14.11.2008

Werkstatt der Welt

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Werkstatt der Welt

Über das amerikanische Imperium von Eric Hobsbawm

Sieht man vom Spanien des 16. Jahrhunderts und vielleicht auch von den Niederlanden des 17. Jahrhunderts ab, sind Großbritannien von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts und in der Zeit danach die Vereinigten Staaten von Amerika die einzigen Beispiele für wirklich globale Imperien. Beide Systeme hatten einen politischen Horizont, der global und nicht regional beschränkt war, und beiden stand ein global ausgreifendes Machtinstrumentarium zur Verfügung: Großbritannien im 19. Jahrhundert seine konkurrenzlose Kriegsflotte; den USA im 21. Jahrhundert ihre überlegene Luftwaffe – und beide stützten sich auf ein einzigartiges Netz von Militärbasen rund um die Welt.

Militärische Siege oder Sicherheit machen allerdings noch kein Empire aus. Das Großbritannien des 19. und die Vereinigten Staaten des 20. Jahrhunderts dominierten wie kein Empire zuvor (und vor der modernen ökonomischen Globalisierung wäre dies auch gar nicht möglich gewesen) die industrielle Weltwirtschaft. Und zwar nicht nur dank ihrer industriellen Produktionskapazitäten, die sie zur „Werkstatt der Welt“ machten. Die Dominanz beider Empires beruhte auch auf ihrer technischen und organisatorischen Pionierrolle und ihrer zentralen Position innerhalb des Systems der globalen Geld- und Warenströme, deren Stärke und Richtung maßgeblich von diesen beiden Staaten bestimmt wurden.

Beide Empires übten zudem einen überproportionalen kulturellen Einfluss aus – nicht zuletzt dank der Globalisierung der englischen Sprache. Aber kulturelle Hegemonie ist keineswegs ein Indikator für imperiale Macht. Wenn es so wäre, hätte das zersplitterte, machtlose und verarmte Italien nicht vom 15. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts international das musikalische und künstlerische Leben bestimmen können. Wir müssen die kulturellen Auswirkungen imperialer Machtausübung von denen einer ökonomischen Hegemonie abgrenzen und beide wiederum von unabhängigen postimperialen Entwicklungen.

Zwischen beiden Imperien gibt es bedeutende Unterschiede, die wir im Folgenden herausarbeiten wollen. Der erste unübersehbare Unterschied liegt in der territorialen Größe beider Länder. Als Insel hatte Großbritannien unverrückbare Grenzen und damit keine frontier im amerikanischen Sinne. Es gehörte zwar zeitweilig zu kontinentaleuropäischen Reichen – etwa zu Zeiten der Römer, nach der Eroberung durch die Normannen und kurze Zeit auch nach der 1554 erfolgten Heirat von Mary I. (Maria Stuart) und Philip II. von Spanien. Doch das Land war nie die Basis für ein solches Reich im territorialen Sinne. Wenn einzelne Regionen einen Bevölkerungsüberschuss produzierten, zogen die Leute in eine andere Gegend oder gründeten Siedlungen in Übersee.

Die britischen Inseln wurden zu einem bedeutenden Auswanderungsland. Dagegen waren und sind die Vereinigten Staaten wesentlich ein Einwanderungsland. Ihre leeren Räume füllten sie mit ihrer eigenen wachsenden Bevölkerung und mit Immigranten, die bis in die 1880er-Jahre hauptsächlich aus Nordwest- und dem westlichen Mitteleuropa kamen. Neben Russland (abgesehen von seiner jüdischen Bevölkerung) sind die USA das einzige bedeutende Empire, das nie eine signifikante Diaspora von Emigranten hervorgebracht hat.

