11.04.2003

Gaza, die andere Front

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Gaza, die andere Front

WAS kann die Panzer und Kampfhubschrauber, die Ariel Scharon gegen die Palästinenser einsetzt, stoppen? Ein zweifelhafter Boykott israelischer Produkte oder der Druck von Regierungen und der Europäischen Union auf die israelischen Behörden? Es muss dringend etwas unternommen werden, denn jeden Tag tötet die israelische Armee Palästinenser, zerstört ihre Häuser und ihre Infrastruktur. Seit Mitte Februar geht die israelische Armee in den besetzten Gebieten und vor allem im Gaza-Streifen wieder mit unerbittlicher Härte vor – zweifellos ermutigt durch die Konzentration des Medieninteresses auf den Irakkrieg.

Von unserem Sonderkorrespondenten BENJAMIN BARTHE *

An diesem Tag richtete sich das Weltinteresse auf andere Dinge. Der Gipfel auf den Azoren war gerade zu Ende gegangen, eine zweite UN-Resolution stand nicht mehr zur Debatte, und auf allen Fernsehkanälen hatten die Washington-Korrespondenten das Wort, die sich mit dem zu erwartenden Ultimatum von George Bush an Saddam Hussein befassten: „Leave the country or face war.“ Es war der 17. März. An diesem Tag wurden im Gaza-Streifen elf Palästinenser getötet, die meisten von ihnen Zivilisten. Ein Blutbad, das kaum jemand zur Kenntnis nahm.

Es begann gegen drei Uhr nachts. Mohamed al-Sa‘afin – ein Militanter des Islamischen Dschihad, von Israel wegen angeblicher Beteiligung an zwei Selbstmordattentaten gesucht, denen in Gaza fünf israelische Soldaten zum Opfer gefallen waren – war im Schutz der Dunkelheit in sein Haus am Rande des Flüchtlingslagers Nusseirat zurückgekehrt. „Es war eine Falle“, erzählt sein Cousin Nasser, ein finster dreinblickender Jugendlicher. Innerhalb von wenigen Minuten fuhren ein Dutzend Jeeps und eine Kolonne von Panzerfahrzeugen rund um das Haus auf. „Die Motoren machten einen Höllenlärm“, erinnert sich ein Nachbar, der Gemüsehändler Ihab. „Ich dachte, das Haus stürzt ein, und meine schwangere Frau hätte vor Angst fast ihr Kind verloren.“

Die Soldaten befahlen den vierunddreißig Bewohnern des Gebäudeblocks, das Haus zu verlassen und auf die Straße zu kommen. Fünf Minuten reichen nicht, um die Habseligkeiten eines ganzes Lebens einzupacken. Hastig rafften die Bewohner Schmuck, Geld, Fotos und Dokumente zusammen. Al-Sa‘afin, der sich in eines der Stockwerke geflüchtet hatte, war nicht bereit, sich zu ergeben. Es kam zu einem Schusswechsel mit den Soldaten. Die Schüsse und der Aufruf des Muezzin, Widerstand zu leisten, riefen dutzende bewaffneter Militanter auf den Plan. Im anschließenden Feuergefecht starben zwei der Kämpfer, Ibrahim al-Othman (25) und Ijad Zuraiq (18).

Inzwischen waren Panzer an den Hauptstraßen des Lagers aufgefahren. Im Block G trat der Bäcker Ziad al-Assar vor die Wohnungstür ins Freie. „Seine kleine Tochter lief hinter ihm her, ohne dass er es bemerkte“, erzählt Othman Tawil, ein Nachbar. Die vierjährige Ilham al-Assar wurde von zwei Kugeln in die Brust getroffen; sie starb in den Armen ihres Vaters. Othmanis Bruder, der dreißigjährige Said Tawil, wollte die Soldaten vom Dach seines Hauses aus angreifen – mit einem alten Trommelrevolver und selbst gemachten Handgranaten. Bevor er das Feuer eröffnen konnte, wurde er erschossen, vermutlich aus einem Hubschrauber. Den siebzehnjährigen Omar Abu Jussef tötete eine Granate, als er sich auf die Straße wagte. „Wer auch nur den Kopf aus der Tür steckte, wurde sofort ins Visier genommen,“ sagt Othman.

Einige Straßen weiter, im Block 5, verließen Omar Darwisch, ein siebzehnjähriger Student, der vierzigjährige Schneider Nabil Duidar und sein Bruder Noman die Moschee. Es war kurz vor Tagesanbruch. Die Schießereien hatten aufgehört, und die drei Männer glaubten sich außer Gefahr. „Wir waren mitten auf der Straße, als plötzlich von allen Seiten aus schweren Maschinengewehren das Feuer eröffnet wurde“, berichtet Noman. Omar war sofort tot. Nabil, den eine Kugel in den Kopf getroffen hatte, starb einige Stunden später im Krankenhaus von Gaza-Stadt.

