Das Undenkbare
von Serge Halimi
Nichts ist mehr ausgeschlossen. Regierungen intervenieren massiv auf den Finanzmärkten. Der Europäische Stabilitätspakt ist vergessen. Zentralbanken kapitulieren und nicken Konjunkturprogramme ab. Steuerparadiese kommen auf den Index. Alles ist möglich, wenn es gilt, die Banken zu retten.
Dreißig Jahre lang war es undenkbar, die liberale Wirtschaftsordnung anzutasten. Wer davon sprach, bekam stets zu hören: Ideen von gestern, die Globalisierung regiert, der Markt lässt so was nicht zu. Schon vergessen, dass auch die Berliner Mauer gefallen ist?
Die „Reformen“ der letzten Jahrzehnte liefen in die entgegengesetzte Richtung. Im Zuge der konservativen Revolution durfte sich der Finanzsektor die Filetstücke des öffentlichen Eigentums einverleiben. Gemeinnützige Unternehmen wurden privatisiert, angeblich um „Werte zu schaffen“ (für die Aktionäre). Die radikale Liberalisierung zehrte Löhne und Sozialleistungen aus und zwang Millionen Menschen, sich zu verschulden. Oder in Finanzfonds zu investieren, um ihre Gesundheitsversorgung, ihre Rente und die Ausbildung ihrer Kinder zu sichern.
Lohnabbau und Auszehrung der sozialen Sicherungssysteme spielten dem unersättlichen Finanzsektor direkt in die Hände: Gegen neue Risiken muss man sich absichern, etwa durch spekulative Anlagen und riskante Anlagen in Immobilienhypotheken. Zudem machte die marktradikale Ideologie die Leute individualistischer, berechnender, unsolidarischer.
Der Bankencrash 2008 lässt sich nicht durch eine „neue Moral“ oder ein „Ende des Missbrauchs“ bewältigen. Das ganze System ist abgestürzt. Doch viele Kommentatoren und Politiker erörtern schon wieder, wie das System zu reparieren oder zu kitten sei. Und alle wollen sie einen „neuen Kapitalismus“ begründen: Gordon Brown, der als Finanzminister die Bank of England autonom gemacht hat; José Manuel Barroso, Präsident einer EU-Kommission, die völlig auf das Konkurrenzprinzip fixiert ist; Nicolas Sarkozy, der die Steuerlast für Begüterte gesenkt und die Post privatisiert hat. Die Schamlosigkeit, mit der sie ihre Absichten formulieren, ist nur möglich, weil ihnen niemand entgegentritt. Und wo ist die Linke?
Soweit sie die Liberalisierung aktiv betrieben oder zugelassen hat, wünscht sie nichts mehr, als dass die Krise, die sie mitverursacht hat, möglichst schnell vorbeigeht. Das gilt für Bill Clinton, in dessen Amtszeit die Deregulierung des Finanzmarkts fällt, für Lionel Jospin, der in der Ära Mitterand die Privatisierung von Staatsunternehmen betrieb, und Gerhard Schröder mit seiner Agenda 2010 und den Hartz-IV-Gesetzen.
Und die andere Linke? Sie holt jetzt ausgerechnet ihre bescheidensten Projekte aus der Versenkung: Tobin-Steuer, Anhebung der Mindestgehälter, ein „neues Bretton Woods“, Windparks.
Statt von der Rechten zu lernen: Während der Jahrzehnte keynesianischer Wirtschaftspolitik wagten die Neoliberalen, das Undenkbare zu denken. Und nutzten dann eine große Krise, um ihr Programm durchzusetzen. Schon 1949 erklärte der Ökonom Friedrich Hayek, der Ronald Reagan und Margaret Thatcher inspiriert hat: Die wichtigste Lehre, die ein konsequenter Liberaler aus dem Erfolg der Sozialisten ziehen könne, sei ihr Mut zur Utopie. Und wer stellt heute den Kern des Systems infrage – das Prinzip des Freihandels? Eine Utopie? Aber wenn es um die Banken geht, ist heute alles möglich.