Das US-amerikanische Empire ist demnach das logische Nebenprodukt dieser Art von Expansion über einen ganzen Subkontinent hinweg. Die jungen Vereinigten Staaten verstanden ihre Republik als territorial deckungsgleich mit ganz Nordamerika. Den Siedlern, die aus Europa ihre Maßstäbe einer hohen landwirtschaftlichen Siedlungs- und Nutzungsdichte mitgebracht hatten, erschien ein Großteil dieses Territoriums grenzenlos und weitgehend ungenutzt. Und das war es auch bald – dank des raschen, unbeabsichtigten Quasigenozids an der indigenen Bevölkerung durch die eingeschleppten Infektionskrankheiten.

Die USA verstanden sich – wiederum anders als Großbritannien und alle anderen Staaten Europas – niemals als ein Staat innerhalb eines internationalen Systems von konkurrierenden politischen Mächten. Der Sinn der Monroe-Doktrin von 1821 bestand genau darin, ein solches System in der westlichen Hemisphäre nicht aufkommen zu lassen. Für die USA gab es also innerhalb dieser Hemisphäre von ehemaligen Kolonien keine Rivalen. Und sie selbst waren ebenfalls nicht auf koloniale Besitzungen aus, vielmehr sollten alle Gebiete Nordamerikas früher oder später in die Vereinigten Staaten inkorporiert werden; das galt selbst für Kanada, das man – wenn auch vergeblich – aus dem Britischen Empire herauslösen wollte.

Das erklärt auch, warum das US-Empire jenseits seines Kerngebiets auf dem nordamerikanischen Subkontinent nicht die Gestalt des britischen Kolonialreichs respektive des British Commonwealth annahm. Für die USA konnte es keine Dominien geben, also die allmähliche Ablösung von Gebieten mit weißen Siedlern (mit oder ohne indigene Bevölkerung) wie Kanada, Australien, Neuseeland oder Südafrika – man hatte ja keine Siedler zu exportieren. Und zumindest seit dem Sieg des Nordens im Bürgerkrieg (1861–1865) war die Sezession eines Teils der Union rechtlich wie politisch unmöglich und auch ideologisch obsolet geworden.

Die typische Form, in der sich die Macht der USA jenseits ihres eigenen Territoriums organisierte, war nicht die einer Kolonie oder quasikolonialer indirekter Herrschaft oder direkter Kontrolle, sondern ein System von willfährigen Satellitenstaaten.

Der zweite Unterschied zwischen Großbritannien und den USA liegt darin, dass Letztere aus einer Revolution geboren wurden. Und zwar aus der – nach Hannah Arendt – nachhaltigsten aller Revolutionen der Neuzeit, die von den säkularen Hoffnungen der Aufklärung inspiriert waren. Wenn die USA eine imperiale Mission verfolgen würden, dann nur auf der Basis der messianischen Überzeugung, dass ihre freie Gesellschaft allen anderen überlegen und dazu bestimmt war, der ganzen Welt als Vorbild zu dienen. Deshalb musste die Politik dieses Empires, wie es schon Tocqueville voraussah, populistisch und antielitär sein.

Großbritannien hatte seine Revolutionen – in England wie in Schottland – schon im 16. und 17. Jahrhundert durchlaufen. Doch deren Wirkungen wurden von einem modernisierenden Kapitalismus absorbiert, der freilich auf einer hierarchisch geprägten Gesellschaft aufsaß, die noch bis weit ins 20. Jahrhundert durch die familiären Netzwerke einer Landbesitzerklasse dominiert war. Mit diesem politischen Rahmen war ein koloniales Empire gut vereinbar, wie das Beispiel Irland zeigt.

Die Briten waren zwar von der Überlegenheit ihrer eigenen Gesellschaft überzeugt, aber sie hegten weder einen messianischen Glauben noch den besonderen Wunsch, andere Völker zum britischen Regierungssystem – oder auch nur zu ihrem protestantischen Antikatholizismus – zu bekehren.

Ein dritter Unterschied: Seit seinen Anfängen wurde das englische – und seit 1707 britische – Königreich durch ein starkes Zentrum konstituiert: ein einheitliches Rechtssystem und eine souveräne Staatsgewalt in Gestalt des king in parliament. Dagegen gilt in den USA die Freiheit als Feind einer Zentralregierung und sogar jeder staatlichen Autorität, die ohnehin gezielt durch eine ausgeprägte Gewaltenteilung eingeschränkt wird.

