11.04.2003

Was ist falsch gelaufen?

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Was ist falsch gelaufen?

Von AMOS ELON *

MACHT keine Dummheiten, während ich tot bin“, schrieb der Begründer des modernen Zionismus, Theodor Herzl, 1904, kurz vor seinem Tod, in einem Brief an seinen Nachfolger. Die Mahnung des erst 44-jährigen Herzl war nicht ganz ernst gemeint, aber das Zitat scheint mir dennoch aufschlussreich. Denn von all den im 19. Jahrhundert begonnenen Versuchen, einen Nationalstaat zu gründen, war Herzls Unternehmen zweifellos das ungewöhnlichste und sicher auch eines der schwierigsten. In jedem Fall war es dasjenige, das sich aufgrund seiner Komplexitiät und seiner ungewissen Erfolgsaussichten am wenigsten irgendwelche „Dummheiten“ leisten konnte.

Das nationale Projekt der Zionisten unterschied sich grundsätzlich von allen anderen. Es handelte sich um eine Kolonisierung ohne Mutterland und ohne die Unterstützung einer existierenden Staatsmacht. Das war – gelinde gesagt – eine schwierige Aufgabe angesichts eines Landes, das weder über Wasser noch über natürliche Ressourcen verfügte und keine erkennbaren finanziellen Anreize bot. Cecil Rhodes, die herausragende Figur des britischen Imperialismus, wurde einmal von einem Freund Herzls um Rat gefragt, wie man das zionistische Projekt anpacken könne. Die Antwort lautete: „Sagen Sie Dr. Herzl, er soll sich Geld einstecken.“ Geld war freilich etwas, was Herzl fast nie hatte. „Das Geheimnis, das ich vor allen hüte, ist die Tatsache, dass ich einer Bewegung von Schnorrern und Narren vorstehe“, gestand er in einem Brief. Die Reichen hatten – mit wenigen Ausnahmen – für seine Pläne nichts übrig. Die ersten Siedler waren meist mittellose Idealisten, soziale Anarchisten, Narodniks, die sich einer verqueren „Religion der harten Arbeit“ verschrieben hatten. 90 Prozent der Einwanderer, die zwischen 1904 und 1914 in Palästina eintrafen, kehrten nach Europa zurück oder gingen in die USA.

Andere Nationalbewegungen hatten ihre unterdrückten Völker befreien und einen Nationalstaat gründen wollen, der alle Menschen derselben Sprache auf seinem Territorium vereinigen sollte. Anders die Zionisten. Sie appellierten an Juden, die in dutzenden Ländern und ebenso vielen Sprachen zu Hause waren. Sie sollten sich in einer entfernten, heruntergekommenen Provinz des Osmanischen Reiches ansiedeln, wo zwar vor tausenden von Jahren ihre Vorfahren gelebt hatten, die jetzt aber von einem anderen Volk mit einer anderen Sprache und Religion bewohnt wurde. Überdies unternahm dieses andere Volk gerade selbst die ersten Schritte seiner nationalen Wiedergeburt und sah in den jüdischen Siedlern gefährliche Eindringlinge, denen man sich entgegenstellen musste.

Einer von Herzls engsten Mitarbeitern soll ihm eines Tages ganz aufgeregt eine überraschende Entdeckung übermittelt haben: „Mensch, in Palästina gibt es Araber! Das hab ich gar nicht gewusst!“ Die Anekdote ist nicht hundertprozentig verbürgt, aber sie bringt die wesentlichen Probleme des zionistischen Projekts auf den Punkt. Wie Herzl auf seinen Freund reagiert hat, weiß man nicht, aber ganz gewiss hat er sich im Unterschied zu vielen Zionisten auf keine „historischen Rechte“ berufen. Denn Herzl glaubte nicht an irgendwelche „historischen Rechte“. Aufgrund seiner Geschichtskenntnisse war er sich sehr wohl bewusst, wie viel Unheil durch das Streben nach solchen Rechten entstanden war, man denke nur an die Deutschen, die Franzosen, die Österreicher oder die Völker auf dem Balkan. Aber Herzl hatte auch eine fast unheimliche Vorahnung, dass den Juden eine düstere Periode bevorstand. Er war überzeugt, dass mächtige Triebkräfte am Werk waren, die der zionistischen Sache eine historische Rechtfertigung liefern würden. Die späteren Ereignisse haben ihm Recht gegeben.

