Der Völkerbund ist tot, es lebe die UNO
DER Völkerbund ist tot, es lebe die UNO.“ Mit diesen Worten kommentierte der Brite Lord Cecil, der sich wie kaum ein anderer mit glühender Leidenschaft für den Völkerbund eingesetzt hatte, dessen Auflösung im April 1946. Der Präsident der Völkerbundversammlung, der Norweger Carl Hambro, hatte hingegen erklärt: „Wir verkennen nicht, dass es uns häufig an moralischem Mut gemangelt hat, dass wir oft zögerten, wenn wir hätten handeln müssen, und dass wir zuweilen handelten, wenn zu zögern klug gewesen wäre.“ Für den französischen Vertreter Joseph Paul-Boncour hatte dagegen nicht der Völkerbund versagt; vielmehr hatten es die Regierungen nicht vermocht, sich über ihre partikularen Interessen zu erheben. Und dies trotz anfänglicher „Erfolge“ wie der Konflikteindämmung auf dem Balkan, der Wiederaufbauhilfe für Österreich, der Anfänge einer wirklichen Abrüstungspolitik.
Paul-Boncour „vergaß“ nur, dass der Völkerbund beim japanischen Angriff auf China (1933) ebenso ohnmächtig zugesehen hatte wie bei Mussolinis Überfall auf Abessinien (1935), gar nicht zu reden von der Rheinland-Besetzung durch die Nazis (1936) und dem Scheitern der Abrüstungspolitik. „Den Starken helfe ich, die Schwachen bringe ich ohne Blutvergießen zum Schweigen“ – nach Albert Einstein hätte diese Devise das Giebeldreieck am Genfer Palast der Nationen zieren sollen. Als 1939 der Krieg ausbrach, beschloss der Völkerbund, seine Sitzungen bis zum Friedensschluss auszusetzen. Dennoch „erinnerte man sich 1939 – dank des Antibolschewismus –, dass es einen Völkerbund gab“ (Paul-Boncour).
Die Organisation wollte tatsächlich zusammentreten, um die Sowjetunion wegen des Überfalls auf Finnland (November 1939) auszuschließen. Unter dem einschüchternden Druck Nazi-Deutschlands beschloss die vorbereitende Kommission, nur diesen Konflikt zu behandeln, also weder den deutschen Einmarsch in die Tschechoslowakei noch den italienischen Überfall auf Albanien noch den deutschen Angriff auf Polen. Danach beschränkte sich der Völkerbund auf „technische“ Dinge wie Flüchtlingshilfe oder Studien zum künftigen Wiederaufbau. Als Vichy-Frankreich aus dem Völkerbund austrat, saßen auch Deutschland, Italien, Japan, die USA (deren Senat 1919 den Beitritt abgelehnt hatte) und die Sowjetunion schon nicht mehr in der „leeren Muschel“.
US-Präsident Woodrow Wilson, ein Jurist, hatte mit dem Völkerbund anfangs ehrgeizige Pläne im Sinn. Nachdem Großbritannien und Frankreich – nicht ohne US-amerikanische Hilfe – den Sieg im Ersten Weltkrieg errungen hatten, wollte er mit ihm die Basis für eine gerechte internationale Ordnung schaffen. Frankreich dagegen wollte einen Frieden auf der Basis von Reparationen durchsetzen. Indem Wilson das Projekt einer Weltorganisation in den Friedensvertrag selbst hineinschrieb, hoffte er, die mörderische Rivalität der Nationalstaaten durch eine Gemeinschaft der Nationen zu ersetzen. Der Völkerbund sollte zudem den endlich befreiten kleinen Ländern – der Tschechoslowakei, Ungarn, den baltischen Ländern, Syrien, dem Hedschas – ihr Selbstbestimmungsrecht gegenüber den großen Imperien garantieren.
Wilson fügte freilich hinzu, die Welt brauche eine gemeinsame Regierung und die Vereinigten Staaten würden sie ihr schenken. Heute erleben wir den gleichen Messianismus, nur dass bei der Gründung des Völkerbunds das Frankreich Clemenceaus für die Schäden, die es im Krieg erlitten hatte, entschädigt werden wollte, während Wilson sich im Namen einer stabilen künftigen Friedensordnung dagegen aussprach. Dagegen sind es heute die USA, die in ihren Handlungen nicht von der UNO abhängig sein wollen, während Frankreich einen solchen Unilateralismus ablehnt.
Als sich der Völkerbund 1946 auflöste, setzten sich die Sieger des Zweiten Weltkriegs und namentlich die USA für das neue Projekt ein, das sie die Organisation der Vereinten Nationen nannten. Da die Genfer Versammlung einige ihrer Tätigkeiten fortführen wollte, überlegte man sogar eine Zeit lang, den Völkerbund neben der UNO weiterexistieren zu lassen. Aber man ließ den Gedanken wieder fallen, da die Sowjetunion zu dem Zeitpunkt aus dem Völkerbund ausgeschlossen war, die Vereinigten Staaten niemals beigetreten waren und die besiegten Achsenmächte Deutschland, Italien und Japan dem Völkerbund gar nicht angehörten. Dennoch ist die Kontinuität zwischen den beiden Versammlungen unübersehbar. Und auch ein Norweger spielte wieder eine entscheidende Rolle: Zum ersten UN-Generalsekretär wurde Trygve Lie gewählt, nachdem Fritjof Nansen als Flüchtlingskommissar die prominenteste Figur des alten Völkerbundes gewesen war.
Natürlich hoffte man, die UNO werde wirkungsvoller sein als der Völkerbund. Doch im Grunde stand man vor denselben Problemen, zum Beispiel bei der Auswahl der Mitglieder des Sicherheitsrats. Und wie 1918 wurde die Idee von eigenen UNO-Streitkräften wieder aufgegeben. Auch bei den Problemen Abrüstung, Kriegsverhütung und Kontrolle der Rüstungshaushalte zeigte sich dieselbe Ohnmacht wie beim Völkerbund. Zwar zeigten sich die fünf „Großen“ entschlossen, ihre Entscheidungen durchzusetzen. Doch einzig die USA verfügten über die Atomwaffe, während die UdSSR sie kurz darauf erwarb. Aber weder Washington noch Moskau hatten nach dem Beginn des Kalten Krieges ein Interesse daran, sich in die Karten blicken zu lassen.
MARC FERRO