Im Bauch des Sparschweins
Warum Sparen keine Vorsorge für die Zukunft ist und acht Vorschläge, es anders zu machen von Heiner Flassbeck und Friederike Spiecker
Die Finanzkrise bringt eine einfache Wahrheit zutage: Wir verstehen nicht, was Sparen bedeutet, und wir verstehen nicht, was schiefgehen kann, wenn wir mit einer falschen Vorstellung vom Sparen Wirtschaftspolitik machen.
Stellen Sie sich vor, Sie hätten bei normalem Verbrauch in Ihrem monatlichen Haushaltsbudget einen Überschuss Ihrer Einnahmen über Ihren Ausgaben. Dann sparen Sie und wollen das vermutlich auch, weil Sie ja nicht wissen, ob Sie auch später noch so gut dastehen werden wie heute. Sie wollen Ihr „überschüssiges Geld“ (häufig Geldvermögen genannt) erst zukünftig und nicht schon heute für Konsum verwenden. Also vertrauen Sie es jemandem an (einer Bank, die es weiterverleiht, oder direkt einem Kreditsuchenden), von dem Sie glauben, dass er Ihnen pünktlich Zinsen zahlt und am Ende der Laufzeit des Kredits die ganze geborgte Summe zurückgibt. Für Sie sieht es so aus, als könnten Sie auf diese Weise für Ihre Zukunft vorsorgen, als habe Ihr Geld eine eigenständige Wertaufbewahrungsfunktion. Das ist der zentrale Irrtum. Warum?
Die Güter, die Sie spiegelbildlich zu Ihrem erarbeiteten Geldeinkommen produziert und spiegelbildlich zu Ihrer Geldersparnis nicht verbraucht haben, sind nämlich von Ihrem Schuldner verwendet worden, entweder zu Konsum- oder Investitionszwecken. Die Idee, man könne mit Sparen einen Teil des Einkommens in Geldform einfrieren, um damit in Zukunft quasi eingefrorene Güter zu kaufen, ist irrig.
Ersparnisse sind lediglich verbriefte Anrechte auf zukünftige, noch gar nicht existierende Güter. Diese Güter müssen erst von den Schuldnern in Zukunft erarbeitet werden. Von den heute produzierten Gütern steht nichts mehr irgendwo „gespart“, unbenutzt herum. Dieser logische Zusammenhang lässt sich auch mit der Formel ausdrücken: Die Summe des Geldvermögens in der Welt ist immer null. Denn jeder Ersparnis in Geldform steht eine Schuld in Geldform gegenüber.
Die Sparer sind Gläubiger, also Leute, die glauben, dass eine Rückzahlung ihres verliehenen Einkommens in Zukunft erfolgen wird. Ob ihre Schuldner tatsächlich imstande sind, Zinsen und Tilgung zu zahlen, ob und in welcher Höhe den Ersparnissen also in Zukunft Güter gegenüberstehen, hängt von der künftigen Leistungsfähigkeit des Kapitalstocks und der künftigen Fähigkeit der Schuldner ab, mit diesem Kapitalstock Güter zu erzeugen. Sinkt die Produktivität des Faktors Arbeit, weil der Kapitalstock schrumpft, nimmt auch die Zahlungsfähigkeit der Schuldner ab. Wenn die Sparer oder die Vermittler des Kredits – die Banken – die Fähigkeit der Schuldner, künftig Einkommen zu erzielen, überschätzt haben, sind die Ersparnisse weniger wert als ihr heutiges reales Spiegelbild, die verliehenen Gütereinheiten.
Viele glauben, wie etwa die Rentendiskussion zeigt, man könne per Saldo (über alle Wirtschaftssubjekte hinweg gerechnet nach Abzug aller Schulden) Arbeitsleistung in Form von Geld in die Zukunft verschieben. Diese Annahme ist falsch. Für das Ersparte bekommen die Sparer in Zukunft höchstens so viele Gütereinheiten zurück, wie die Schuldner über ihr eigenes Existenzminimum hinaus aus dem dann vorhandenen Kapitalstock unter Einsatz von Arbeit herausholen. Ob der künftig vorhandene Kapitalstock größer ist als der gegenwärtige, ob also die Aussichten auf Tilgung und Zinsen für die Sparer gut sind, ist ungewiss, weil es keinen Automatismus gibt, der Geldersparnis in Sachinvestitionen verwandelt. Genau das aber ist uns jahrelang von den Ökonomen suggeriert worden, die behaupten, dass jede Ersparnis eine Investition in gleicher Höhe nach sich zieht.
