13.02.2004

Das verlorene Leben der Fadime Sahindal

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Das verlorene Leben der Fadime Sahindal

Von ARNE RUTH *

AM 21. Januar 2002 wurde die 26-jährige Fadime Sahindal, aufgewachsen in einer Einwandererfamilie kurdisch-türkischer Abstammung, von ihrem Vater im Flur der Wohnung ihrer Schwester ermordet. Fadime Sahindal lebte schon seit Jahren fern von ihrer Familie, weil sie sich einer geplanten Zwangsheirat verweigert hatte und einen schwedischen Freund hatte. Sie war nach Uppsala zu ihrer Schwester gefahren, bei der sie ohne Wissen des Vaters ihre Mutter treffen wollte. Der Vater aber erfuhr von ihrem Besuch, ging mit der Pistole zu der Wohnung und erschoss seine Tochter. Er lebte seit über zwanzig Jahren in Schweden, hatte den größeren Teil dieser Zeit feste Arbeit und war, von außen betrachtet, gut integriert.

Die ganze schwedische Gesellschaft war erschüttert. Der Prozess gegen Fadimes Vater, der durch zwei Instanzen ging, erregte enorme Aufmerksamkeit, in Schweden wie in Norwegen. Obwohl Fadime Sahindals Freund, ein Schwede mit iranischem Vater, 1998 bei einem Autounfall gestorben war, hatte es keine Versöhnung zwischen Fadime und ihrer Familie gegeben. Der Bruder hatte sie auf offener Straße bedroht und geschlagen, als sie sich eine Woche nach dem Tod ihres Freundes zufällig begegnet waren.

Zu dem Zeitpunkt, als der Vater seine Tochter Fadime ermordete, war sie mit ihrer Geschichte in der Öffentlichkeit keine Unbekannte. Sie hatte sich schon jahrelang für das Recht der Einwandererfrauen engagiert, ihren Lebenspartner selbst zu wählen. Und nachdem in Schweden mehrere Fälle von so genannten Ehrenmorden bekannt geworden waren, hatte sie bei einer großen Versammlung im Reichstagshaus in Anwesenheit führender Politiker des Landes anhand ihrer Geschichte über die Situation solcher Frauen berichtet. Doch erst als Fadime Sahindal selbst dieses Schicksal erlitt und ihr Vater für den Mord vor Gericht stand, wurden im Lande politische Konsequenzen gezogen.

Im November 2003 gab der sozialdemokratische schwedische Justizminister Tomas Bodström mit Unterstützung der Vänsterpartiet (Linkspartei) und der Miljöpartiet (Die Grünen) die Aufhebung des Sondergesetzes von 1973 bekannt, das es bisher ermöglicht hatte, Mädchen nichtschwedischer Abstammung bereits mit 15 zu verheiraten, während schwedische Mädchen erst mit 18 heiraten dürfen. Am 1. Mai wird das Gesetz voraussichtlich in Kraft treten, dem zufolge zukünftig auch in Schweden das Mindestalter für Eheschließungen, unabhängig von der Herkunft, bei 18 Jahren liegt. Darüber hinaus beinhaltet der Gesetzestext, dass Kinderehen und Zwangsehen, die im Ausland geschlossen wurden, in Schweden ihre Gültigkeit verlieren. Parallel zu dieser Gesetzesänderung wurde ein soziales Reformpaket verabschiedet, das unter anderem Einrichtungen finanziert, in denen Jugendliche, die dem „Risiko ehrenbezogener Gewalt ausgesetzt sind“, Zuflucht und Schutz finden können.

Ein ähnliches Umdenken vollzieht sich auch in Norwegen. Hier wurde vor kurzem die Studie „Eine Frage der Ehre“ („En fråga om heder“) von Unni Wikan publiziert, die inzwischen auch auf Schwedisch erschien. Die norwegische Sozialanthropologin hatte seit Beginn der 1990er-Jahre das Schicksal von Frauen in schwedischen Einwandererkreisen untersucht und ihre Kritik der Integrationspolitik in diversen Studien publik gemacht. Sie begleitete auch die beiden Prozesse gegen Fadimes Vater, und ihre Perspektive auf die Ehrenmorde dürfte die Sichtweise in beiden Ländern beeinflusst haben.

