16.01.2004

Ich seh mal nach, was ich dir bringen kann

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Ich seh mal nach, was ich dir bringen kann

Von JOHN BERGER *

DIE Stadt Genf ist so widersprüchlich und rätselhaft wie ein Mensch. Ich könnte ein Formular mit ihren persönlichen Daten ausfüllen. Staatsangehörigkeit: neutral. Geschlecht: weiblich. Alter: (Diskretion geboten) wirkt jünger, als sie ist. Familienstand: getrennt lebend. Beruf: Beobachterin. Besondere Kennzeichen: durch Kurzsichtigkeit bedingte, leicht vorgebeugte Haltung. Weitere Angaben: sexy und verschwiegen. Nichts von alledem werden Sie in einem Reiseführer bestätigt finden. Wohl aber in bestimmten Büchern von Joseph Conrad, Graham Greene und Jorge Luis Borges.

Am Himmel über Genf – die Wolken: je nach Wind – wobei die zwei berüchtigtsten Winde, die Bise und der Föhn, aus Italien, Österreich, Frankreich oder durch das Rheintal aus Deutschland, den Niederlanden oder von der Ostsee heranwehen. Manchmal kommen sie sogar aus Nordafrika und Polen. Die Stadt Genf ist ein Ort, an dem die Dinge zusammenlaufen, und sie weiß das.

Seit Jahrhunderten haben die Durchreisenden Briefe, Anleitungen, Stadtpläne, Listen und Mitteilungen hinterlassen, damit Genf sie an später eintreffende Reisende weitergeben möge. Die Stadt liest das alles mit einer Mischung aus Wissbegierde und Stolz. Wer das Pech hat, nicht in unserem Kanton geboren zu sein, so schlussfolgert sie, ist offenbar dazu verurteilt, jede einzelne Leidenschaft hier auszuleben, und Leidenschaft ist ein Unglück, das blind macht. Das Gebäude der Zentralpost von Genf war architektonisch so angelegt, dass es der Kathedrale an Eindrücklichkeit nicht nachstehen sollte.

Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts war die Stadt Treffpunkt europäischer Revolutionäre und Verschwörer – heute treffen sich dort die Mafiosi der neuen Weltwirtschaftsordnung. Zu den etwas dauerhafteren Gästen der Stadt zählen das Internationale Rote Kreuz, die Vereinten Nationen, das Internationale Arbeitsamt, die Weltgesundheitsorganisation und der Ökumenische Rat der Kirchen. 40 Prozent der Einwohner sind Fremde. 25 000 Menschen leben und arbeiten hier ohne Papiere. Bei der UNO sind rund 24 Leute den ganzen Tag damit beschäftigt, Akten und Briefe aus der einen Abteilung in die andere zu tragen.

Für Verschwörer und all die geplagten oder selbstzufriedenen Unterhändler bietet die Stadt Genf seit jeher Ruhe, sowie ihren nach Muschelkalk schmeckenden Weißwein, Schnee, herrliche Birnen, Schiffstouren auf dem See und Sonnenuntergänge, die sich im Wasser spiegeln; überdies mindestens einmal im Jahr Raureif auf den Bäumen, arktische Fische aus dem eigenen Gewässer, Milchschokolade, die sichersten Aufzüge der Welt sowie einen Komfort, der so allgegenwärtig, diskret und formvollendet ist, dass es an Lüsternheit grenzt.

Obwohl die Stadt eine direkte Nachfahrin Calvins ist, lässt sie sich durch nichts, was sie hört oder miterlebt, aus der Fassung bringen. Aber sie lässt sich auch durch nichts in Versuchung führen, jedenfalls durch nichts nahe Liegendes. Ihre geheime Leidenschaft (denn natürlich hat sie eine) verbirgt sie gut, nur wenige haben sie je bemerkt – darunter Jorge Luis Borges, der 1955, bereits fast erblindet, zum Direktor der Nationalbibliothek in Buenos Aires ernannt wurde.

Im südlichen Teil, nahe der Stelle, wo die Rhône aus dem See austritt, gibt es ein paar ziemlich enge, kurze, gerade Straßen mit vierstöckigen Gebäuden, die im neunzehnten Jahrhundert als Wohnhäuser gebaut wurden. Aus einigen wurden später Bürogebäude, in anderen befinden sich noch heute Privatwohnungen.

Diese Straßen muten an wie Gänge durch die Bücherschränke einer riesenhaften Bibliothek. Von der Straße aus gesehen ist jede der geschlossenen Fensterreihen wie die Glastüre, hinter der sich ein weiteres Regal des immensen Bücherschrankes verbirgt, und die geschlossenen Eingangstüren aus lackiertem Holz sind die dazugehörigen Katalogkästen. Alles hinter den Mauern dieser Straßen wartet darauf, gelesen zu werden. Ich nenne sie die Archivstraßen der Stadt.