Zwar sind am Ende jeder Periode im System der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung Ersparnis und Investition definitionsgemäß identisch. Das liegt aber nur daran, dass Geldersparnisse, die von Schuldnern für Konsumgüter verwendet wurden, nicht als Investitionen auftauchen. Diese Geldersparnisse sind deshalb nicht verloren, aber sie stecken nicht im Kapitalstock. Die fleißigen Sparer glauben jedoch: Je höher meine private Sparsumme, umso besser habe ich für meine Zukunft vorgesorgt. Das muss nicht der Fall sein. Eine große Menge an gespartem Geld kann auch ein Zeichen dafür sein, dass die Schuldner in Zukunft an die Grenze ihrer Zahlungsfähigkeit geraten werden. Und wenn sie die angehäuften Schulden nicht mehr bedienen können, sinkt der Wert der Ersparnisse.
Haben bankrotte Schuldner ihre Kredite in Konsumgüter gesteckt, wird der Sparer später nichts mehr in der Hand haben, weil alles verfrühstückt ist. Haben bankrotte Schuldner für das geliehene Geld langlebige Konsum- oder Investitionsgüter gekauft, bleibt den Gläubigern immerhin die Verwertung dieser Güter. Das schützt sie aber keineswegs vor Verlusten. Wenn nämlich viele Schuldner gleichzeitig insolvent werden, bieten viele Sparer gleichzeitig die ihnen verbliebenen Maschinen, Grundstücke oder Häuser zum Verkauf an, um wieder an ihr Geld zu kommen. Das senkt den mit diesen Gütern erzielbaren Preis, also den Wert der Ersparnisse.
Wann aber geraten viele Schuldner gleichzeitig in die Zahlungsunfähigkeit, wann werden Kredite reihenweise faul und geraten die Banken, die sie vergeben haben, ins Wackeln? Zwei Begründungsketten sind hier denkbar. Entweder gibt es einen konjunkturellen Abschwung, oder es stellt sich heraus, dass viele Kredite unseriös (zum Beispiel in Verbindung mit einer Spekulationsblase) vergeben wurden, also ohne realistische Abwägung, ob die Schuldner die eingegangenen Verpflichtungen künftig überhaupt erfüllen können.
Von den Kreditpraktiken in den USA hat Deutschland jahrelang profitiert
Letzteres ist die Ursache der Immobilienkrise in den USA. Denn die vergebenen Kredite orientierten sich nicht an der Fähigkeit der Schuldner, ein ausreichendes Einkommen zu erzielen, sondern wurden mit Immobilien abgesichert, deren Bewertung durch Spekulation überhöht war. Wenn der Häuslebauer allein mit der erworbenen Immobilie haftet, wird er zum Schuldenmachen angeregt. Zudem wurden viele Spekulanten zum Kasinospiel durch lasche Vorschriften geradezu eingeladen – etwa durch mangelhafte Eigenkapitalerfordernisse der Banken, durch die Freiheit, auf Währungen und so gegen ganze Länder zu wetten (carry trade), oder durch die Steuerbefreiung von Veräußerungsgewinnen, die in Deutschland Private-Equity-Fonds zum Spekulieren mit mittelständischen Firmen antrieb.
Die Wirtschaftspolitik hat jedoch nicht nur durch mangelnde Aufsicht und forcierte Deregulierung der Finanzmärkte zu dem beschriebenen Überschuldungsproblem beigetragen. Vor allem in fünf Staaten wollte die nationale Wirtschaftspolitik die Wettbewerbsfähigkeit des gesamten Landes gegenüber anderen Volkswirtschaften aktiv fördern, was zur Überschuldung anderer Länder führte. Von den unseriösen Kreditpraktiken der USA haben jahrelang hauptsächlich Deutschland, Japan, China sowie die Schweiz und die Niederlande profitiert, wie sich an ihren Leistungsbilanzüberschüssen ableben lässt. China ist dabei ein Sonderfall, weil das Land zur Exportbasis für Unternehmen aus anderen Ländern umgebaut wurde und die gebotene Chance zum raschen Aufholen nutzte.
