14.03.2003

Diesseits der Brücke von Narva

zurück

Diesseits der Brücke von Narva

BEI den jüngsten Wahlen in Estland Anfang März erhielten populistische und EU-skeptische Parteien Zulauf. Doch ungeachtet ihrer Zusammensetzung wird auch die neue Regierung am Beitritt im Jahre 2004 nicht rütteln. Während die Gegner argumentieren, es sei an der Zeit, nach 50 Jahren Zwangseingliederung in die Sowjetunion erst einmal unabhängig zu sein, bereitet das Land sich vor: durch Verwaltungs-, Land- und Wirtschaftsreformen – und durch enorme Modernisierung. IT-Vorreiter Estland macht auch die Senioren fit fürs Internet.

Von HANNES GAMILLSCHEG *

Anton Vylitok ist in Kirgisistan geboren. „Doch als ich drei war, übersiedelten meine Eltern nach Narva“, berichtet der 23-jährige Student, „sie wollten näher bei Europa leben.“ Denn Europa begann für die Einwohner der Sowjetunion an der Brücke von Narva, die damals nur eine Stadt und eine Festung teilte: Narva hieß der westliche Teil, Iwangorod der östliche. Heute teilt sie zwei Welten. Narva ist die von einer rapiden Entwicklung geprägte Grenzstadt Estlands, Iwangorod ein verfallender russischer Vorposten, und die quer über die Brücke verlaufende Grenze ist undurchlässig geworden. Wer die Nachbarn am anderen Ufer des Flusses besuchen will, braucht ein Visum und eine Einladung, und nur rasch mal rüberzulaufen, um einen Kaffee zu trinken, ist nicht mehr möglich. Andererseits: Es gibt drüben auch kein Café, in das man sich setzen wollte.

Das Baltikum war das sowjetische Fenster nach Europa, und Estland die Insel der Aufgeklärten im kommunistischen Vielvölkerreich. Estland war nur eine Fährüberfahrt von Finnland entfernt, und wenn die Reise auch nur Privilegierten erlaubt war, so gab es hier doch früher schon als in anderen Teilen der UdSSR Verbindungen zum vergötterten Westen. Dank der sprachlichen Nähe konnten die Esten die Finnen verstehen, und dank der geografischen konnten sie auch schon zu Sowjetzeiten finnisches Fernsehen empfangen. Die Nachrichtensendungen der dortigen YLE hatten für die Esten einen Informationswert wie die „Tagesschau“ in der DDR. So ist der EU-Beitritt für die Esten kein Neubeginn, sondern eine Heimkehr.

In der ersten Republik der Zwischenkriegszeit war Estland ein Agrarland vom Lebensniveau der Niederlande oder Dänemarks. Die sowjetische Besetzung hat die Industrie- und Bevölkerungsstruktur umgekrempelt und die Esten ein halbes Jahrhundert Entwicklung gekostet. Das wollte man einholen, als man 1991 die Unabhängigkeit zurückgewonnen hatte, und tat es in verblüffendem Tempo.

Kein anderes Reformland hat die alten Kader, die zuvor an der Macht waren, so konsequent ausgeschaltet und durch junge Kräfte ersetzt. Kein anderes führte den neoliberalen Kurs so kompromisslos durch, mit dem Verzicht auf Handelsschranken und Subventionen, einem minimalen Staatsbudget und niedrigen Steuern ohne Progression, so dass Großbritanniens Eiserne Lady Margaret Thatcher aufjauchzte und den damals kaum 30-jährigen Premier Mart Laar spontan zu ihrem „Lieblingsschüler“ erkor. Als Estland noch kein Jahr selbstständig und noch tief in die „Rubel-Wirtschaft“ verstrickt war, führte Tallinn eine Währungsreform durch.