Ganz kurz sei auf einen weiteren Unterschied verwiesen, das Alter beider Nationen. Neben einer Nationalflagge und -hymne brauchen Nationalstaaten auch einen Gründungsmythos, der in der Regel der Geschichte des Volkes entnommen wird. Doch die USA konnten nicht auf eine ältere Vorgeschichte zurückgreifen wie England – auf ihrem Territorium gab es keine geeigneten Vorfahren, die älter gewesen wären als die ersten englischen Siedler. Denn die Puritaner definierten sich ja gerade gegen die Indianer. Und andere geborene Amerikaner wie die Sklaven fielen aus dem „Volk“ – nach der Definition der Gründerväter – natürlich heraus. Da die USA durch eine Revolution gegen die Briten gegründet worden waren, blieb als einzige unversehrte Kontinuität mit dem alten Mutterland die kulturelle Dimension, oder besser die Sprache.

Die nationale Identität der USA konnte also nicht aus einer gemeinsamen englischen Vergangenheit bezogen werden, und dies schon vor dem massenhaften Zustrom nichtangelsächsischer Einwanderer. Sie musste vor allem auf ihrer revolutionären Ideologie und ihren neuen republikanischen Institutionen aufbauen. Die USA, deren Existenz noch nie von einem Krieg bedroht war (abgesehen von ihrem Bürgerkrieg), hat nur ideologisch definierte Feinde: Als solche gelten alle, die den „American Way of Life“ ablehnen.

Für die Briten war das Empire – im formellen wie informellen Sinne – ein zentraler Faktor ihrer ökonomischen Entwicklung wie ihrer internationalen Macht. Für die USA gilt das nicht. Maßgeblich für deren Entwicklung war vielmehr die von Anfang an bestehende Entschlossenheit, kein Staat wie die anderen zu sein, sondern ein riesiger Kontinent. Für diese Perspektive war die Landmasse entscheidend und nicht das Meer.

Die USA waren seit ihrer Gründung expansionistisch, aber auf andere Weise als die klassischen Übersee-Empires wie das kastilische und das portugiesische des 16. Jahrhunderts, das niederländische des 17. Jahrhunderts oder das britische, für die ein Staat von mittlerer Größe und Einwohnerzahl eine völlig ausreichende Basis war. Dieses Amerika ähnelte eher Russland, das von einer Zentralregion aus expandierte, bis es ebenfalls „von einem Meer bis zum anderen“ reichte: von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer im Süden und zum Pazifik im Fernen Osten. Die USA wären auch ohne Empire bevölkerungsmäßig der größte Staat der westlichen Hemisphäre und der drittgrößte der ganzen Welt. Dagegen war Großbritannien ohne sein Empire lediglich eine mittelgroße Wirtschaftsmacht unter vielen, und das wusste man in London auch schon, als man noch ein Viertel der Weltbevölkerung regierte.

Wichtiger noch: Das britische Empire war ein entscheidender Faktor für die Herausbildung der Weltwirtschaft des 19. Jahrhunderts, und zwar deshalb, weil die britische Wirtschaft als wichtiges Glied in der Kette der globalen Handelsbeziehungen fungierte – und nicht, weil es formell gesehen ein Empire war. Bis Ende der 1950er-Jahre flossen mindestens drei Viertel der gewaltigen britischen Investitionen in Entwicklungsländer, und selbst in der Zwischenkriegszeit gingen weit über die Hälfte der britischen Exporte in die formellen oder ehemals britischen Regionen.

Durch die Industrialisierung des restlichen Europa und der USA büßte Großbritannien zwar seine Rolle als „Werkstatt der Welt“ ein, blieb aber führend beim Ausbau der internationalen Transportwege. Und es behauptete sich als führende Handelsmacht, als globales Bankenzentrum und als der größte Kapitalexporteur der Welt.

