13.02.2004

Das Kreuz mit dem Laizismus

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Das Kreuz mit dem Laizismus

ÜBER staatliche Gesetze hat der Dominikanerpater Henri Lacordaire (1802–1861) dereinst alles Wesentliche gesagt: „Im Verhältnis zwischen Starken und Schwachen ist Freiheit gleich Unterdrückung und Gesetz gleich Freiheit.“ Kündigungsschutzgesetze zum Beispiel bewahren in Zeiten der Arbeitslosigkeit die Beschäftigten vor dem Diktat der wirtschaftlich Mächtigen. In einem Rechtsstaat wie der französischen Republik schafft das Recht als Hüter des Gemeinwohls die Möglichkeit, die Beziehungen zwischen Menschen der vielgestaltigen Herrschaft der Mächtigen zu entziehen. Auch die Trennung von Kirche und Staat entspricht diesem Postulat und repräsentiert insofern lediglich das Interesse der Allgemeinheit. Indem sie die moralische und geistige Autonomie des Einzelnen verteidigt, postuliert sie die Gewissensfreiheit und die vollkommene rechtliche Gleichstellung aller Menschen ohne Ansehung ihres Geschlechts, ihrer Herkunft oder ihres Glaubens.

Die Trennung von Kirche und Staat war zu keiner Zeit gegen die Religionen gerichtet, soweit diese sich auf die spirituelle Dimension beschränken und keinen Anspruch auf Gestaltung des öffentlichen Raums erheben. Die rechtliche Trennung zwischen staatlicher Gewalt auf der einen und Kirchen sowie religiösen, ideologischen, ökonomischen oder sonstigen Interessengruppen auf der anderen Seite ist also von wesentlicher Bedeutung. Das staatliche Bildungswesen wie der öffentliche Dienst überhaupt müssen vor dem Zugriff von Interessengruppen geschützt werden.

Heute stellt sich freilich die Frage, ob der öffentliche Raum sich weiterhin als Vehikel der Emanzipation behaupten kann. Die Überbetonung der Differenz, die immer mehr in Mode kommt, bringt offensichtliche Konfrontationen hervor. In Zeiten sozialer und internationaler Spannungen ist es eine gefährliche Annahme, dass alle möglichen Besonderheiten sich stets und überall uneingeschränkt Ausdruck verschaffen können. Denn damit setzt man Menschen, die unabhängig bleiben wollen und religiösen oder kulturellen Fanatismus ablehnen, der durchaus realen Gefahr aus, beschimpft, stigmatisiert und verfolgt zu werden.

In den Anhörungen der vom französischen Ombudsmann Bernard Stasi geleiteten zwanzigköpfigen Expertenkommission zur weltanschaulichen Neutralität des Staates ist deutlich geworden, welchen Bedrohungen solche Menschen ausgesetzt sind. Aus Angst vor Repressalien wollten manche nur unter Ausschluss der Öffentlichkeit aussagen. Ist es hinnehmbar, dass in den als sensibel eingestuften Stadtvierteln junge Frauen beleidigt und sogar vergewaltigt werden, weil sie sich weigern, ein Kopftuch zu tragen? Oder dass Eltern einen Lehrer oder eine Lehrerin ablehnen, weil diese Person das falsche Geschlecht hat oder weil sie bestimmte Auffassungen vertritt, etwa im Fach Biologie zur Evolution der Arten oder im Fach Geschichte über die Ermordung der europäischen Juden? Ist es hinnehmbar, aus dem Recht auf die Ausübung kulturspezifischer Essgewohnheiten die Forderung nach getrennten Tischen in der Kantine oder in der Mensa abzuleiten?