Während die baltischen Nachbarn noch mit bunt bedrucktem Spielgeld ohne realen Kaufwert experimentierten, ersetzte Estland den Rubel durch die Kroon und band diese im Verhältnis eins zu acht an die damals noch als Hort der Stabilität geltende D-Mark. Westliche Bankiers, die das Baltikum bereisten, um gute Tipps zu geben und künftige Märkte zu beäugen, warnten vor diesem „übereilten“ Schritt. Heute gilt die rasche Einführung der Hartwährung als Grundpfeiler der estnischen „Tigerwirtschaft“. So war es nur konsequent, dass Estland die erste der Exsowjetrepubliken war, die von der Europäischen Union zu Beitrittsverhandlungen geladen wurde. Dass man diese erfolgreich abschließen würde, stand nie ernsthaft in Frage. „Estland ist immer ein Modellland gewesen“, lobt Michal Krejza, Diplomat an der EU-Vertretung in Tallinn, sein Gastland.

Wer heute durch die schmucke Altstadt bummelt, fühlt sich in einer modernen Metropole. Finanzielle Sorgen scheinen die Kunden im Wellington Pub nicht zu plagen. In der auf britisch hergerichteten Kneipe hängen die Typen in modischen Jacken und gestylter Frisur an der Theke. So viele Drinks sie auch bestellen, zur Brieftasche greifen sie nie. Stattdessen tasten sie vor jedem neuen Glas etwas in ihr Handy, als müssten sie Mama zu Hause Rechenschaft ablegen.

Doch die SMS geht nicht an Mama, sondern via „Bank Card Center“ an den Barkeeper, der ihnen die Cocktails mixt. So einfach ist das. Der Kunde tastet seine persönliche Nummer ein, den Code des Ladens und die Summe, die er zu entrichten hat, dann bekräftigt er die Transaktion mit seinem Sicherheitscode, und Sekunden später hat der Mann an der Kasse den Bescheid im Display seines Handys: Stammkunde Ari hat noch Geld genug auf dem Konto für einmal Nachschenken.

Bezahlen mit Handy ist der neueste Spleen im technikbegeisterten Estland, wo längst auch Taxirechnungen, die Gebühren fürs Parken in Kurzparkzonen oder die Bustickets übers Telefon abgebucht werden. Natürlich kann man die Fahrkarten auch weiterhin am Kiosk kaufen, doch 60 Prozent der Einwohner haben ein Handy in der Tasche, und so verbreitet sich die bargeldlose Alternative in Windeseile.

IT-Vorreiter Estland: Es ist nicht so, dass die EU-Erweiterung ein Gnadenakt der alten Mitglieder wäre, und es ist nicht so, dass dadurch nur Probleme mit veralteten Agrarstrukturen und billiger Arbeitskraft auf die EU zukämen. In so manchem Bereich sind die Kandidatenländer den Alten auch schon eine Nasenspitze voraus. Genauso typisch wie die Pferdewagen in verfallenen Dörfern sind für das Bild der neuen Partner die papierlosen Büros in der estnischen Staatsverwaltung.

Zu ihren Sitzungen kommen die Minister und ihre Helfer ohne Aktenstöße, sondern mit dem schnurlosen tragbaren Computer mit ständiger Internetverbindung, auf dem sie die relevanten Informationen per Mausklick an die Kollegen übermitteln. Da ist es egal, ob dieser am Tisch gegenüber oder bei der UN-Generalversammlung in New York sitzt. Auf einem eigenen Internetportal können die Bürger Gesetzesvorschläge kommentieren, Änderungen und eigene Initiativen einbringen.

Nicht nur Volksschüler lernen am Computer. Auch 100 000 Senioren mit null Vorkenntnis über Datentechnik werden im ambitiösen „Look@world“-Projekt über die Segnungen des Internets instruiert. Zehn große Firmen haben das Unternehmen mit 15 Millionen Euro gesponsert, das dessen Leiter Alar Ehandi das „größte IT-Projekt“ nennt, das je irgendwo durchgeführt wurde: „Wir Esten haben in kürzester Zeit unseren Staat, unsere Wirtschaft und unsere Identität ausgewechselt. Warum sollten wir nicht auch zum Internet überwechseln können?“ Steuererklärungen, Bankgeschäfte, der Gang zum Meldeamt – all das war früher den Launen der unergründlichen Sowjetbürokratie ausgesetzt. Jetzt macht die neueste Technologie den Behördengang zu einem Knopfdruck.

