waren die tschechischen Verhandler bei einem weiteren Getränk, dem hochprozentigen Pflaumenschnaps Slivovice (Sliwowitz), den es auch nach dem Beitritt geben wird.

Vor allem zu Beginn der 90er-Jahre stellte sich Tschechien als selbstverliebter mitteleuropäischer Musterschüler dar, dem der Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft ohne nennenswerte Brüche in der Gesellschaft und somit viel besser als Polen oder Ungarn gelang. In Wahrheit aber leitete der Staat wichtige Strukturreformen bei den zu privatisierenden Firmen und Banken entweder nur halbherzig ein oder unterließ sie sogar völlig. Zudem sollte das „tschechische Tafelsilber“, also die Mehrzahl besonders lukrativer Firmen, so lange wie nur möglich im Staatsbesitz verbleiben – oder bei der Privatisierung den heimischen Bietern ein Vorteil eingeräumt werden. Immer wieder wurden die Angebote ausländischer Investoren, die neben Geld auch Know-how mitgebracht hätten, schlichtweg abgelehnt, oder sie scheiterten an den ihnen auferlegten Hürden.

Die Quittung für diese Wirtschaftspolitik kam im Frühjahr 1997. Schwachen Exporten in den Westen standen gewaltige Importe für Konsum und Modernisierung gegenüber. Das Außenhandelsdefizit Tschechiens schoss in die Höhe. Um die dringend benötigten Devisen zu erwerben, sackte die bis dahin recht starke tschechische Krone in den Keller. Die Nationalbank intervenierte zwar, musste aber dem großen Spekulationsdruck der ausländischen Finanzmärkte nachgeben und die Krone entwerten. Entsprechend stieg die Auslandsverschuldung des Staates und vor allem der Unternehmen. Hohe Zinsen sollten zwar das Schlimmste verhüten und die eigene Währung attraktiv halten, würgten aber die Konjunktur ab. Die Folge waren drei magere Jahre. In den Blütezeiten hatte das Land seine Reformen vernachlässigt und in der Krise seine Reformfähigkeit noch nicht bewiesen – die EU-Kommission machte sich ernsthafte Sorgen, ob für den einstigen Klassenprimus Tschechien ein baldiger EU-Beitritt überhaupt verkraftbar war.

Seit knapp drei Jahren geht es jedoch mit der tschechischen Wirtschaft wieder aufwärts, sie wächst mit jährlich etwa 3 Prozent – trotz der Auswirkungen der andauernden Wirtschaftsflaute in Deutschland. Ausländische Investitionen fließen zwar wieder in Milliardenhöhe ins Land, doch der wirtschaftliche Aufschwung brachte keine Verringerung der Arbeitslosigkeit mit sich; die Quote liegt im Durchschnitt bei rund 10 Prozent. Im Land selbst gibt es jedoch enorme regionale und ethnische Unterschiede. Im Großraum Prag fehlen Arbeitskräfte – in den ehemaligen Kohlerevieren Nordböhmens und Nordmährens steigt dagegen die Arbeitslosenquote auf stellenweise 20 Prozent. In diesen Regionen lebt auch ein Großteil der tschechischen Roma: Von der Mehrheitsgesellschaft schwer diskriminiert und von Rechtsradikalen bedroht, finden sie kaum einen Zugang zum Arbeitsmarkt – ebenso wenig wie in der Slowakei oder in Ungarn.

Den Umfragen zufolge werden die Tschechen im Juni dem EU-Beitritt zustimmen. Entscheidend ist jedoch, dass die Überzeugten auch tatsächlich zu den Urnen gehen. Die Tschechen sind realistisch genug, zu wissen, dass eine EU-Mitgliedschaft nicht das Paradies auf Erden bedeutet. Daher bei privaten oder öffentlichen Umfragen die zögerlichen Antworten – und das häufige Schulterzucken. Der Maulwurf hat ein schweres Stück Arbeit vor sich.

Dieser Text erscheint nurin der deutschsprachigen Ausgabe

* Politologe und Journalist in Prag.

Le Monde diplomatique vom 14.02.2003, von ROBERT SCHUSTER