14.03.2003

Festung Amerika

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Festung Amerika

Aber es hätte auch wahr sein können! – Diesen Ausspruch tat Hillary Clinton, Senatorin von New York, nachdem sich herausgestellt hatte, dass die fünf Männer aus Pakistan entgegen der Beschuldigung keineswegs versucht hatten, sich über die kanadische Grenze in die USA einzuschleichen. Sie hatten nie US-amerikanischen Boden betreten, und sie waren auch keine Terroristen, und ohnehin hatte sich alles nur im Kopf eines Mannes abgespielt, der seinen Lebensunterhalt mit dem Fälschen von Pässen verdient.

Auf dem Höhepunkt der Suche nach den imaginären Nichtterroristen des professionellen Lügners beschuldigte Hillary Clinton Kanada, seine Grenzen seien zu nachlässig überwacht. Als sich die Geschichte dann als Mumpitz herausstellte, nahm die Senatorin ihre Anschuldigungen keineswegs zurück. Sie sinnierte vielmehr: Angesichts der durchlässigen kanadische Grenze sei ihr „der üble Scherz nun einmal völlig glaubhaft erschienen“.

Mit anderen Worten, der üble Scherz war ein nützlicher, weil er den US-Bürgern die Unsicherheit klar macht, in der sie tatsächlich leben. Nützlich vor allem auch für die wachsende Anzahl von neoliberalen Ökonomen, Politikern oder Militärstrategen, die eine „Festung Nafta“ errichten wollen – eine kontinentale Sicherheitszone, die von der Südgrenze Mexikos bis zur kanadischen Nordgrenze reicht.

Ein befestigter Kontinent ist ein Block von Staaten, die sich zusammentun, um einerseits aus anderen Ländern günstige Handelsbedingungen herauszuschlagen und andererseits sich durch Überwachung der gemeinsamen Außengrenzen gegen Menschen von außen abzuschotten. Doch um wirklich zu einer Festung zu werden, braucht ein Kontinent ein oder zwei arme Länder, denn innerhalb seiner Mauern muss es ja Leute geben, die für die schweren und die dreckigen Arbeiten zuständig sind.

Der Prototyp des Modells stammt aus Europa, wo die EU sich derzeit nach Osten erweitert und eine Reihe von ärmeren ehemaligen Ostlockländern aufnimmt. Gleichzeitig greift sie zu immer aggressiveren Sicherheitsmaßnahmen, um Migranten aus noch ärmeren Ländern wie Irak oder Nigeria den Zugang zur Union zu verwehren.

In Nordamerika bedurfte es eines einschneidenden Ereignisses, bevor der Festungsgedanke ernsthaft in Angriff genommen wurde. Nach den Attentaten vom 11. September konnten die Vereinigten Staaten nicht einfach an der Grenze zu Kanada und zu Mexiko eine Mauer hochziehen. Übrigens würden das auch, seit es die Nordamerikanische Freihandelszone Nafta gibt, die US-amerikanischen Unternehmer gar nicht zulassen. General Motors zum Beispiel macht geltend, dass der Konzern in jeder Minute, die seine Autotransporter an der Grenze zwischen den USA und Kanada aufgehalten werden, etwa 650 000 Dollar verliert. An der Südgrenze der USA sind zahlreiche Wirtschaftszweige – von der Landwirtschaft bis zur Bauindustrie – auf „illegale“ mexikanische Arbeiter angewiesen. Das ist auch George W. Bush klar, der natürlich weiß, dass die Wirtschaft des US-amerikanischen Südwestens neben dem Öl von einem zweiten Faktor in Gang gehalten wird: von der Arbeitskraft der Immigranten. Würde man über Nacht den Nachschub über die Grenze blockieren, würde die Geschäftswelt auf die Barrikaden gehen.

Was also kann eine Regierung tun, die einerseits knallhart unternehmerfreundlich, andererseits auf innere Sicherheit versessen ist? Das Rezept lautet: Man muss nur die Grenze verschieben. An den Grenzen zu Kanada und Mexiko gibt es nur noch Routinekontrollen, doch der ganze restliche Kontinent, von Guatemala bis zum Polarkeis, wird hermetisch abgeriegelt. Die Regierung verliert über diese Festung Amerika kein Wort, man verwendet lieber den Begriff „Nordamerikanische Region gegenseitigen Vertrauens“. Doch was hier entsteht, ist nichts anderes als eine befestigte Außengrenze unter Aufsicht der USA.

In den letzten Jahren hat Washington die Kanadier und Mexikaner gedrängt, ihre gesetzlichen Bestimmungen über Flüchtlings- und Einwanderungsfragen wie über die Bedingungen der Visavergabe an den US-Gesetzen auszurichten. Und im Juli 2001 hat Mexikos Präsident Vicente Fox den Plan Sur auf den Weg gebracht – ein umfassendes Programm drastischer Sicherheitsmaßnahmen an der mexikanischen Südgrenze, das nach Aussage von Immigrationsexperten gleichbedeutend ist mit einer „Südverlagerung der US-Grenze“.

