16.01.2004

Digitale Solidarität

zurück

Digitale Solidarität

AUF Anregung der UNO richtete der Internationale Telekommunikationsverband (ITU) vom 10. bis zum 12. Dezember 2003 in Genf den ersten Weltgipfel über die Informationsgesellschaft aus. In seiner Bedeutung, Wirkung und Aktualität war diese Konferenz für die Kommunikationstechnologie das, was Rio (1992) für Fragen des Umweltschutzes bedeutet hat.

Im Zuge seiner Entwicklung zum Massenmedium hat das Internet weite Teile des politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Lebens umgestaltet. Und zwar so tief greifend, dass man von einer „neuen Internet-Ordnung“ sprechen kann.

Nichts ist mehr, wie es einmal war. Die ständig wachsende Leistungsfähigkeit der Netze hat nachhaltig die Weise verändert, wie weite Teile der Weltbevölkerung kommunizieren, studieren und einkaufen, sich informieren und amüsieren, ihren Alltag organisieren und sich weiterbilden. E-Mail und Webdienste weisen dem Computer die zentrale Stelle in einem durch Allround-Handys aufgepeppten Kommunikationssystem zu, das sämtliche Tätigkeitsbereiche revolutioniert hat.

Allerdings kommt diese Umwälzung in erster Linie den fortgeschrittenen Industrieländern zugute, die auch von den bisherigen industriellen Revolutionen am meisten profitiert haben. Die „digitale Kluft“ zwischen den Reichen und der weit größeren Gruppe der Habenichtse wird immer tiefer. Diese Ungleichheit lässt sich an einem Zahlenbeispiel demonstrieren: 91 Prozent der Menschen, die das Internet nutzen, machen gerade einmal 19 Prozent der Weltbevölkerung aus. Die digitale Kluft verschärft das Nord-Süd-Gefälle ebenso wie den Graben zwischen Arm und Reich (es sei daran erinnert, dass 20 Prozent der Bevölkerung der reichen Länder über 85 Prozent des Welteinkommens verfügen).

Wenn hier nicht gegengesteuert wird, wird die explosionsartige Entwicklung der Cybertechnologien dafür sorgen, dass die Bevölkerung der am wenigsten entwickelten Länder endgültig den Anschluss verliert. Das gilt ganz besonders für die Länder Schwarzafrikas, wo knapp ein Prozent der Bevölkerung das Internet nutzt, darunter nur sehr vereinzelt Frauen.

Wer zu einer Welt mit weniger Ungleichheit beitragen will, den kann dieses Problem nicht kalt lassen. In Genf stand es im Mittelpunkt der Diskussionen, an denen über 10 000 Delegierte aus ungefähr 175 Ländern und rund 50 Staats- und Regierungschefs teilnahmen. Es war der erste Weltgipfel – die Zeiten ändern sich –, zu dem nicht nur die Repräsentanten von Staaten, sondern auch Unternehmenschefs und Vertreter von Nichtregierungsorganisationen eingeladen waren, das heißt die „Zivilgesellschaft“. Gut funktioniert hat das offenbar nicht, denn die NGOs klagten, sie seien eher an den Rand gedrängt und weitgehend nur als Alibi vorgeschoben worden.

Die Schlusserklärung von Genf (siehe die offizielle Webseite des Gipfels: http://www.itu.int/wsis) kann kaum verbergen, dass in den wichtigsten Fragen keine Fortschritte erzielt wurden. Vor allem die Gründung eines „Digitalen Solidaritätsfonds“ wurde nicht beschlossen, weil die reichen Länder keine finanziellen Verpflichtungen eingehen wollten. Senegals Staatspräsident Aldoulaye Wade, ein langjähriger Verfechter dieses Projekts, schlug daher vor, den Fonds durch eine freiwillige Abgabe von einem Euro auf jeden in der Welt verkauften Computer zu finanzieren. Eine andere Anregung ging dahin, auf jedes Telefongespräch einen Cent zu erheben, und mit diesem Geld den „digitalen Zusammenhalt“ der Weltgesellschaft zu stärken.

EIN weiteres heißes Diskussionsthema war die staatliche Kontrolle des Internets. Im Kreuzfeuer der Kritik standen dabei nicht nur autoritäre Länder wie China, sondern auch Fragen des privaten Datenschutzes. Unter Verweis auf die Erfordernisse der Cyber-Sicherheit – zumal seit dem 11. September 2003 – fanden sich die Regierungsvertreter in diesem Punkt jedoch zu keinerlei Zugeständnissen bereit.

Als drittes Hauptthema stand die Regulierung und Verwaltung des Internets auf der Tagesordnung. Derzeit haben hier die Vereinigten Staaten das Sagen, denn für die Verwaltung des Adressraums und der Domain-Namen ist weltweit die Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (Icann) zuständig, die direkt vom US-Handelsministerium und damit von der Regierung in Washington abhängt. Da die Internet-Regulierung Auswirkungen auf so viele Entscheidungen in allen Bereichen des politischen und wirtschaftlichen Lebens hat, ließe Washington hier durchaus mit sich reden, allerdings nur im Rahmen der G 8, wo die acht führenden Industriestaaten unter sich sind.

Zu Beginn des Informationsgipfels überwogen die Stimmen für eine multilaterale, transparente und demokratische Verwaltung des Internets, an der Vertreter aus Politik, Wirtschaft und der „Zivilgesellschaft“ gleichermaßen mitwirken sollten. Viele Staaten, aber auch der Erfinder des World Wide Web, der britische Physiker Tim Berners-Lee, sprachen sich dafür aus, die Verantwortung einer UN-Sonderorganisation zu übertragen. Dies lehnt Washington mit dem Argument, nur die Privatwirtschaft könne garantieren, dass das Internet ein Instrument der Freiheit bleibe, jedoch rundweg ab.

All diese Fragen werden beim zweiten Teil des Gipfelprozesses in Tunis im November 2005 erneut zur Sprache kommen. Sollen wir so lange warten? Vieles spricht doch dafür, lieber heute als morgen einen umfassenden IT-Marshall-Plan in Gang zu bringen.

Le Monde diplomatique vom 16.01.2004, von IGNACIO RAMONET