Naivität ist hier fehl am Platz. Einige Verfechter der Toleranz mögen durchaus gute Absichten verfolgen, auch wenn sie offenbar die besonderen Bedingungen in der Schule verkennen. Aber es gibt organisierte Gruppen (und sie sind alles andere als naiv), die sich mit ausgefeilten Argumenten auf Freiheit und Toleranz berufen – zumindest solange sie keine Macht besitzen. Sobald sie aber in einem Stadtteil über ausreichende Machthebel verfügen, drohen sie in vielfältiger Weise mit Gewalt und setzen sie auch ein. Es ist traurig, dass manche Organisationen, die sich durchaus der Verteidigung laizistischer und freiheitlicher Ideale verschrieben haben, für solche Gefahren blind sind und sich gegen ein Gesetz wenden, das doch den Laizismus stärken soll.

Wir erleben in Frankreich derzeit eine bedauerliche Begriffsverwirrung, die dazu führt, dass jede kritische Infragestellung einer Religion als potenziell rassistisch eingestuft wird. Eine derartige Verwirrung ist vollkommen abwegig. Rassismus richtet sich gegen Völker. Doch gegen welches Volk sollte sich eine Kritik am Islam richten? Etwa gegen die Araber, obwohl sie nur eine Minderheit unter den Muslimen sind? Durch die falsche Vermengung von Kultur und Religion oder von Religion und soziokultureller Identität wird die Diskussion permanent vergiftet.

Wenn ein Schriftsteller strafrechtlich verfolgt werden kann, weil er sich über den Islam lustig macht, müssen wir auch Voltaire aus den Bibliotheken verbannen, der schließlich dem katholischen Klerikalismus einst sein berühmtes „écrasons l’infâme“ entgegenschleuderte. Dasselbe gilt für Spinoza, der mit durchaus harten Worten die rückständigen Theologen attackierte. Selbstverständlich sind alle Formen des Kolonialismus, Rassismus und die Diskriminierung von Menschen auf Grund ihrer Herkunft verabscheuenswürdig. Aber gilt das nicht ebenso für die Unterdrückung der Frauen, für erzwungene Religionszugehörigkeit, das aufgezwungene Tragen von Glaubenssymbolen oder für die Umfunktionierung von Religion zu politischer Herrschaft? Und sollen wir mit der Begründung, die erstgenannten Übel zu bekämpfen, über die letztgenannten schweigen?

Natürlich löst ein Verbot von deutlich sichtbar getragenen religiösen Symbolen nicht alle Probleme – was im Übrigen auch niemand behaupten würde. Aber es bewahrt den für alle vorgesehenen öffentlichen Raum davor, dass er sich im Namen der Toleranz oder eines angeblich „offenen“ oder „pluralistischen“ Laizismus in lauter Einzelgruppen auflöst, dass der einheitliche Geltungsbereich des Rechts zerstört wird.

Der Laizismus bedarf keiner einschränkenden Adjektive. Seit zehn Jahren hat der angeblich „offene“ Laizismus stets nur den Beweis seines Scheiterns erbracht. Die Lehrer- und Schulleiterverbände haben erklärt, sie seien es leid, „lokales Recht“ anwenden zu müssen, also der veränderlichen Geometrie der jeweiligen Kräfteverhältnisse ausgeliefert zu sein. Auf diese Botschaft und auf die Verzweiflung der Frauen, die, ohne auf eine individuelle Kultur oder spirituelle Orientierung verzichten zu wollen, gleichwohl nicht unterdrückt oder bedroht werden wollen, reagiert die Kommission von Bernard Stasi mit der Forderung nach einem umfassenden Laizismusgesetz, das für alle Religionen gelten soll und somit von niemandem als stigmatisierende Ausnahmeregelung betrachtet werden kann. Nicht aus Vorurteil, sondern aus freien Stücken und ihrem Gewissen folgend hat die Stasi-Kommission sich letztlich also zu dieser Entscheidung durchgerungen.

Die laizistische Schule ist einer der wenigen verbliebenen Orte, an denen nicht Unterschiede, sondern Gemeinsamkeiten im Mittelpunkt stehen. Deshalb sollte sie den Trend zur Abgrenzung und Stigmatisierung – ganz gleich, ob religiös oder sonst wie begründet – nicht unterstützen. Die Schule bestreitet ja gar nicht, dass es Unterschiede gibt – wie es vor allem antidemokratische Kreise häufig behaupten. Sie sorgt lediglich dafür, dass der Raum, der den Unterschieden gewährt wird, nicht im Widerspruch steht zum Universalismus des Rechts und zu der Freiheit und Selbstbestimmung des Einzelnen.