Diese Straßen haben gleichwohl nichts zu tun mit den gewaltigen wirklichen Archiven der Stadt – in denen sich Ausschussberichte, vergessene Aktennotizen, verabschiedete Resolutionen, Millionen von Sitzungsprotokollen, Forschungsergebnisse unbekannter Wissenschaftler, Aufzeichnungen verzweifelter Aufrufe und Geheimakten ebenso stapeln wie die ersten Entwürfe von Redemanuskripten mit ihren handschriftlichen Kritzeleien und ihren Prophezeiungen, die so genau waren, dass man sie begraben musste, mit den Beschwerden über Dolmetscher und mit den umfänglichen Jahresbudgets. Dies alles ist anderswo archiviert, in den Büros der internationalen Organisationen. Was in den Schränken der Archivstraßen der Lektüre harrt, ist privater Natur, ohne Präzedenzfall und fast schwerelos.

Eine dieser Straßen ist die Rue de la Tour-Maîtresse, wo Borges die letzten sechs Monate seines Lebens in einem Hotel lebte. Er hatte beschlossen, nicht in Buenos Aires zu sterben, sondern in Genf, in jener Stadt also, die, wie er gern sagte, eines seiner Heimatländer war.

Siebzig Jahre zuvor, im Sommer 1914 – Borges war damals fünfzehn –, saß seine Familie, zu Besuch aus Argentinien, wegen des Kriegsausbruchs in Genf fest, und Borges ging auf das College Calvin. Die Familie lebte fünf Jahre in der Rue Ferdinand Hodler, ebenfalls eine Archivstraße, nicht weit von der alten Synagoge entfernt. Heute ist das Hotel in der Rue de la Tour-Maîtresse eine Diskothek mit dem Namen Piccadilly Dancing, nebenan befindet sich die Agentur einer Fluggesellschaft.

Und dennoch: Wenn man durch diese Straße geht, ihre Türen betrachtet, zu ihren Fenstern hinaufschaut, in denen Lichtreflexe spielen, dann erahnt man die säuberlich aufgereihten Geheimnisse, die im Verborgenen darauf warten, eines Tages aufgeschlagen und studiert zu werden.

Die Leidenschaft dieser Stadt gilt dem Entdecken, dem Katalogisieren und dem Überprüfen all dessen, was abgelegt wurde. Kein Wunder, dass sie kurzsichtig ist. Und was bringt ihr diese geheime Passion? Was lindert sie? Sie stillt ihre unersättliche Wissbegierde.

Eine Wissbegierde, die nichts – oder nur sehr wenig – mit Neugier oder Klatschsucht zu tun hat. Genf ist weder Concierge noch Richterin. Die Stadt ist eine Beobachterin, fasziniert von der schieren Vielfalt menschlicher Kalamitäten und Tröstungen.

In jeder erdenklichen Situation, und sei diese noch so haarsträubend, schafft sie es, „ich weiß“ zu murmeln und sanft hinzuzufügen: Setz dich, ich seh mal nach, was ich dir bringen kann.

Unmöglich zu erraten, ob dieses Etwas aus einem Bücherregal, einem Medizinschränkchen, einem Kellerloch, einem Kleiderschrank oder einer Nachttischschublade kommen wird. Und gerade die ungewisse Herkunft dessen, was sie bringen wird, macht diese Stadt sexy.

Ich wollte mich in Genf mit meiner Tochter Katya treffen. Ich sollte sie in der Redaktion der Zeitschrift abholen, in der sie arbeitete, und dann wollten wir die Rhône hochfahren, an den Weinbergen entlang. Es war Juni und schon sehr heiß.

„Trinken wir erst noch einen Espresso in dem italienischen Café an der Ecke“, schlug sie vor. Sie fand einen Stuhl in der prallen Sonne. Ich setzte mich in den Schatten. Wir tranken unseren Kaffee und plauderten, dann sagte sie: „Siehst du die Bäume da drüben, dort ist Borges begraben. Komm, gehen wir hin. Wir haben schon so oft davon gesprochen, es aber nie getan.“

Der Friedhof hat weite Rasenflächen und hohe Bäume. Auf den ersten Blick sind die Gräber kaum auszumachen. Es ist, wie der Name schon sagt, ein exklusiver Friedhof: La Cimetière des Rois.

Die Vögel sangen im Laub, wie es sich gehört. Hier liegen die bedeutenderen einheimischen Künstler oder Universitätsprofessoren, deren Grabstätten ein gravitätisches Selbstbewusstsein ausstrahlen. Ihre Geister hüllen sich vermutlich in wallende Gewänder. Eine Drossel trippelte wählerisch übers frisch gemähte Gras. Wir fragten einen Gärtner – er war Bosnier – nach dem Weg.