1995 hatte sie mit dem Buch „Gegen eine neue norwegische Unterklasse: Einwanderer, Kultur und Integration“ („Mot en ny norsk underklasse: invandrere, kultur og integrasjon“) die norwegische Einwanderungsdebatte grundsätzlich kritisiert: In dem vorherrschenden Dogma von den unerschütterlichen kulturellen Unterschieden sah sie einen verborgenen Rassismus. Denn dieses Dogma gehe davon aus, dass Frauen nichteuropäischer Abstammung den fremden Lebensmustern verhaftet bleiben dürfen, während ihren Schwestern aus dem „eingeborenen“ Bevölkerungsteil das Recht zuerkannt wird, sich – wie die Männer – als Individuen zu entwickeln.

Als eindringliche Illustration der gefühlsmäßigen und administrativen Hintergründe, auf denen Morde wie der an Fadime Sahindal möglich werden, zitierte Wikan in „Gegen eine neue norwegische Unterklasse“ aus einer Novelle des kurdisch-norwegischen Autors Sükrü Bilgic. Der Autor lässt eine junge Einwanderin ihre norwegische Umgebung anklagen:

„In einem Land, das damit prahlt, dass die Frauen befreit seien, entscheiden mein Vater und meine Mutter und meine großen Brüder über meine Zukunft. Nicht ich. Und ihr unterstützt sie freiwillig.

Sie sagen: Das Mädchen soll in den Korankurs. Und ihr unterstützt sie.

Sie sagen: Das Mädchen soll in den Nähkurs. Und ihr unterstützt sie.

Sie sagen: Das Mädchen soll ein Kopftuch tragen. Und ihr unterstützt sie.

Sie sagen: Das Mädchen soll nicht auf dem Schulhof mit norwegischen Jungen Hand in Hand gehen. Und ihr stimmt zu, aus Angst, Rassisten genannt zu werden.

Mich habt ihr nie gefragt.

Mich habt ihr nie gefragt, ob ich vielleicht lieber mit einem norwegischen Jungen Hand in Hand gehen möchte.

Kriegt ihr das nicht in eure Schädel? Alle Menschen, Kinder und Jugendliche, um mich herum genießen eine grenzenlose Freiheit. Ich dagegen bin gefangen in der Tradition meiner Familie, weil ihr Angst davor habt, dieser die Unterstützung zu entziehen.“

Im Herkunftsland dürfen 13-jährige Mädchen sehr wohl Freunde haben. In Einwandererkreisen hingegen sind die Restriktionen oft härter. Unni Wikans Kritik lautet dementsprechend, dass die Behörden durch ihre zahlreichen Sonderregelungen eine frauenfeindliche Praxis unterstützen, die speziell in Einwandererkreisen vorherrschend ist. Sie messen mit zweierlei Maß – und das hat ihrer Meinung nach System. Ihr Fazit lautet: Die multikulturelle Gesellschaft basiert auf der Vorstellung, dass jede Gruppe das Recht hat, ihre spezifische kulturelle Prägung auch in der fremden Kultur beizubehalten.

Diese an einem bestimmten Kulturbegriff orientierte Definition macht den Einzelnen nur zu leicht zum Gefangenen der Gruppe. („Ich hasse die erste Person Plural“, schrieb die jugoslawische Schriftstellerin Slavenka Drakulić einmal.) Geschlecht und Klasse gehen in dieser Betrachtungsweise unter. Das Ergebnis ist, so die Sozialanthropologin, nichts anderes als ein „Kulturfundamentalismus“. Für Unni Wikan bedeutet das Recht des Individuums auf Exil nicht nur, dass jeder sein Heimatland verlassen kann, sondern auch, dass junge Frauen das Recht haben, die Familientradition zu verlassen.

Nach den heutigen westlichen Vorstellungen beinhaltet das Recht auf Individualität auch und zuallererst das Recht auf freie Liebe zwischen autonomen erwachsenen Individuen – unter Garantie sozial anerkannter und vom Gesetz geschützter Rechte. Ein Unterschied zwischen zweigeschlechtlichen und eingeschlechtlichen Beziehungen ist in dieser Vorstellung nicht vorgesehen. Im entgegengesetzten „traditionsgebundenen“ Modell ist die Liebe ausgerichtet auf Familiengründung und die Geburt von Kindern. Herzstück dieses Modells ist nicht das Individuum, sondern das Kollektiv. Seinen unterschiedlichen Formen ist gemeinsam, dass die Erotik durch strenge Konventionen mit starker Geschlechtsaufteilung reglementiert ist.