Der israelische Einsatz war zu diesem Zeitpunkt seit drei Stunden im Gang. Vier Personen waren verhaftet worden, vier Brüder, alle Angehörige der palästinensischen Polizei. Mohamed al-Sa‘afin hielt sich immer noch im Gebäude verschanzt. Um Viertel nach sechs zündete die Armee Sprengladungen, die sie inzwischen im Gebäudekomplex angebracht hatte. Die drei Etagen stürzten vollständig ein und begruben al-Sa‘afin unter sich. Danach zogen sich die israelischen Truppen auf ihren Stützpunkt in der nahe gelegenen Siedlung Netzarim zurück. Einige Stunden später wurden in Beit Lahia, im Norden des Gaza-Streifens, drei weitere Palästinenser von Scharfschützen erschossen – ein Zivilist und zwei Mitglieder der Küstenwache. Die blutige Bilanz des Tages: elf Tote, vier Gefangene.

Seit Mitte Februar hat die israelische Armee die besetzten Gebiete und vor allem den Gaza-Streifen wieder stärker in die Zange genommen – zweifellos ermutigt durch die Konzentration des Medieninteresses auf den Irakkrieg. Dass am 15. Februar nahe der Siedlung Dugit vier Soldaten starben, als ihr Panzer explodierte, und dass die benachbarte israelische Stadt Sderot wiederholt mit selbst gebauten Raketen beschossen wurde, lieferte den Vorwand für eine Reihe militärischer Vorstöße auf Hochburgen der Hamas und des Islamischen Dschihad. Das Palästina-Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNRWA) verzeichnet eine Zunahme der israelischen Militäroperationen im Gaza-Streifen von 55 im Dezember 2002 auf 77 im Januar 2003 und 91 im Februar. Am 18. Februar rückten die Panzer in das Al-Tuffah-Viertel von Gaza ein: elf Tote. Am 23. Februar überfielen sie Beit Hanun: sechs Tote. Am 3. März griffen sie das Flüchtlingslager al-Burredsch an: acht Tote. Am 6. März galt die Attacke Dschabalia: elf Tote. Am 17. März, wie erwähnt, waren Nusseirat und Beit Lahia dran: elf Tote. Es ist surreal: Während in Ramallah die palästinensischen Abgeordneten sich in Spitzfindigkeiten über die Vollmachten für den neuen Premierminister ergingen, sahen sich die Flüchtlinge in Gaza mit gepanzerten Monstern konfrontiert.

Angriffe gegen die Zivilbevölkerung

INNERHALB eines Monats, von Mitte Februar bis Mitte März, sind nach Angaben der Palästinensischen Zentrums für Menschenrechte (PCHR) in den besetzten Gebieten 109 Palästinenser getötet worden – die meisten in Gaza. Diese Bilanz der Gewalt ist nach Angaben der israelischen Menschenrechtsvereinigung Betselem mit der der Monate Oktober und November 2000 vergleichbar, der beiden blutigsten Monate der Intifada nach der „Operation Schutzwall“ gegen die großen Städte im Autonomiegebiet im März und April 2002, als jeweils 238 und 242 Palästinenser starben. Etienne Antheunissens, Leiter des Büros des Roten Kreuzes im Gaza-Streifen, kommt zu dem Schluss: „Es sieht so aus, als ob die Armee von ihrer früheren „Hit and run“-Taktik jetzt zu längeren Einsätzen übergeht, um die Infrastruktur der Hamas zu zerschlagen. In den nächsten Wochen dürften diese Säuberungsaktionen zunehmen und systematisch alle Schlupfwinkel erfassen.“

Einmal mehr treffen die blindwütigen Angriffe vor allem die Zivilbevölkerung. Das gilt insbesondere für Rafah, ganz im Süden des Gaza-Streifens. Im Block O des Lagers, der sich entlang der Grenze zu Ägypten erstreckt, haben die israelischen Planierraupen auf einer Breite von mehreren hundert Metern alle Gebäude platt gewalzt. Es ist ein Niemandsland entstanden, in das Wachtürme aus Beton hineinragen. Eine Art Präsentierteller, in dem immer wieder Schüsse fallen. „Es gibt keinen gefährlicheren Ort in den besetzten Gebieten“, meint Etienne Antheunissens. „Fast alle, die dort umkommen, sind Zivilisten. Sie werden aus der Distanz von israelischen Scharfschützen erschossen. Ein kleiner Junge, der Fußball spielt, ein anderer, der für seinen Vater Zigaretten holt. Was sich dort abspielt, ist unbeschreiblich. Im Mai und im August des vergangenen Jahres sind auch unsere Mitarbeiter beschossen worden. Ich hatte danach ein Treffen mit dem Kommandeur der Südbrigade in Gaza, und der sagte mir ins Gesicht: ‚Wenn Ihre Leute es mit mir zu tun gehabt hätten, wären sie jetzt tot.‘ Wir fahren seither nicht mehr nach Rafah.“