Gemäß dem Plan Sur hat die mexikanische Regierung hunderttausende Menschen deportiert, die vorwiegend aus den mittelamerikanischen Staaten in Richtung USA unterwegs waren. Ein bizarrer Fall ereignete sich letztes Jahr, als mexikanische Grenzposten eine Gruppe von indianischen Flüchtlingen auf ihrem Weg in die USA aufgriffen und sie mit Bussen in eines der elenden Flüchtlingslager in Guatemala verfrachteten. Die Kosten von 8 Dollar 50 pro festgesetzter Person übernahm Washington.

Präsident Fox hatte gehofft, für diese Bewachung der inoffiziellen US-Südgrenze angemessen entlohnt zu werden. Und für seinen Optimismus schien es auch gute Gründe zu geben. Noch am 6. September 2001 hatte Präsident Bush zugesagt, er werde den Status der rund 4,5 Millionen illegal im Lande lebenden Mexikaner „normalisieren“. Doch nach dem 11. September ist der Status der illegalen Arbeiter noch prekärer geworden.

Damit sind wir bei einer weiteren Erkenntnis über den befestigten Kontinent. Innerhalb der Mauern zu sein ist zwar sicher besser, als draußen zu bleiben, aber es garantiert noch keineswegs vollständig gleiche Rechte. Was Washington anstrebt, ist eine dreischichtige Festungsanlage, in der die USA das Sagen haben, in der Kanada und Mexiko die Wachtposten stellen und die mexikanischen Arbeiter gleichsam ins Dienstbotenviertel verbannt sind. Ganz ähnlich ist die dreischichtige Festung auf der anderen Seite des Atlantik angelegt: Frankreich und Deutschland bilden die Aristokratie; mindere Mitgliedstaaten wie Spanien, Portugal und Griechenland überwachen die südlichen und östlichen Gestade des Mittelmeers; und die neuen Mitglieder Polen, Ungarn, Tschechien oder die Slowakei sind die postmodernen Leibeigenen. Sie dürfen Niedriglohnfabriken aufmachen, in denen Textilien, elektronische Artikel und Autos auf einem Kostenniveau produziert werden, das 20 bis 25 Prozent unter dem Westeuropas liegt. Der neue Osten ist für die EU also das, was die mexikanischen Sweatshops oder maquiladoras für die USA darstellen.

In den riesigen Gewächshauskulturen von Südspanien wirbt man heute zum Erdbeerpflücken nicht mehr marokkanische Migranten an, sondern weißhäutige Polen und Rumänen, während an den Küsten moderne Schnellboote patrouillieren, die mithilfe ihrer Infrarotsensoren die nordafrikanischen Boatpeople abfangen. Und wenn die EU neue Handelsvereinbarungen mit unterentwickelten Ländern abschließt, besteht sie immer häufiger auf der Bedingung, dass zuvor ein „Repatriierungsabkommen“ abgeschlossen wird. Die Botschaft der Euros an die Afrikaner und Südamerikaner lautet also: Wir nehmen eure Produkte ab, so lange wir euch eure Leute zurückschicken können.

Was hier vor unseren Augen entsteht, ist fürwahr eine Neue Weltordnung – und eine, die weitaus darwinistischer ist als die alte Unterteilung in Erste, Zweite und Dritte Welt. Die neuen Teilungslinien verlaufen zwischen den befestigten und den anderen Kontinenten, die ausgeschlossen sind. Für Letztere gilt, dass nicht einmal ihre billige Arbeitskraft gebraucht wird. Diesen ausgeschlossenen Ländern bleibt also nichts übrig, als vor den Festungstoren herumzulungern und um einen halbwegs anständigen Preis für Weizen und Bananen zu betteln.

Unterdessen hat sich innerhalb der Festungen eine neue gesellschaftliche Hierarchie herausgebildet. Deren Aufgabe besteht vor allem darin, die politisch scheinbar so widersprüchlichen Aufgaben, die sich in der Ära nach dem 11. September stellen, miteinander zu versöhnen. Sie muss mit anderen Worten eine Antwort auf folgende Fragen bieten: Wie kann man die Grenzen luftdicht abschließen und dennoch den Zugriff auf billige Arbeitskräften erhalten? Wie kann man den Handel ausweiten und sich dennoch die Wählerstimmen der ausländerfeindlichen Kräfte sichern? Wie kann man die Grenzen für die Geschäfte öffnen und gleichzeitig für die Menschen schließen? Die Antwort ist ganz einfach: Zuerst wird der Bereich der eigenen Festung ausgeweitet, und dann wird nach außen dicht gemacht.

deutsch von Niels Kadritzke

Die Kolumne von Naomi Klein erscheint von nun an regelmäßig in der deutschsprachigen Ausgabe

* Journalistin und Autorin des internationalen Bestsellers „No logo!“, München (Riemann) 2002. Zuletzt erschien „Über Zäune und Mauern. Berichte von der Globalisierungsfront“, Frankfurt (Campus Verlag) 2003.

Le Monde diplomatique vom 14.03.2003, von Naomi Klein