Die vier anderen Länder können diese Rechtfertigung nicht heranziehen. Sie lenkten mit ihrer langjährigen Strategie des Lohndumpings (teilweise unterstützt von einer Abwertung ihrer Währung) die boomende Nachfrage der USA auf ihr Güterangebot, das konkurrenzlos preisgünstig war im Vergleich zu anderen Anbietern und vor allem im Vergleich zu den USA selbst. Dadurch konnten sie enorme Leistungsbilanzüberschüsse (auch gegenüber anderen Ländern) aufbauen.
In Deutschland funktionierte das dank der beharrlich propagierten Ansicht vieler Wirtschaftsexperten, nur eine permanente Steigerung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit durch Lohnzurückhaltung könne die Zukunft des Landes und seiner Arbeitsplätze sichern. Auch die Hüterin des Geldes und der Stabilität, die Europäische Zentralbank (EZB), lobte die deutschen Verhältnisse nicht nur jahrelang als vorbildlich, sondern drängt bis auf den heutigen Tag Euro-Staaten wie Spanien dazu, dem deutschen Beispiel zu folgen und ihre Wettbewerbsfähigkeit durch Lohndumping zu erhöhen.
In Deutschland wurden unter großem politischen Druck jahrelang Lohnabschlüsse unterhalb des Produktivitätszuwachses – plus Zielinflationsrate der EZB – durchgesetzt und der Flächentarifvertrag durch Öffnungsklauseln weitgehend zerstört. Die gesetzliche Regelung von Leiharbeitsverhältnissen und die Verschlechterung der Transferansprüche von Arbeitslosen verstärkte auf diese den Druck, Arbeit zu beliebig niedrigen Hungerlöhnen anzunehmen. Jeder Politiker, der behauptete, diese oder jene Maßnahme senke die Lohnnebenkosten, galt als Retter der Arbeitslosen, die ja bei sinkenden Löhnen scharenweise eingestellt würden. Ob im Gefolge solcher Maßnahmen die inländische Nachfrage und der Import sinken würden, interessierte niemanden.
Das Denken in gesamtwirtschaftlichen Kreisläufen ist unmodern, obwohl es auf schlichter Logik beruht. Die modernen Wirtschaftspolitiker betrieben die „Flexibilisierung des Arbeitsmarktes“, wie man die Umverteilung zulasten der arbeitenden Bevölkerung elegant umschrieb. Seit 2005 feierten sie jede Verbesserung der Arbeitsmarktbilanz als Erfolg einer dynamischen Reformpolitik.
Zu dieser Strategie des Gürtel-enger-Schnallens auf dem Arbeitsmarkt kam ein von fast allen Ökonomen unterstützter Sparfetischismus. Nur ein ausgeglichener Staatshaushalt, am besten gleich ein schuldenfreier Staat, könne langfristig das Wachstum stützen: also runter mit den öffentlichen Ausgaben, egal ob der öffentliche Kapitalstock verrottet, das Angebot an öffentlichen Gütern zurückgeht und damit die Rentabilität des privaten Kapitalstocks sinkt oder die Chancengleichheit im Bildungssystem völlig verloren geht.
Doch wohin mit dem ersparten Einkommen? Einen realen Sachkapitalstock hierzulande aufbauen? Bei den – im Vergleich zu ausländischen Finanzanlagen und Spekulationsmöglichkeiten auf Devisen- und Rohstoffmärkten – so mickrigen Renditen? Die Investmentbanker machten ja vor, wie man zügig Geld verdient, ohne zu arbeiten.
Alle Befürworter einer kapitalgedeckten privaten Rentenversicherung hatten von einem zusätzlichen Kapitalstock gesprochen, der durch die zusätzliche private Ersparnis aufgebaut werden könne und die Wirtschaft auf einen spürbar höheren Wachstumspfad katapultieren würde. Warum sollte dieser Kapitalstock nicht im Ausland stehen dürfen? Da lag es nahe, das durch Arbeit mühsam verdiente Geld der Sparer auf die Reise zu schicken, und zwar möglichst ohne finanzmarkthemmende Kontrollen.