Am 6. März, als sich die Armee gerade wieder aus dem Lager Dschabalia zurückzuziehen schien, ereignete sich eine heftige Explosion mitten in einer Menschenmenge. Fünf Menschen waren auf der Stelle tot, darunter ein Feuerwehrmann, der damit beschäftigt war, einen Brand in einem Möbelgeschäft zu löschen. Für die Palästinenser bestand kein Zweifel, dass es sich bei der Explosion um eine Panzergranate gehandelt hatte. Doch der israelische Generalstabschef wies jede Verantwortung zurück und erklärte, vermutlich sei ein Munitionsdepot in dem brennenden Möbelgeschäft explodiert. Diese Behauptung wurde durch Filmaufnahmen von der Explosion widerlegt, die ein Journalist von Reuters gemacht hatte. In der Zeitlupe sah man, dass unter den Opfern keine Bewaffneten waren und wie die Granatsplitter nach allen Seiten flogen. In den Sekunden nach dem Einschlag waren Schüsse aus schweren Maschinengewehren zu hören und man sah, wie die Menschen, die zu Hilfe eilen wollten, in Deckung gingen.

Bislang haben diese so genannten militärischen Operationen nur sehr dürftige, um nicht zu sagen keine Resultate gebracht: Oft feuern die Hamas-Aktivisten schon Stunden nach einem Einsatz der Armee wieder ihre Kassam-Raketen auf Sderot ab. In gewisser Weise bewirken Israels Überfälle sogar das Gegenteil dessen, was die Armee erreichen zu wollen vorgibt: Sie schüren Rachegefühle und treiben die Bevölkerung der Hamas erst recht in die Arme. Das untergräbt auch die Versuche der palästinensischen Sicherheitskräfte, gegen die Beschießungen vorzugehen. Als eine Polizeistreife am 20. März auf einer Wiese am Rand von Dschabalia einige Kassam-Ausbilder festnehmen wollte, ergriffen die Bewohner des Lagers spontan Partei für die Hamas-Aktivisten – sie standen noch unter dem Schock des mörderischen Überfalls der israelischen Armee auf Dschabalia zwei Wochen zuvor. Nachdem einer der Islamisten bei einem Schusswechsel getötet wurde, setzten die Bewohner zwei Jeeps der Polizei in Brand.

Gegen die Intifada kann Israel mit seinen militärischen Vorstößen nichts ausrichten, aber es fügt der Zivilgesellschaft schwere Schäden zu. Nach Angaben der UNRWA sind im Gaza-Streifen seit Jahresbeginn 232 Häuser ganz oder teilweise zerstört worden – innerhalb von zweieinhalb Monaten so viele wie in den zweieinhalb Jahren davor. Seit Januar wurden auf diese Weise etwa 2 250 Palästinenser obdachlos. „Tag für Tag registrieren wir Verstöße gegen die IV. Genfer Konvention“, erklärt Etienne Antheunissens vom Roten Kreuz. „Willkürliche Angriffe gegen Zivilisten und ziviles Eigentum, Einsatz nichtkonventioneller Waffen und Übergriffe auf die medizinischen Hilfsorganisationen. Üblicherweise sind die mahnenden Berichte, die wir an die israelische Regierung schicken, etwa anderthalb Seiten lang. Der letzte Bericht umfasste vier Seiten.“

Dschaber Wischa, der stellvertretende Leiter der Menschenrechtsorganisation PCHR, seufzt resigniert, als das Gespräch in seinem Büro in Gaza-Stadt auf den jüngsten Übergriff der israelischen Armee kommt. Am 16. März wurde in Rafah eine Aktivistin der International Solidarity Movement, einer pazifistischen Bewegung aus den USA, von einem israelischen Bulldozer überrollt und getötet. Rachel Corrie hatte sich der Planierraupe in den Weg gestellt, um den Abriss eines Hauses zu verhindern. Sie stand auf einem kleinen Erdhügel, bekleidet mit einer roten Jacke, ein Megafon in der Hand. Der Fahrer konnte sie nicht übersehen, hielt aber nicht an. „Wenn so etwas sogar einer Amerikanerin geschieht, dann können Sie sich denken, was die Bevölkerung hier zu erdulden hat … Die Israelis verschieben die Grenzen des Erlaubten jeden Tag etwas mehr. Und das wird von der internationalen Gemeinschaft durch ihr Schweigen abgesegnet. Es kommt mir so vor, als sei inzwischen allgemein akzeptiert, was noch vor einem halben Jahr als empörend galt.“

Wie wird es weitergehen? Muss man befürchten, dass Israel den Schlachtenlärm im Irak als Gelegenheit begreift, nun nach dem Westjordanland auch den Gaza-Streifen wieder vollständig zu besetzen? „Scharon braucht keinen Vorwand, um im Gaza-Streifen einzumarschieren“, meint Dschaber Wischa. „Wenn er das beschließt, wird er es tun. Aber im Augenblick rechne ich nicht damit. Die Armee will uns nur auf kleiner Flamme schmoren lassen. Uns in einen Winkel drängen und das Terrain für die Extremisten bereiten.“ Weit weg von den Kameras und den indiskreten Fragen.

deutsch von Edgar Peinelt

* Französischer Journalist, lebt in Palästina.

Le Monde diplomatique vom 11.04.2003, von BENJAMIN BARTHE