Die Erzählung vom technischen Wunderland ist nur die halbe Wahrheit. Man muss nur die Städte verlassen, um sich in die Nachkriegszeit zurückversetzt zu fühlen. Selbst in der Hauptstadt gibt es verfallene Häuser, in denen noch nie ein Computer stand, und tausende Einwohner, die überlegen müssen, ob sie die Miete zahlen oder etwas zu essen kaufen sollen, weil für beides das Geld nicht reicht. Für soziale Rücksichtnahme gab es im Weltbild der radikalen Reformer lange keinen Platz.

Lepiku, von Tallinn nur eine halbe Autostunde entfernt, ist tiefste Provinz. Hier haben Eduard und Helju Soo ihr Häuschen, sieben Hektar Land, ihre Kühe, ihre Weide. In der schrägen Hütte, die sich Stall nennt, erkennt man auf einen Blick, dass die hiesige Viehhaltung mit europäischen Hygienestandards nicht viel zu tun hat. Da liegen vier Kühe, ein Schwein und 37 Hühner im verdreckten Stroh. Zwei Ferkel grunzen in einem Bretterverschlag, der in Kopfhöhe über der einen Kuh festgezimmert wurde, um den Platz unter dem Dach auszunützen. Im Vorraum stehen gefüllte Wassereimer. Die Wasserleitung ist kaputt.

Von der Landwirtschaft können die Soos nicht leben. Eduard verkauft Milch an die umliegenden Sommerhäuser. Das gibt mehr als die Ablieferung in der Molkerei. Als bei der Landreform die ehemaligen Kolchosen aufgelöst und das Eigentum an die alten Besitzer zurückgegeben wurde, fiel viel Ackerland an Städter, die es nicht nutzen wollen. So bauten sie ihre Datschen dorthin. Der Abbau der Zollschranken gab vielen Bauern den Rest, da die heimischen Produkte durch billige lettische Milch und EU-subventionierte holländische Butter unterboten wurden.

Eigene Zuschüsse bekamen die estnischen Bauern erst wieder, als in den EU-Verhandlungen das Agrarkapitel dran war. „Mit der Anpassung an die EU-Normen begann der Papierkrieg“, seufzt Helju Soo, die nun über die Milchproduktion ihrer Rinder Buch führen muss und sich davor graut, was die EU bringen wird. Beim Referendum im September wollen die beiden mit Nein stimmen. „Wird nichts nützen, denn die Unsrigen können nicht selbstständig sein“, erklärt er. „Erst sagten ihnen die Deutschen, was sie tun sollen, dann die Russen und jetzt die in Brüssel.“

Wir haben eben erst eine Union verlassen, warum sollen wir uns in eine neue stürzen? Das ist das meistgehörte Gegenargument in Estland, und es macht demokratisch gesinnte Politiker zornig. „Als ob es eine Parallele gäbe zwischen unserer Zwangseingliederung in die Sowjetunion und einem freiwilligen Beitritt in eine Union demokratischer Staaten!“, klagt der Sozialdemokrat Andres Tarand. Gerade die älteren Esten sollten sich erinnern, dass die Rote Armee kein Referendum über den Anschluss abhielt. Doch für den Bauern aus Lepiku geht es nicht um Demokratie, sondern um seine Kühe. „Früher, in der Kolchose, durfte ich nur eine haben. Und jetzt will die EU meine Milchquote bestimmen. Warum muss immer jemand anderer über meine Kühe entscheiden?“

Früher kamen die Sowjetkommissäre und prüften, ob alles rechtens war. Jetzt kommen die Brüsseler Beamten, und so wie Moskau weit weg war, ist es nun die EU-Metropole. „Die Leute haben Angst um ihre Selbstständigkeit“, meint die Rektorin Katri Raik: dass andere entscheiden sollen, was sie essen dürfen und wie sie es herstellen. Dass undurchschaubare Regeln Arbeitsplätze kaputt machen. Die EU-Debatte geht an der Bevölkerung vorbei. „Sie gehen in die EU“, beschreibt die Politologin Anu Toots die vorherrschende Einstellung. „Sie“, das sind „die Politiker“.