Wir fanden das Grab schließlich in einer abgelegenen Ecke. Kein wallendes Gewand. Ein schlichter Grabstein und ein mit Kies bedecktes Rechteck, darauf ein Weidenkorb, voll Erde und mit einem dichten, kleinblättrigen, sehr dunkelgrünen Beerenstrauch darin. Ich muss den Namen der Pflanze herausfinden, denn Borges liebte die Exaktheit von Listen; sie gaben ihm die Möglichkeit, beim Schreiben wie eine Drossel genau dort zu landen, wo er wollte. Sein ganzes Leben lang war er skandalöser- oder betrüblicherweise in der Politik orientierungslos, auf der Seite, die er gerade schrieb, jedoch nie.

Ich muss rechtfertigen, was mich verletzt. / Mein Glück oder Unglück ist ohne Belang. / Ich bin ein Dichter.

Er starb, so vermeldet der Grabstein, am 14. Juni 1986.

Wir standen beide schweigend da. Katya trug ein holzkohleschwarz und weiß gemustertes Sommerkleid. Mit seinem nahezu erblindeten Augenlicht hätte er gewiss nur einen verwischten grauen Fleck wahrgenommen. In der Hand hatte ich meinen schwarzen Helm, in den ich meine Handschuhe gestopft hatte.

Dass Motorradfahrer auch an den heißesten Sommertagen leichte Lederhandschuhe tragen, hat einen besonderen Grund. Es heißt, die Handschuhe böten Schutz, falls man stürzt, und außerdem rutschen sonst die schwitzigen Hände am klebrigen Gummi der Griffe ab. Ihr intimerer Nutzen besteht jedoch darin, dass sie die Hände vor dem kühlen Fahrtwind schützen, der zwar in der Hitze sehr angenehm ist, jedoch die Berührungsempfindlichkeit der Haut abstumpft. Motorradfahrer tragen Sommerhandschuhe, um sich die Freuden der Präzision zu erhalten.

Bei dem Strauch, so verriet uns der bosnische Gärtner, handelte es sich um einen immergrünen Buchsbaum (Buxus sempervivens). Ich hätte ihn erkennen müssen! In den Dörfern der Haute Savoie taucht man einen Buchsbaumzweig in Weihwasser, um zum letzten Mal den Leichnam des geliebten Menschen zu segnen, der im Bett aufgebahrt ist.

Als er siebzehn war, hatte Borges in Genf ein Erlebnis, das ihn geprägt haben dürfte. Er sprach erst viel später einmal darüber – mit ein, zwei Freunden vielleicht. Sein Vater hatte beschlossen, dass es höchste Zeit für ihn sei, zum Mann zu werden, und arrangierte für ihn ein Rendezvous mit einer Prostituierten. In einem Zimmer im ersten Stock. An einem Nachmittag im späten Frühjahr. Nicht weit entfernt vom Wohnhaus der Familie. Vielleicht an der Place Bourg du Four, vielleicht in der Rue Général Dufour. Borges könnte die beiden Namen verwechselt haben. Ich würde auf die Rue Général Dufour tippen, denn das ist auch eine Archivstraße. Alle Archivstraßen verlaufen mehr oder minder senkrecht zur Rhône, also parallel zueinander.

Von Angesicht zu Angesicht mit der Prostituierten war der siebzehnjährige Borges wie gelähmt vor Scham, Schüchternheit und wegen des Verdachts, sein Vater sei ein Kunde dieser Frau. Zeit seines Lebens hat sein Körper ihn gequält. Der einzige Ort, an dem er sich auszog, waren seine Gedichte, die zugleich seine Kleider waren.

„Setz dich, ich seh nach, was ich dir bringen kann“, sagte sie sanft. Vielleicht war das, was die Stadt ihm an jenem Nachmittag in der Rue Général Dufour brachte, als sie die Not des jungen Mannes gewahrte und nachdem sie sich einen Peignoir um die weißen Schultern geworfen hatte – Sonnenbräune war damals noch nicht in Mode –, eine herausgerissene halbe Seite aus einem der Archive.

Katya und ich kauerten vor seinem Grabstein nieder. Darauf war ein Basrelief mit Männern, die aufrecht in einem, so schien es, mittelalterlichen Boot standen. Oder waren sie an Land und war es ihrer militärischen Disziplin geschuldet, dass sie so dicht und aufrecht beieinander standen? Sie wirkten wie aus früheren Zeiten. Auf der Rückseite waren weitere Krieger, die entweder Lanzen oder Ruder hielten, zuversichtlich, bereit, zu durchqueren, was vor ihnen lag, mochte es Land oder Gewässer sein.

