16.01.2004

Strandgut der Offshore-Justiz

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Strandgut der Offshore-Justiz

GUANTÁNAMO BAY ist der Ort, an dem die US-Regierung ihren Anspruch auf Präventivhaft demonstriert. Im „Krieg gegen den Terrorismus“ ist Präventivhaft das zivile Gegenstück zur Präventivkriegsdoktrin. So wie diese das geltende Völkerrecht verletzt, missachtet die Präventivhaft (unter extrem verschärften Haftbedingungen) elementare rechtsstaatliche Grundsätze und damit die Menschenrechte der Gefangenen. Zum Beipiel das Recht des Festgenommenen, zu erfahren, was ihm vorgeworfen wird, zum Beispiel das Recht auf richterliche Überprüfung der Haftgründe (Habeas Corpus), und vor allem das Recht auf Unschuldsvermutung. Dieses Recht hat US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld – oberster Dienstherr der Offshore-Justiz, die das US-Militär auf seinem kubanischen Stützpunkt organisiert – gezielt und mit chirurgischer Präzision zerstört. Am 27. Januar 2002 erklärte er vor den Wachsoldaten von Guantánamo Bay, die Gefangenen seien „die gefährlichsten, am besten ausgebildeten, bösartigsten Killer auf dieser Erde“.

Gegen solche Vorverurteilung können sich die Gefangenen auch deshalb nicht wehren, weil sie keine Bürger der USA sind. Für einige US-Amerikaner arabischer Abstammung, die des Terrorismus verdächtigt werden, zeichnet sich immerhin eine Chance ab, rechtsstaatliche Grundsätze doch noch einzuklagen. Im Juni 2004 ist dazu ein einschlägiges Urteil des Supreme Court in Washington zu erwarten. Auch für einige britische Guantánamo-Insassen bestehen gute Aussichten, unter Auflagen nach England entlassen zu werden. Für diejenigen Gefangenen, deren Regierungen sich nicht der „Koalition der Willigen“ angeschlossen haben, gilt uneingeschänkt, was der Franzose Nisar Sassi aus Camp Delta nach Hause geschrieben hat: „Man könnte diesen Ort so definieren: Du hast hier kein Recht, Rechte zu haben.“

Wer sind diese Menschen ohne Menschenrechte? James Meek ist dieser Frage für die Londoner Zeitung The Guardian nachgegangen. Er hat Juristen interviewt, die Guantánamo-Gefangene zu vertreten versuchen. Und er hat einige der Menschen besucht, die in den letzten Monaten aus dem Lager Delta entlassen wurden – auch dies ohne Angabe von Gründen. Diese Menschen haben auch heute noch keine Ahnung, weshalb sie überhaupt festgenommen wurden. Ihr Schicksal wird am bündigsten von Clive Stafford-Smith beschrieben. Der Anwalt vertritt britische Guantánamo-Gefangene, die er nie besuchen durfte: „Man entführt Menschen, die völlig unschuldig sein können, man fliegt sie um die halbe Welt, gefesselt und mit einer Kapuze über dem Kopf, man hält sie zwei Jahre lang völlig isoliert, und man sagt ihnen nicht, was ihnen vorgeworfen wird.“

Viele dieser Leute hatten schlicht das Pech, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Gegenüber Stafford-Smith hat dies auch einer der US-Ankläger eingeräumt. Er hält 30 Prozent der etwa 660 Offshore-Gefangenen für völlig unbeteiligt. Der Anwalt selbst schätzt ihre Zahl eher auf 70 Prozent.

Hinter diesen Zahlen verbergen sich hunderte von Einzelschicksalen. Da ist zum Beispiel Ibrahim Fausi, ein Bürger der Malediven, der in Karatschi verhaftet wurde, weil er in einer Wohnung schlief, deren Besitzer der al-Qaida zugerechnet wurde. Da ist der Sudanese Sami al-Hadschi, den US-Soldaten in Afghanistan als Kameramann des arabischen Senders al-Dschasira festgenommen haben. Da ist der Russe Airat Wakitow, der unter den Taliban sieben Monate in Dunkelhaft gesessen hatte, weil man ihn für einen KGB-Spion hielt. Er wanderte vom Taliban-Gefängnis direkt in das Verhörzentrum auf der US-Luftwaffenbasis Bagram. Und da ist der Pakistaner Razaq, den die Warlords der Nordallianz als talibanverdächtig ins Gefängnis gesteckt hatten und der ebenfalls direkt von der US Army übernommen wurde. Sein Fall dürfte für viele andere typisch sein. Die Nordallianz überstellte viele ihrer Gefangene an die Amerikaner, um die ausgesetzten Prämien zu kassieren. Für jeden „Taliban“ erhielten sie 5 000, für jeden angeblichen Al-Qaida-Kämpfer 20 000 Dollar.

Ein solches Kopfgeldopfer ist auch der 23-jährige Pakistaner Schah Mohammed. Er hatte bei den Taliban als Bäcker gearbeitet, war im Norden Afghanistans in Gefangenschaft geraten und von Kämpfern der Nordallianz an das US-Militär verkauft worden. In Guantánamo hat er vier Selbstmordversuche unternommen, im Mai 2003 wurde er entlassen. Für den Rückflug nach Pakistan hatte man ihm Handfesseln angelegt. Auf eine Entschuldigung oder gar Entschädigung wartet Mohammed bis heute. Das US-Militär händigte ihm lediglich folgende Bescheinigung aus: „Von dieser Person wurde festgestellt, dass sie keine Bedrohung mehr für die Vereinigten Staaten oder ihre Interessen in Afghanistan oder Pakisten darstellt. Gegen diese Person wird seitens der USA keine Beschuldigung mehr erhoben.“

Umgekehrt kann man das nicht sagen. Mohammed hat den USA etwas vorzuwerfen. Er hat furchtbar Angst um einen Freund, der ihm bei seiner Festnahme helfen wollte. Er lief hinter den US-Soldaten her und schrie: „Der ist nicht von den Taliban!“. Daraufhin wurde er ebenfalls mitgenommen. Er ist bis heute nicht aus Delta Bay zurück. N. K.

Le Monde diplomatique vom 16.01.2004, von N. K.