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„Encontraría a la Maga?“ – „Ob ich die Maga finden würde?“ Mit dieser Frage beginnt das erste Kapitel von „Rayuela“ (1963). Doch beginnt der Roman nicht notwendig mit dem ersten Kapitel. Ein einleitender Wegweiser bedeutet dem staunenden Leser, er möge das Buch getrost in der Reihenfolge lesen, die ihm gefalle, empfiehlt aber vor allem zwei Lesarten. Die erste beginnt im 1. und endet mit dem 56. Kapitel; sie umfasst die Romanhandlung im engsten Sinne, die den Leser und den Protagonisten Horacio Oliveira erst durch eine Künstler- und Philosophen-Bohème im Paris der späten Fünfzigerjahre, dann in ein kleinbürgerliches Buenos Aires führt, um schließlich auf dem Fensterbrett eines Irrenhauses in der argentinischen Provinz zu enden. Die zweite Variante beginnt im 73. Kapitel und springt – Rayuela ist der spanische Name für unser Himmel-und-Hölle-Spiel – durch (fast) alle 155 Kapitel des Romans. In die bei der ersten Variante ausgeklammerten Kapitel schießen Abschweifungen und Nebenhandlungen ein, wie farbige Glassplitter in einem Kaleidoskop überlagern unzählige Leitbegriffe abendländischer und (fern-)östlicher Sinnfindung das Motiv der Maga als Ziel und Zentrum der Suche: Garten Eden, Mana, Orplid, Unio mystica, Tao, Evolutionstheorie, Neurobiologie, anderer Zustand etc. Und wir lesen von einem gewissen Morelli, der über Skizzen und poetologischen Vorüberlegungen zu einem Roman brütet, in dem „die Standardverhaltensweisen (inklusive der allerungewöhnlichsten, welche ihre Luxuskategorie sind) mit dem gebräuchlichen psychologischen Instrumentarium unerklärlich“ wären, wie es im 62. Kapitel heißt. Dieser Roman erscheint 1968 unter dem Titel „62 Modellbaukasten“. Wo Rayuela ideell zwischen Surrealismus und Existenzialismus, stilistisch zwischen Swing und Bebop oszillierte, handelt es sich bei „62“ um einen Thriller, der vor lauter Cool Jazz und Nouveau Roman als solcher nicht erkennbar ist. Dem strengen Vorsatz einer nicht psychologischen Motivation der Handlung folgend, organisieren „meta-physische“ Interaktionen das Geschehen: kollektive Träume, Vampirismus, Intertextualität etc. Äußerlich betrachtet, scheinen die Romanfiguren wie Marionetten nur deren „irrealen“ Regeln zu gehorchen; in Wahrheit aber spielen alle um ihr Leben. Der dem Roman zugrunde liegende Gedanke, dass wir Menschen nach sozial, intellektuell und biologisch weitgehend ritualisierten Mustern funktionieren, findet in Cortázars „Geschichten der Cronopien und Famen“ (1970, in: Erzählungen, Band 2: „Südliche Autobahn“) sein literarisches Woodstock: Die lebenslustigen Cronopien entzaubern die metaphysische Gewalt des Rituals durch spielerische Überhöhung, ersetzen Metaphysik durch Pataphysik (die „Wissenschaft imaginärer Lösungen“, Alfred Jarry) und erschrecken die spießigen Famen mit der Maske der Freiheit.
Die Bücher von Julio Cortázar erscheinen im Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, „Rayuela“ in der Übersetzung von Fritz Rudolf Fries, die anderen zitierten Texte in der Übersetzung von Rudolf Wittkopf.
CHRISTIAN HANSEN