Das Schöne an dem Märchen von den an den internationalen Finanzmärkten erzielbaren Traumrenditen war, dass man den Druck auf die inländischen Löhne rechtfertigen konnte. Wenn man Kapital, insbesondere Eigenkapital nur bekommt, wenn es mit den von Josef Ackermann geforderten 25 Prozent weit jenseits realistischer gesamtwirtschaftlicher Wachstumsraten entlohnt wird, dann bleibt halt für die Löhne nichts mehr übrig. Dem Arbeitnehmer, der das nicht einsieht, kann man mit dem 1-Euro-Job zum Harken der öffentlichen Parkanlagen drohen. Zudem war der Kapitalexport ohnehin das notwendige Gegenstück zu unseren Leistungsbilanzüberschüssen.
Ein fast perfektes System. Dumm nur, dass sich seine innere Logik jetzt rächt. Wenn nämlich die Schuldner das Geld verzocken, statt es zu investieren, kommt es früher oder später ans Tageslicht, und dann haben die Gläubiger das Nachsehen. Zwar hatte man angesichts der immensen Auslandsverschuldung der USA hinter vorgehaltener Hand ein Gewitter vorausgesagt. Aber man glaubte, dass es sich „nur“ auf den Devisenmärkten entladen würde: Der US-Dollar würde abstürzen, der Euro in die Höhe schnellen.
Diese Suppe – so die deutsche Rechnung – würden alle Euroländer gemeinsam auslöffeln müssen, so dass der deutsche Schaden geringer sein würde als der bislang erzielte deutsche Vorteil. Denn alle Länder der Eurozone zusammen weisen bis heute eine ungefähr ausgeglichene Leistungsbilanz auf. Noch dazu würden deutsche Unternehmen dann innerhalb der Eurozone mit der noch mehr geschwächten industriellen Basis der Partnerländer leichtes Spiel haben. „Deutschland ist gut aufgestellt“, frohlocken die Berliner Regierung und das Arbeitgeberlager bis heute.
Jetzt aber stellt sich heraus, dass nicht nur die Häuslebauer in den USA ihre Schulden bei ihren Banken nicht bedienen können, sondern dass diese Schulden dank des US-amerikanischen Leistungsbilanzdefizits und dank der geheimnisvollen Verbriefung solcher Schulden rund um den Globus gestreut wurden und vor allem Japanern, Chinesen, Schweizern, Niederländern und Deutschen gehören. Den Exportboom haben wir Deutschen uns also durch Gürtel-enger-Schnallen vom Munde abgespart und den Amerikanern zu günstigen Preisen unsere Güter geliefert. Als Gegenleistung haben wir Papiere bekommen, die sich jetzt als wertlos erweisen.
Mit der Krise aber, behaupten unsere Politiker, haben wir ursächlich nichts zu tun. Es seien nur die von Amerikanern und Briten vehement durchgesetzten mangelhaften Spielregeln auf den Finanzmärkten, die das Chaos herbeigeführt haben. Mit einer seit langem geforderten strengeren Aufsicht, härteren Eigenkapitalvorschriften und mehr Transparenz ließen sich solche Krisen vermeiden.
Das klingt zwar wenig glaubwürdig, denkt man an die Deregulierungsbemühungen der vergangenen Jahre. Viel gravierender aber ist: Mangels Einsicht in volkswirtschaftliche Zusammenhänge begreifen die Verantwortlichen offenbar nicht, dass die Wiederherstellung des Vertrauens in die Bankenwelt zwar eine notwendige, aber keinesfalls hinreichende Bedingung dafür ist, die Realwirtschaft vor dem Kollaps zu bewahren. Die Abwendung eines realwirtschaftlichen Kollapses ist aber die eigentliche Voraussetzung für die Sicherung der privaten Ersparnisse der Bürger. Was nützen staatliche Garantien, wenn durch sie zwar vorerst ein Run auf die Banken und damit eine weitere Verschärfung des Liquiditätsengpasses in der Wirtschaft verhindert werden kann, die Ersparnisse aber dennoch, aufgrund eines konjunkturellen Absturzes, enorm an Wert einbüßen? Der Garantiefall tritt dann für den Staat nur später ein. Das mag unter kameralistischen und wahltaktischen Gesichtspunkten aktuell vorteilhaft sein, eine verantwortliche Politik ist es nicht.