Eine der zentralen Konventionen ist der Begriff der „Ehre“. Vielfach jedoch wird vergessen, dass dieser keineswegs auf den islamischen Kulturkreis begrenzt, sondern in allen Religionen kodiert ist. So wurde zum Beispiel noch bis Mitte der 1990er-Jahre in 14 Staaten Lateinamerikas nach einer Vergewaltigung das Problem der verlorenen Ehre zumeist dadurch gelöst, dass der Täter das Opfer heiraten musste. Und auch Ägypten besaß bis 2002 ein ähnliches Gesetz. Das Bedürfnis, eine verlorene Ehre zu rächen, ist mit anderen Worten seiner Verbreitung nach durchaus multikulturell. Der „Ehrenmord“ hingegen ist keiner Religion grundsätzlich inhärent.

Die Geschichte von Fadime Sahindal hat, wie Wikan ausführt, noch einen anderen Aspekt: Gewöhnlich greifen Familien nicht zum Mittel der Gewalt, sondern zum Mittel des Ausschlusses, der Verstoßung. Fadime jedoch weigerte sich, dies zu akzeptieren. Sie machte ihre Geschichte öffentlich und verklagte sogar ihren Vater und ihren Bruder, als diese drohten, sie umzubringen. Als der Vater entdeckte, dass Mutter und Tochter sich heimlich trafen, ermordete er seine Tochter.

Zu Unni Wikans Grundhaltung gehört, dass sie einer generalisierenden Betrachtungsweise entgegenwirken will. Nicht zuletzt aus diesem Grund interessiert sie sich in „Eine Frage der Ehre“ für die individuellen Entscheidungen aller Beteiligten. Sie schildert Fadimes Eltern und Geschwister als fühlende und denkende Menschen. Im Mittelpunkt steht der Versuch von Fadimes Mutter, den Gegensatz zwischen Tradition und Befreiung auszuhalten. Mütter wie Elif Sahindal, argumentiert sie, benötigen dringend Unterstützung von der Aufnahmegesellschaft, damit sie in Zukunft positiv zu einer Integration beitragen können. Ebenso eindringlich beschreibt sie das Dilemma des Vaters, dem gegenüber das schwedische Rechtssystem völlig stumm bleibt. Er, der im Arbeitsleben zwar gut funktioniert, aber keinen inneren Kontakt zur schwedischen Gesellschaft gefunden hatte, blieb auf seine Familie fixiert. Damit fühlte er sich dem Druck der türkisch-kurdischen Gemeinschaft, also auch seinem eigenen Ehrbegriff verpflichtet.

Eine wichtige, oft übersehene Rolle spielten bei dieser Tragödie die Medien. Fadime stand, so Wikan, vor der Wahl, sich entweder für immer von der Familie fern zu halten oder dem familiären Verdikt öffentlich entgegenzutreten. Sie forderte das Schicksal heraus – und verlor. Wenn Wikans Deutung des Mordmotivs zutrifft, hat aber gerade die Veröffentlichung des Familienkonflikts die Ehrenideologie in ihrem Kern angesprochen. Nach den Normen der traditionellen Kultur tritt der Verlust der Ehre erst ein, wenn der Familienkonflikt über die Familie hinaus bekannt wird. Mit Wikans Worten: „Erst wenn die Schande öffentlich wird, muss sie abgewaschen werden.“

deutsch von Angelika Gundlach

© Le Monde diplomatique, Berlin

* Freier Schriftsteller in Schweden; Vorstandsmitglied der Menschenrechtsorganisationen „Helsinki-Komitee“ und „Article 19“ (London); Professor für Europäische Ideengeschichte; lange Zeit Chefredakteur der schwedischen Tageszeitung Dagens Nyheter.

Le Monde diplomatique vom 13.02.2004, von ARNE RUTH