Mathematik oder Geschichte lernen ist nicht dasselbe wie Briefmarken kaufen oder mit den Zug fahren. Neugier und Offenheit für Wissen sind unvereinbar mit einer Identität, die mehr auf Einbildung denn auf freier Entscheidung beruht – zumal in einem Alter, in dem die Persönlichkeit sich erst noch entwickelt. Die Schule ist kein x-beliebiger Ort, und es wäre unverantwortlich, dort dieselben Freiheiten zu fordern wie auf öffentlichen Plätzen. Die meisten Schüler sind minderjährig, und die Annahme, sie seien in ihrem Sein oder Handeln vollkommen Herr ihrer selbst, wäre falsch.

Das halbwegs harmonische Miteinander in der Schule beruht – auch – auf der Tatsache, dass die Schüler es nicht in erster Linie darauf anlegen, sich durch Symbole voneinander abzugrenzen. Wenn es einen Druck für sie gibt, es dennoch zu tun, dann sollte man sie darin nicht unnötig bestärken. Die jüngst geplante Regelung verbietet nicht etwa den dezenten Ausdruck einer religiösen oder sonstigen Überzeugung, wohl aber die Zurschaustellung der religiösen Zugehörigkeit durch Kleidung oder deutlich sichtbare Symbole. Einige Schulleiter haben darauf hingewiesen, dass die Schüler auf den Pausenhöfen häufig nach Religionszugehörigkeit zusammenstehen, was zu Spannungen und Konflikten führe. Demnächst werden tausende junger Mädchen dankbar sein, dass die französische Republik ihr Recht geschützt hat, ohne Kopfbedeckung in die Schule zu gehen und dort gleichberechtigt mit den Jungen die Schulbank zu teilen.

Es geht nicht an, pädagogische und didaktische Bemühungen gegen Rechtsgrundsätze auszuspielen, als handele es sich um Alternativen, die einander ausschlössen. Man kann keinen Dialog führen und Menschen überzeugen wollen, wenn gleichzeitig jemand mit aller Gewalt den Laizismus und die Demokratie herausfordern will. Erst das Recht bietet den Raum für einen wahren Dialog, weil dann die Regeln selbst nicht mehr zur Debatte stehen. Jeder weiß, dass erzieherische Bemühungen und Gewaltverhältnisse unvereinbar sind. Wie soll man da den Leuten glauben, die gegen das Kopftuchverbot sind und den Dialog in der Schule fordern, wenn in manchen Städten junge Mädchen, die kein Kopftuch tragen wollen, mit Steinen beworfen oder beschimpft werden?

Natürlich vermag der Laizismus nicht alles. Er bringt Rechte und Pflichten mit sich. Gewiss, unter bestimmten sozialen Bedingungen ist das Beharren auf laizistischen Rechten wenig überzeugend und behindert vielmehr die Benachteiligten, wenn sie ihren Pflichten gegenüber der Republik nachkommen wollen. Woraus jedoch nicht zu schlussfolgern wäre, dass die Forderung, Kirche und Staat strikt auseinander zu halten, illegitim sei oder nicht eigens betont werden müsse. Nur zu oft geht es in der Debatte weniger um soziale Ungerechtigkeit als vielmehr um das politische Projekt der Bekämpfung des laizistischen Staates. Was nicht heißen soll, dass bei der Verteidigung des Laizismus die sozialen Bedingungen aus dem Blick geraten dürfen, denn damit würde er sich nur unglaubwürdig machen.

Der politische Kampf gegen die fundamentalistische Gewalt muss also verstanden werden als ein Bestreben, immer klarere Einsicht in die wahren Ursachen der Probleme zu gewinnen. Man darf folglich nicht auf falsche Diagnosen hereinfallen, die der Moderne, der Republik oder einer Emanzipation von kirchlicher Autorität die Schuld geben. Wir befinden uns in einer ähnlichen Situation, wie sie einst Karl Marx beschrieben hat, der sich nicht gegen jegliches religiöses Bewusstsein wandte, sondern gegen die Religion als das „Herz einer herzlosen Welt, so wie die Seele der seelenlosen Verhältnisse“.