Die Volkswirtschaft der USA hatte und hat keine solche organische Verbindung mit der Weltwirtschaft. Die stärkste Industriemacht der Welt lebt nach wie vor von der kontinentalen Größe ihres Binnenmarkts und ihrer Kreativität auf dem Gebiet der Technologie und der Unternehmensorganisation, was sie seit den 1870er-Jahren zum Vorbild für den Rest der Welt machte, und erst recht im 20. Jahrhundert, in dessen Verlauf sich in den USA die erste Massenkonsumgesellschaft herausbildete.

Bis in die Zwischenkriegszeit hinein stützte sich die stark abgeschottete US-Wirtschaft fast ausschließlich auf einheimische Rohstoffe und den eigenen Binnenmarkt. Sie importierte, anders als Großbritannien, bis gegen Ende des 20. Jahrhunderts nur wenig Fertigwaren, wie sie auch unverhältnismäßig wenig Güter und Kapital exportierte. Die ökonomische Durchdringung der Alten durch die Neue Welt vollzog sich insgesamt erst in der Periode des Kalten Kriegs. Und dass sie noch lange anhält, ist keineswegs garantiert.

Im Rückblick ist durchaus zweifelhaft, ob die USA es ohne ihre politische Vorherrschaft über die „freie Welt“ allein dank der Dimension ihrer Binnenwirtschaft geschafft hätten, ihre spezifischen Geschäftspraktiken durchzusetzen oder das Monopol ihrer Ratingagenturen und Bilanzprüfungsfirmen oder das US-amerikanische Handelsrecht, ganz zu schweigen von dem „Washington Consensus“, der die weltweiten Standards für internationale Finanzgeschäfte formuliert.

Deshalb ist das alte britische Empire kein Modell für das US-Projekt globaler Vorherrschaft und kann es nicht sein. Außer in einer Hinsicht: Großbritannien kannte seine Grenzen, insbesondere die seiner militärischen Macht. Als eine Mittelmacht, die sich bewusst war, dass sie nicht auf ewig den Titel der Schwergewichtsklasse behalten konnte, war sie gegen den Größenwahn gefeit, die Berufskrankheit aller Welterobererungsträumer. Die Briten besetzten und beherrschten einen größeren Teil der Welt und ihrer Bewohner als jeder andere Staat davor und danach, aber sie wussten, dass sie die Weltherrschaft weder ausübten noch ausüben konnten. Deshalb versuchten sie es erst gar nicht. Sie versuchten vielmehr, für so viel Stabilität in der Welt zu sorgen, wie es für ihre eigenen Geschäfte günstig war. Aber sie versuchten nicht, dem Rest der Welt Vorschriften zu machen.

Als gegen Mitte des 20. Jahrhunderts das Zeitalter der überseeischen Imperien des Westens zu Ende ging, erkannte Großbritannien den politischen Epochenwechsel früher als die anderen Kolonialmächte. Und weil seine ökonomische Verfassung nicht auf imperialer Macht, sondern auf Handel beruhte, fiel ihm die politische Bewältigung seiner territorialen Verluste leichter. Zumal es in seiner früheren Geschichte einen noch härteren Rückschlag verkraftet hatte: den Verlust seiner amerikanischen Kolonien.

Die große Frage ist, ob die USA diese Lehre verstehen – oder versucht sein werden, ihre bröckelnde Weltmachtposition allein mit politisch-militärischen Machtmitteln zu erhalten.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke Eric Hobsbawm war von 1947 bis 1982 Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte am Birkbeck College, University of London. Auf Deutsch erschien von ihm zuletzt „Gefährliche Zeiten. Ein Leben im 20. Jahrhundert“, München (dtv Tb) 2006. Dieser Text wurde in Auszügen entnommen aus: Eric Hobsbawm, „On Empire. America, War, and Global Supremacy“, New York (Pantheon) 2008, S. 69–91.

Le Monde diplomatique vom 14.11.2008, von Eric Hobsbawm