Nur wenn es gelingt, die Realwirtschaft vor einem großen Einbruch zu bewahren, werden die Schuldner von heute, vor allem die seriösen, auch morgen noch einen Arbeitsplatz haben, an dem sie für die Bedienung ihrer Schulden Einkommen erzielen. Und nur bei Ausbleiben einer tiefen Rezession wird die Auslastung des Kapitalstocks insgesamt – egal wem er gehört – so erträglich sein, dass auch alle nicht verschuldeten Wirtschaftssubjekte einschließlich der Sparer ein reales Einkommen erzielen können, das nicht weit unter ihrem bisherigen liegt.
Wie muss die Abfederung der Realwirtschaft aussehen? Erstens muss die Geldpolitik endlich beherzt die Zinsen senken und dafür ihre Geldmengenideologie über Bord werfen. Eine rasche und starke Zinssenkung ist unerlässlich, weil nur das in der gegenwärtigen Lage Investoren dazu bewegen kann, realwirtschaftliche Risiken in Form von Sachinvestitionen einzugehen. Es muss unter Berücksichtigung des Marktrisikos lohnender sein, mit seinem Geld etwas Reales anzufangen, statt es nur auf die Bank zu tragen, um die Zinsen zu kassieren. Diese Regel galt schon immer. In der Krise heute muss der Abstand zwischen erwarteter Sachrendite und sicherer Geldrendite aber erheblich größer sein. Das Platzen der spekulativen Preisblasen hat praktisch alle Preise so durcheinandergeschüttelt, dass eine Kalkulation von Sachrenditen äußerst schwierig und noch riskanter als zu „normalen“ Zeiten geworden ist. Dieser ungewöhnlich großen Unsicherheit muss die Geldpolitik mehr entgegensetzen als in einem handelsüblichen Abschwung. Die US-Notenbank hat wie in der vorherigen Krise schneller und mutiger reagiert als die EZB.
Zweitens muss sich der Staat in nennenswertem Maße an den Banken beteiligen, um einerseits abzuwenden, dass Einzelne und schließlich per Dominoeffekt alle bankrottgehen, so dass die Transaktionsfunktion des Geldes völlig zum Erliegen kommt und die Realwirtschaft aus purem Liquiditätsmangel einbricht. Andererseits muss der Staat durch den unmittelbaren Zugriff auf die Banken verhindern, dass das Kasinospiel weitergehen kann, also Geld in die nächste spekulative Blase fließt. Das heißt: Kredite müssen an Sachinvestoren mit ausreichend Eigenkapital gehen.
Der Realwirtschaft hilft nur ein schnelles Konjunkturprogramm
Drittens muss der Staat ein massives Investitionsprogramm auflegen, um die bereits eingetretenen Schäden in der Realwirtschaft zu begrenzen und der sich daraus entwickelnden Deflation zu begegnen. Wer glaubt, nur mit einer staatlichen Liquiditätsrettungsaktion auskommen zu können, der irrt. Und wer glaubt, noch eine Weile zuwarten zu können, bis dieser Irrtum so offensichtlich geworden ist, dass man ein Konjunkturprogramm ohne politökonomischen Gesichtsverlust auf die Beine stellen kann, der unterschätzt den Zeitfaktor, der beim Herannahen einer Deflation so entscheidend ist.
Hat das Statistische Bundesamt die Deflation erst einmal erfasst, ist die Wirksamkeit der Geldpolitik bereits am Ende, und die Finanzpolitik muss das Ruder komplett aus eigener Kraft herumreißen. Das wird dann noch teurer und weit unsicherer sein als das, was heute gestemmt werden muss. Das Beispiel Japan sollte eine Warnung sein. Heute ist das Problem aber noch größer, weil nicht nur ein einzelnes Industrieland, sondern alle zusammen kurz vor der Deflationsspirale stehen. Steuersenkungen werden angesichts der Verunsicherung der Privathaushalte nur von einer steigenden Sparquote absorbiert und sind deshalb wirkungslos. Und auf keinen Fall dürfen die Konjunkturhilfen irgendwo im Staatshaushalt „gegenfinanziert“ werden, weil man sonst nur ein Loch aufreißt, um ein anderes zu stopfen.