In Großbritannien hat der Rückzug des Staates und der öffentlichen Einrichtungen aus den „Problem-Vorstädten“ eindeutig zur Folge, dass man die sozialen Belange den Fundamentalisten mit ihren antikapitalistischen Diskursen überlassen hat. Wir sollten aus dieser Erfahrung lernen und Konsequenzen für unser Land daraus ziehen.

Der religiöse Fundamentalismus ist in Wahrheit ein Komplize der überzogenen wirtschaftsliberalen Deregulierung. Und zwar sowohl objektiv, weil er die richtige Diagnose – die den Kapitalismus verantwortlich machen würde – wohlweislich nicht stellt, als auch subjektiv, weil er an einem mystifizierenden Bewusstsein festhält, das die liberal-kapitalistische Globalisierung zum Schicksal erklärt. Er geht davon aus, dass die Globalisierung der einzig mögliche Ausdruck der Moderne ist, und produziert Hoffnungslosigkeit, weil er jede soziale Alternative als unsinnig abtut und als einzige Lösung mildtätige Gaben anbietet.

Daher ist es höchste Zeit, den sozialen und politischen Kampf gegen die kapitalistische Deregulierung und für die Stärkung öffentlicher Dienstleistungen aufzunehmen, um der Hoffnung auf Mildtätigkeit die Hoffnung auf Solidarität entgegenzusetzen; den Kampf für die geistige und moralische Emanzipation aller Menschen aufzunehmen, damit ein aufgeklärtes Bewusstsein für Ursachen und Zusammenhänge sie für ideologischen Fatalismus unempfänglich macht, sowie den Kampf für die laizistische Emanzipation des Rechts zu führen als Garant der Freiheit aller Menschen, die erst dadurch zu wirklicher sittlicher Autonomie gelangen. Denn erst so können sie über ihre Lebensweise, ihre sexuelle Orientierung, ihre Beziehungen zu anderen Menschen (im Rahmen der gemeinschaftlichen Regeln und Gesetze) selbst bestimmen und sich zum Beispiel für oder gegen Verhütungsmittel, für oder gegen einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden.

Man mag einwenden, die soziale und kulturelle Ungleichheit der Familien, aus denen die Schüler kommen, stehe der Chancengleichheit im Wege, zu der die staatliche und laizistische Schule beitragen soll. Das ist sicher richtig. Doch stellt diese Beobachtung nicht die laizistische Schule in Frage, sondern macht deutlich, wie notwendig es ist, die sozialen Ungerechtigkeiten zu bekämpfen. Denn während die laizistische Schule die Emanzipation hochhält und die geistigen Voraussetzungen dafür erzeugen will, bringt zugleich die Zivilgesellschaft ständig neue Ungleichheiten hervor.

Wir brauchen uns also nicht zu wundern, wenn in Reaktion darauf eine Art Opferbewusstsein entsteht, das dazu beiträgt, die so stigmatisierte Herkunft aufzuwerten und sie durch ein fanatisches Bestehen auf der eigenen Differenz zu mystifizieren. Dann ist die Gefahr, in das Gruppendenken des Kommunitarismus abzudriften, nicht mehr fern. Wir dürfen nicht zulassen, dass unsere hehren Prinzipien an den Niederungen der Praxis zuschanden gehen. Denn der Laizismus ist keine zufällige Besonderheit der französischen Geschichte, sondern eine Errungenschaft von universeller Reichweite, die es zu bewahren und weiterzuentwickeln gilt.

deutsch von Michael Bischoff

* Philosoph, Dozent am Institut d’études politiques in Paris, Mitglied der Stasi-Kommission, Autor von „Qu’est-ce que la laïcité?“, Paris (Gallimard) 2003.

Le Monde diplomatique vom 13.02.2004, von HENRI PEÑA-RUIZ