In Estland herrscht EU-Skepsis, kühl-nordische Zurückhaltung. Nicht von ungefähr vergleichen sich die Esten lieber mit Finnen und Schweden als mit den Letten oder gar den katholisch-südländischen Litauern. Baltische Einheit ist eine politische Konstruktion, eine historische Schicksalsgemeinschaft, kein Lebensgefühl. „Uns Esten begeistert man nicht so leicht für irgendwas“, sagt Tiina Intelmann.

Da sind die 55 bis 60 Prozent, die sich nach heutigen Schätzungen für einen EU-Beitritt aussprechen wollen, eine „bequeme Ausgangslage“, wie der EU-Attaché Krejza sagt. Vor eineinhalb Jahren noch schien die Stimmung auf der Kippe, und selbst der EU-freundlichen Regierung wurde angst und bange angesichts der damaligen Umfragewerte. Als dann aber ein estnisches Duo den Schlagerwettbewerb der Eurovision gewann, war es plötzlich da, das so oft vermisste „Europagefühl“. Zufall oder nicht: Von einem Monat zum nächsten schnellten damals die Ja-Ratings um 5 bis 7 Prozent nach oben.

Und als die Esten im folgenden Jahr als Veranstalter des Grand Prix in Tallinn eine prima Show auf die Beine stellten, bestärkte das viele Esten in dem Gefühl, dass sie doch mithalten können im Reigen der Großen. Sie haben keine Minderwertigkeitsgefühle, genauso wenig wie die Unterhändler, die in den Beitrittsverhandlungen nach objektiven Berechnungen einen glänzenden Deal für ihr Land herausholten. Von Litauen mal abgesehen, das für die Schließung der umstrittenen Atomkraftanlage in Ignalina Extragelder kassiert, schaut beim EU-Beitritt, per capita, für keine der neuen Unionsbürger so viel heraus wie für die Esten.

Natürlich meckern auch jene Bauern, die sich rechtzeitig auf Großbetrieb und internationalen Wettbewerb umgestellt haben, dass sie zehn Jahre auf volle Agrarbeihilfen warten müssen. Aber die estnischen Bauern wissen sehr genau, dass sie auch mit reduzierten Mitteln viel besser dastehen als bisher auf dem ungeschützten Markt. Nur für die Superliberalisten im liberalen Baltenstaat ist der Beitritt mit ihrem vieltausendseitigen Regelwerk ein „Rückfall in sozialistische Zeiten“.

Dass die ungeliebte rechte Koalition unter dem Konservativen Mart Laar, die seit 1999 regiert hatte, zu Jahresanfang 2002 scheiterte, hat nicht zur Popularisierung der EU beigetragen. Weil Laar und Konsorten mit den EU-Ambitionen gleichgesetzt wurden, galt auch der angestrebte Beitritt vielen als Projekt einer Elite, die sich nicht für die Bedürfnisse der Bevölkerungsmehrheit interessiert. Als Glücksfall erwies sich da die zuerst als Fauxpas aufgefasste Wahl des neuen Staatspräsidenten, des 73-jährigen Arnold Rüütel, der als Parlamentsvorsitzender schon in den Jahren des Unabhängigkeitskampfs als Staatsoberhaupt fungiert hatte. Als dann das freie Estland damals seinen ersten Präsidenten wählte, erhielt Rüütel in der Volkswahl zwar die meisten Stimmen, aber keine absolute Mehrheit, weshalb die Wahl ans Parlament überging, in dem der Konservative Lennart Meri den größeren Rückhalt hatte. Zehn Jahre später kam Rüütel dann doch noch dran.

