11.04.2003

Zu einer Polemik

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Zu einer Polemik

DAS Buch von Pierre Péan und Philippe Cohen „La Face cachée du Monde“ hat in Frankreich ein Erdbeben ausgelöst. Das Funktionieren der Medien interessiert mehr und mehr Bürger, die darüber beunruhigt sind, dass diese in unseren Gesellschaften die einzige der Gewalten darstellen, zu der keine wirkliche Gegenmacht besteht. In diesem Sinne war es nicht illegitim, „Ermittlungen“ über die Zeitung Le Monde anzustellen.

Abgesehen von den Übertreibungen und jenseits ihrer politischen Einschätzung stellen Péan und Cohen zwei zentrale Fragen: 1. Was ist „investigativer Journalismus“, und wo liegen dessen ethische Grenzen? 2. Wie muss die Grenze zwischen Redaktion und Unternehmen beschaffen sein? In letzter Zeit hat „investigativer Journalismus“ v. a. Enthüllungen von „Affären“ bedeutet, die für die Justiz relevant sind und nach ihrer Aufdeckung nicht mehr unter den Teppich gekehrt werden konnten. Andererseits sind – manchmal zweifelhafte – Beziehungen zwischen Journalisten, Polizei und Untersuchungsrichtern entstanden. Mehr als einmal hat ein Journalist sich in einen Verdächtigen verbissen und dessen politischen oder sozialen Tod unbedingt zu erreichen versucht.

Die Wahrheit aufzudecken ist eine wichtige Aufgabe des Journalismus, deren Erfüllung die Respektierung gewisser Prinzipien und ein gewisses Verantwortungsgefühl voraussetzt. Wer auch immer Einfluss auf das öffentliche Leben hat – ist er nicht geradezu verpflichtet, die Konsequenzen seines Handelns ständig zu hinterfragen? Journalisten sollten die Gründe, die ein Medium dazu bringen, gewisse Themen eher zu verfolgen als andere, stärker reflektieren. Die Information über die Information und über die Verfehlungen von Journalisten wird ebenfalls vernachlässigt. Das Verhältnis zwischen Redaktion und Unternehmen wird problematisch, sobald ein Medienunternehmen beschließt, zum Konzern zu werden. Das Unternehmen muss dann seine Allianzen vervielfältigen und Interessenkontakte zu anderen Konzernen knüpfen. Die Scheidewand zwischen Unternehmen und Redaktion, zwischen der Logik eines Medienkonzerns und derjenigen der Journalisten, muss dann absolut wasserdicht sein. Das wichtigste Kapital eines Mediums sind seine Glaubwürdigkeit und seine Ethik. Zwischen der Redaktion und seinen Lesern gibt es einen Vertrauensvertrag, der in jedem Fall respektiert werden muss. Diese Fragen betreffen nicht eine einzelne Zeitung, sondern die Gesamtheit der Medien – und der Bürger.

DIE REDAKTION VON LE MONDE DIPLOMATIQUE

deutsch von Judith Huber

Le Monde diplomatique vom 11.04.2003