Viertens ist ein Pakt mit den Tarifpartnern zu schließen. Die Gewerkschaften und Arbeitgeber akzeptieren ab sofort flächendeckend Lohnabschlüsse in Höhe der im Durchschnitt der Gesamtwirtschaft normalen Produktivitätssteigerung plus Zielinflationsrate der EZB (das müssen weiterhin 2 Prozent sein!), also etwa plus 3,5 Prozent. Die Gewerkschaften verzichten darauf, sich für die jahrelange Umverteilung zulasten der Arbeitnehmer jetzt mit höheren Abschlüssen und Streiks zu revanchieren. Als Gegenleistung nimmt die Politik die oben erwähnten Maßnahmen zur „Flexibilisierung“ des Arbeitsmarkts zurück. Eine größere Planungssicherheit und damit ein erweiterter Zeithorizont der privaten Haushalte wird die Verunsicherung und Destabilisierung des privaten Sektors verringern, was entscheidend ist, wenn man die Lage beruhigen und Vertrauen zurückgewinnen will.
Fünftens muss der Stabilitätspakt zwischen den Euroländern abgeschafft werden. Er wird ohnehin auf Jahre hinaus faktisch außer Kraft gesetzt sein. Aber jetzt muss man ganz grundsätzlich die Sparideologie aufkündigen und den erforderlichen Paradigmenwechsel auch dadurch glaubwürdig machen, dass man unsinnige wirtschaftspolitische Ziele ad acta legt. Das ist natürlich ein heißes Eisen, weil die Politiker den Bürgern erklären müssen, dass sie jahrelang falschgelegen haben.
Sechstens muss die institutionelle Grundlage der EZB völlig neu gestaltet werden. Ihr Auftrag ist explizit um eine gleichberechtigte beschäftigungspolitische Verantwortung zu erweitern, wie sie für die US-Notenbank gilt. Nur so wird die wichtigste wirtschaftspolitische Instanz in Europa die Möglichkeit – und die Pflicht – haben, den konjunkturellen Gefahren rechtzeitig und wirksam zu begegnen. Dabei muss vor allem festgeschrieben werden, dass sie mit der Finanz- und Lohnpolitik kooperiert, statt sich wie bisher auf eine Beobachterposition zurückzuziehen.
Siebtens muss auf ein neues weltweites System zur Stabilisierung der Wechselkurse hingearbeitet werden. Nur so kann in Zukunft spekulativen Blasen auf den Devisenmärkten und dem Bankrott ganzer Länder vorgebeugt werden. Das Ende der carry trades wird auch in Osteuropa, wie zuvor schon in Island, dramatische Verwerfungen nach sich ziehen. Und die werden die deutsche Wirtschaft wegen der gewaltigen Exportüberschüsse mit Osteuropa besonders hart treffen.
Achtens sind die Spielregeln für die Finanzwirtschaft international abzustimmen und so umzugestalten, dass Rohstoffspekulation unterbunden wird.
Wir befinden uns mitten in einer gefährlichen Krise. Aber die enthält auch die große Chance, dass das Verständnis für die Grundlagen einer stabilen, erfolgreichen und zugleich gerechten Marktwirtschaft in Wissenschaft, Politik und Medien (wieder)hergestellt wird. Damit steigt die Wahrscheinlichkeit, dass diese Grundlagen auch tatsächlich geschaffen werden.
Heiner Flassbeck ist Chefvolkswirt der Unctad in Genf. Friederike Spiecker arbeitet als freie Wirtschaftspublizistin. Beide sind Autoren des Buchs „Das Ende der Massenarbeitslosigkeit. Mit richtiger Wirtschaftspolitik die Zukunft gewinnen“, Frankfurt am Main (Westend-Verlag) 2007. © Le Monde diplomatique, Berlin