Als Jorge Luis Borges nach Genf kam, um hier zu sterben, war Maria Kodama bei ihm. Anfang der Sechzigerjahre war sie eine seiner Studentinnen gewesen. Sie hatte angelsächsische und nordische Literatur studiert. Sie war halb so alt wie er. Als sie acht Wochen vor seinem Tod heirateten, zogen sie aus dem Hotel in der Rue de la Tour-Maîtresse in eine Wohnung.

Dieses Buch gehört Ihnen, Maria Kodama. Muss ich Ihnen sagen, dass diese Inschrift Dämmerungen einschließt, die Rehe von Nara, einsame Nacht und bevölkerte Morgen, geteilte Inseln, Meere, Wüsten und Gärten, alles was durch Vergessen verloren geht und sich durch Erinnerung wandelt, die hohe Stimme des Muezzin, Hawkwoods Tod, ein paar Bücher und Stiche?

Wir können nur geben, was wir gegeben haben. Wir können nur geben, was schon den anderen gehört …

Ein junger Mann ging mit seinem Sohn im Kinderwagen vorbei, während Katya und ich rätselten, in welcher Sprache die Worte auf der Stele geschrieben waren. Der Junge zeigte auf die Drossel im Gras, der Vogel stolzierte ein paar Schritte, und der Junge gluckste vor Lachen, weil er sicher war, dass er den Vogel in Bewegung gesetzt hatte. Er zeigte noch einmal auf ihn. Und noch einmal. Dann flog der Vogel davon.

Die vier Worte auf der Vorderseite entpuppten sich als Angelsächsisch. And Ne Forhtedan Na. Sollt nicht furchtsam sein.

Ein Pärchen näherte sich jetzt einer leeren Bank ein Stück weiter am Weg. Sie zögerten, setzten sich. Die Frau setzte sich dem Mann auf den Schoß, wandte sich ihm zu.

Es ist eine Schande, dachte ich, dass wir keine Blumen mitgebracht haben, um sie am Grab niederzulegen. Dann kam mir eine Idee: Anstelle von Blumen würde ich ihm einen der Lederhandschuhe dalassen, die ich in meinem Helm hatte.

Die Erinnerung an einen Morgen. / Zeilen von Vergil und Frost. / Die Stimme von Macedonio Fernandéz. / Die Liebe oder die Gespräche einiger Leute. / Talismane, gewiss, doch nutzlos gegen / das Dunkel, das ich nicht benennen kann, / das Dunkel, das ich nicht benennen darf. /

Mir kamen Zweifel. Es wird aussehen, als hätte ihn jemand aus Versehen fallen gelassen! Ein zerknitterter schwarzer heruntergefallener Handschuh. Er wird nichts bedeuten. Vergiss es. Lieber noch einmal herkommen mit einem Blumenstrauß.

Katya sah mich fragend an. Ich nickte. Es wurde Zeit. Langsam gingen wir zum Tor zurück, keiner sagte etwas.

Als wir beim Motorrad angelangt waren, schnallte ich den zweiten Helm ab, den ich für sie mitgenommen hatte. Ich wollte meinen aufsetzen und nahm die Handschuhe heraus. Einer fehlte.

„Komm, wir gehen zurück, du musst ihn verloren haben“, sagte Katya, „so viel Zeit ist noch.“

Ich erzählte ihr, was mir durch den Kopf gegangen war, als wir an seinem Grab standen. „Du hast ihn unterschätzt!“, entgegnete sie, „hast ihn unterschätzt!“

Ich stopfte den übrig gebliebenen Handschuh in die Tasche, und wir fuhren los. Katya klappte ihr Visier hoch, legte ihr Kinn auf meine Schulter und fragte: „War es der Rechte?“

„Ich weiß nicht“, rief ich.

„Würde mich nicht wundern“, sagte sie.

Ich klappte mein Visier am Helm nicht herunter. In manchen Momenten hört man, wenn das Visier oben ist, in der heranrauschenden Luft ein Flüstern. Die Stimmen der Worte selbst, oder mehrerer Worte, die zu einer einzigen Stimme verschmelzen. Als wir aus Genf hinausfuhren, hörte ich die Stadt mit ihrer gewohnten unverbindlichen, sexy Stimme sagen: Momentchen. Ich seh mal nach, was ich dir bringen kann.

deutsch von Rudolf Hermstein

* Schriftsteller und Kunstkritiker, lebt in Frankreich. Auf Deutsch erschien zuletzt der Essayband „Gegen die Abwertung der Welt“, München (Hanser) 2003.

Le Monde diplomatique vom 16.01.2004, von JOHN BERGER