„Ein alter Kommunist“ als Nachfolger des gebildeten, eloquenten, im Westen hoch geachteten Meri, der auch auf Englisch, Französisch, Deutsch, Russisch, Finnisch und, wenn‘s sein sollte, auch auf Latein konversieren konnte? Tallinns Führungsschicht stöhnte entsetzt über die von den Vertretern der Kommunalversammlungen des ländlichen Estland entschiedene Wahl. Jetzt jubeln sie alle über den Glücksgriff. Denn Rüütel „spricht zwar keine Fremdsprachen, aber die Sprache der kleinen Leute“, sagt Michal Krejza, und dass jetzt einer der Ihren im Präsidentenpalast sitzt, flößt vielen mehr Vertrauen in das EU-Projekt ein. Wenn Rüütel sagt, dass Estland die EU braucht, dann glauben sie es ihm eher als den Superreformisten, die das Parlament am Domberg prägen. Und Rüütel sagt es. „Wir waren dagegen, dass Rüütel Präsident wird“, räumt der Konservative Jaanus Reisner ein, „jetzt sind wir froh, dass er es ist.“

Er ist der notwendige Ausgleich zur Regierungspolitik, die seit den ersten Tagen der Unabhängigkeit die EU-Integration stets im Auge hatte, ungeachtet der Zusammensetzung der Kabinette. Regierungsparteien verschwanden, andere tauchten aus dem Nichts auf. Der national-konservativ-liberale Reformkurs blieb stets der Gleiche. Und nur wer voll auf die EU setzt, kann regieren. Zwar wollte sich die Zentrumspartei, die größte im Lande, im jüngsten Wahlkampf mit Rücksicht auf ihre EU-skeptische Klientel noch nicht festlegen, doch niemand zweifelt, dass sie nun nach den Wahlen in die Front der EU-Propagandisten einschwenken wird.

Auch die große russischsprachige Minderheit, immerhin fast ein Drittel der Bevölkerung, ist für die EU. 300.000 Einwohner haben keine Bürgerschaft und kein Wahlrecht. Die Russen sind in den Einkommensstatistiken unter- und in der Kriminalstatistik überrepräsentiert. „Die soziale Spaltung von Esten und Nicht-Esten verletzt die Eintracht der Gesellschaft und die wirtschaftliche Stabilität“, folgerte eine Untersuchung der angesehenen Soziologin Marju Laurustin, aus der russischsprachige Politiker gern zitieren. Da sehen viele Russen die EU als Rettung: Die Union werde nicht zulassen, dass eines ihrer Mitgliedsländer mit „diskriminierenden Gesetzen“ und einer großen Anzahl Staatenloser in den Binnenmarkt mit seinen freien Grenzen eintreten werde.

Jetzt ist der Erwerb der Staatsbürgerschaft an Sprachprüfungen geknüpft, die vor allem für ältere Russen kaum zu bewältigen sind. Doch die Hoffnung, dass die EU Tallinn zur Aufgabe der Bürgerschaftskriterien zwingen werde, wird sich nicht erfüllen. Was die EU an europäischen Standards forderte, hat Estland erfüllt. Doch wenn dem Träger eines estnischen Passes die gesamte EU offen steht, ist die Verlockung, die Mühen für dessen Erwerb doch noch auf sich zu nehmen, groß. So rechnen die Behörden in Tallinn damit, dass die, die sich bisher aus Bequemlichkeit, aus Gleichgültigkeit, aus verletztem Stolz oder weil sie dem estnischen Wehrdienst entkommen wollten, um die Bürgerschaft nicht kümmerten, künftig umdenken werden. „Aus dem Baltikum werden einst die ersten Euro-Russen in die EU kommen“, hatten skandinavische Diplomaten schon vor Jahren prophezeit.

Jetzt sind sie da. Vorausgesetzt, dass das EU-Referendum am 14. September mit einem Ja endet. Eine müde Wahlbeteiligung ist dafür die größte Bedrohung: Wenn die, die unengagiert dafür sind, daheim bleiben, weil „es ohnedies ein Ja wird“, und dann die, die engagiert dagegen sind, die Abstimmung gewinnen. Einen Reserveplan für diesen Fall gibt es in Tallinn nicht. „Daran wollen wir lieber nicht denken“, heißt es auf dem Domberg.

Dieser Text erscheint nur in der deutschsprachigen Ausgabe

* Korrespondent der Frankfurter Rundschau für die nordischen und baltischen Länder, lebt in Kopenhagen.

Le Monde diplomatique vom 14.03.2003, von HANNES GAMILLSCHEG