14.03.2003

Der vergessene Süden

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Der vergessene Süden

AUF dem Kopenhagener Gipfel Anfang Dezember 2002 luden die fünfzehn EU-Staaten ihre kleinen Brüder aus dem Osten ein, Teil der großen europäischen Familie zu werden – eine Übung, die für die zehn Auserwählten ökonomisch wie sozial alles andere als ein Spaziergang ist. Sie werden innerhalb weniger Jahre ihre Zollschranken abbauen, die Normen des 80 000 Seiten starken Regelwerks der EU übernehmen und ihre Märkte ohne jede Einschränkung für Waren, Unternehmen und Banken aus Westeuropa öffnen müssen.

Die Esten werden damit leben können, auf die Bärenjagd zu verzichten, und die Letten werden es ertragen, dass sie nur noch Heringe ab 14 Zentimeter Länge fischen dürfen. Hart wird es dagegen, wenn die vielen tausend Staatsbetriebe schließen müssen, weil sie der Konkurrenz von außen nicht standhalten. Bis heute beschäftigen sie einen großen Teil der aktiven Bevölkerung der zehn Beitrittskandidaten. Auch die Bauern werden auf viele ihrer Traditionen verzichten und sich stattdessen auf die wenigen Produkte spezialisieren müssen, bei denen sie einen natürlichen oder ökonomischen Vorteil gegenüber ihren mächtigen Konkurrenten im Westen besitzen.

Die Regierungen müssen „die Staatsfinanzen in den Griff bekommen“, d. h. im Klartext, sie werden das Staatsdefizit durch die Ausweitung der Mehrwertsteuer auf sämtliche Waren und Dienstleistungen, durch weitere Steuererhöhungen und durch die Begrenzung der öffentlichen Ausgaben für Gesundheit, Wohnungsbau und Schulen abzubauen haben. Und um einer Destabilisierung zu entgehen, werden sie Geschick und eine gehörige Portion Glück brauchen. Ohne Zweifel wird die Erweiterung mehr als eine Regierung zu Fall bringen.

Vor den Beitrittskandidaten haben sich andere Nachbarländer der EU schon einmal zu einem ähnlichen Unterfangen verleiten lassen: die Staaten an der Südküste des Mittelmeers. Unter dem Einfluss der Achse Paris–Rom–Madrid machte die EU einigen Ländern den Vorschlag, eine große gemeinsame Freihandelszone zu schaffen. Tunesien, Jordanien, Marokko und Algerien stimmten zu, andere Länder verhandeln noch mit Vertretern des „EU-Außenministers“ Chris Patten. Auch sie müssen ihre Märkte öffnen, Staatsbetriebe privatisieren, die Wirtschaft umstrukturieren. So steht ihnen nach einer langen Phase der Entkolonialisierung und der Nationalisierung nun die Marktliberalisierung bevor.

Brüssel erkennt die Schwierigkeit der Aufgabe an. Als Übergangshilfe gewährt die EU den Beitrittskandidaten wie auch den Ländern der Freihandelszone Finanzhilfen. Die zehn künftigen EU-Mitgliedsländer sollen in den drei Jahren von 2004 bis 2006 insgesamt 40,4 Milliarden Euro Subventionen erhalten. Die Länder des südlichen und östlichen Mittelmeers bekamen von 1992 bis 1998 insgesamt 753 Millionen Euro Unterstützung für ihre Strukturanpassungen. Wenn man jedoch neben der Gesamtsumme die Bevölkerungszahlen berücksichtigt, wird eine sehr viel größere Diskrepanz deutlich: die Bevölkerung des Südens erhielt einen halben Euro pro Kopf, im Osten werden es 185 Euro sein.

ES kann nicht darum gehen, Brüssel vorzuwerfen, es tue zu viel für die Beitrittsländer. Aber wir sollten nach den Auswirkungen einer Politik fragen, die gerade die ärmsten Länder extrem benachteiligt. Im Osten liegt der Lebensstandard drei- bis viermal so hoch wie im Süden. Fast könnte man meinen, die EU glaube, dass im Süden eben der Markt für einen Aufschwung sorgen, dass dort der Prozess ohne nennenswerte finanzielle Hilfen der Gemeinschaft bewältigt werden solle. In den Beitrittsländern dagegen scheint ein ausgeglicheneres Verhältnis zwischen Markt und Subventionen erforderlich, auch wenn den Regierungen der Länder die Hilfe noch nicht ausreicht.

Ein gutes Beispiel für die ungleiche Behandlung ist die Landwirtschaft. Mit den Beitrittskandidaten verhandelte man auch über deren Einbeziehung in die gemeinsame Agrarpolitik. Ihre Garantiepreise lagen in der Regel deutlich über den Weltmarktpreisen. Bei den Ländern des Südens, die das Freihandelsabkommen unterzeichnet haben, war dagegen nie die Rede davon, dass sie von der Großzügigkeit der gemeinsamen Agrarpolitik profitieren würden. Vielmehr achtete man streng darauf, gerade den auf dem europäischen Markt konkurrenzfähigsten Erzeugnissen nur einen eng begrenzten Zugang zu gewähren.

Ein Beispiel ist das tunesische Olivenöl. Auf sein landwirtschaftliches Haupterzeugnis wurde Tunesien ein zollfreies Kontingent von 40 000 Tonnen zugesprochen. Dieselbe Menge galt bereits vor hundert Jahren allein für den französischen Markt, und damals war Tunesien französisches Protektorat. Jenseits dieses Kontingents, das vor kurzem um 35 Prozent erhöht wurde, kaufen europäische Händler tunesisches Olivenöl zum deutlich unter EU-Niveau liegenden Weltmarktpreis auf und verkaufen es dann mit italienischem Etikett zu astronomischen Preisen an die europäischen Verbraucher weiter.

Schon bald werden die zehn Beitrittskandidaten und die Länder des Südens sich als Konkurrenten in der riesigen Freihandelszone der EU wiederfinden. Doch sie treten nicht mit gleichen Waffen an. Die Beitrittskandidaten werden ihre Aufholjagd mit Subventionen finanziert haben, die anderen dagegen mit Krediten, die auf den Produktionskosten lasten. Das wird natürlich auch die Entscheidung westeuropäischer Investoren beeinflussen, die nach neuen Standorten für ihre Fabriken suchen.

Die Staats- und Regierungschefs der fünfzehn EU-Staaten haben diese Frage in Kopenhagen beim traditionellen Eröffnungsdiner nicht behandelt. Ihre einzige Geste in Richtung Süden war die am 18. Oktober 2002 beschlossene Investitionsfazilität und Partnerschaft Europa–Mittelmeer (Femip). Dabei handelt es sich um eine Erhöhung des Darlehenvolumens für Drittländer um 600 Millionen Euro pro Jahr für 2003 bis 2006, die „die Modernisierung und Entwicklung der Volkswirtschaften dieser Länder finanzieren“ soll. Ein Fortschritt, der angesichts der Bedürfnisse der besagten Länder nur als sehr bescheiden gelten kann.

JEAN-PIERRE SÉRÉNI *

* Journalist, Autor von „Suicide de Bercy“, Paris (Plon) 2002.

Le Monde diplomatique vom 14.03.2003, von JEAN-PIERRE SÉRÉNI