Angesichts so vieler unüberwindlich scheinender Schwierigkeiten ist es bemerkenswert, dass die zionistischen Führer so wenige historische „Dummheiten“ begangen haben. Diese blieben bis Mitte der 1950er-Jahre, immerhin 50 Jahre nach Herzls Tod, eine seltene Ausnahme und stifteten nur begrenzten Schaden, der weder endgültig noch irreparabel war. Das zionistische Projekt lag in den Händen von nüchternen Praktikern, die mit der europäischen und der Weltpolitik vertraut waren und keine übermäßigen Risiken eingingen. Sieht man von den paar Heißspornen ab, die Chaim Weizmann, der überaus rationale Zionistenführer der Zwischenkriegszeit, abfällig als „unsere d‘Annunzios“ bezeichnete, zeigte diese Generation keine Neigung, ihre Karten zu überreizen. Diesen Leuten war klar, dass sie ein ungewöhnliches Unterfangen betrieben, das in gewisser Weise den Haupttendenzen des Weltgeschehens zuwiderlief. Da sie sich einer vorwiegend feindlichen arabischen Bevölkerung gegenübersahen, machten sie sich ernsthafte Gedanken über Kompromisslösungen in Form von binationalen Modellen oder Teilungsplänen (also auch über Lösungen, die der zionistischen Sache abträglich waren, was für mehrere der sondierten Teilungsmodelle gilt, die von ihnen selbst akzeptiert, von arabischer Seite dagegen abgelehnt wurden). Betrachtet man die Landkarten dieser Teilungspläne aus den 1930er- und 1940er-Jahren oder auch den letzten UN-Teilungsplan von 1947, so vermitteln die eigenartig gewundenen Grenzen, die engen Korridore und die eingesprengselten britischen oder internationalen Enklaven den Eindruck von zwei Erbfeinden, die in tödlicher Umarmung ineinander verschlungen sind. 1948 gaben die Briten auf und zogen endgültig von dannen. Noch am selben Tag riefen die Juden in ihrem Teil des Landes einen unabhängigen Staat aus, der von den meisten Ländern und nach einer Weile sogar von den Briten anerkannt wurde. Israel wurde damals von aller Welt bewundert, weil es den gleichzeitigen Angriff der Armeen von drei arabischen Nachbarstaaten erfolgreich zurückzuschlagen vermochte.

An der Spitze des neuen Staates standen nach wie vor die alten, besonnenen Führungskräfte, die freilich immer älter wurden. Ihre praktische Denkweise sorgte dafür, dass sie ihre Grenzen erkannten. Der Sieg ihrer improvisierten Armee stieg ihnen nicht zu Kopf. Und in der Regel kannten sie durchaus den Unterschied zwischen Macht und Gewalt. Dem damaligen Ministerpräsidenten David Ben-Gurion hat man später vorgeworfen, er habe während des Krieges die Tragödie der Palästinenser verschlimmert (mit verhängnisvollen langfristigen Folgen), weil er seine Generäle ermächtigt habe, an die 100 000 unschuldige Palästinenser aus ihren Dörfern und Städten zu vertreiben, nachdem bereits fast 500 000 Menschen aus den Kampfgebieten geflohen und im Westjordanland sowie in den arabischen Nachbarländern Zuflucht gesucht hatten.

Doch zumindest nach dem Krieg schlug Ben-Gurion eine Politik der Zurückhaltung ein. Er widersetzte sich entschieden dem Drängen der forschen jungen Generäle, auch noch das Westjordanland zu erobern, das etwa 22 Prozent des vormaligen Mandatsgebietes Palästina ausmacht und auch die Altstadt von Jerusalem mit ihren heiligen Stätten umfasst. Das Westjordanland wurde mit stillschweigendem Einverständnis des jüdischen Staates von dem haschemitischen Königreich Jordanien annektiert. Israels Ministerpräsident hoffte damals mit gutem Grund auf einen förmlichen Friedensvertrag mit dem jordanischen König Abdullah, mit dem er während des ganzes Krieges geheime Kontakte unterhalten hatte. Für Ben-Gurion war Legitimität auch dann wichtiger als Territorium, wenn zu Letzterem die Klagemauer und andere historische und heilige Stätten gehörten. Es war eine bemerkenswerte Entscheidung, die sich am Vorbild der klügsten europäischen Staatsmänner des 19. Jahrhunderts orientierte.

Gurions weise Zurückhaltung führte nicht zum Frieden, weil der jordanische König von einem religiösen Fanatiker ermordet wurde; und doch zahlte sie sich aus. Im Nachkriegseuropa war man sich der antisemitischen Vergangenheit reumütig bewusst und von Schuldgefühlen geplagt. Zwanzig Jahre lang war die Unterstützung Israels fast eine Frage der Pietät. Die Waffenstillstandslinien von 1948 galten in den USA und in Europa – mit Ausnahme Großbritanniens – als praktisch ebenso sakrosankt wie die innereuropäische Nachkriegsgrenze zwischen West und Ost. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang der Vergleich, wie sich diese Länder zu den De-facto-Grenzen nach 1948 und nach dem Krieg von 1967 verhalten haben. Nicht einmal Stalin forderte nach 1949 – in seinen letzten, von antisemitischer Paranoia geprägten Amtsjahren – den Rückzug Israels auf das weitaus kleinere Territorium, das im ursprünglichen UN-Teilungsplan vorgesehen war. Und auch Stalins Nachfolger im Kreml haben Derartiges nie gefordert.

Die Zeit bis Mitte der 1960er-Jahre war die Epoche der Entkolonialisierung. Stalin und seine Nachfolger begrüßten fast alle antikolonialen Bewegungen (natürlich nur jenseits ihres ausgedehnten eurasischen Empires). Sie beschimpften Israel als Lakaien des US-amerikanischen Kapitalismus, aber nicht als Kolonialmacht. Viele der früheren Kolonialvölker, die damals ihre Unabhängigkeit erlangten, pflegten enge Beziehungen zu Israel, obwohl sie Siedlerstaaten wie Kenia, Südafrika oder Algerien verdammten. Auch die äußerste Linke in Italien und Frankreich enthielt sich damals weitgehend einer antiisraelischen Rhetorik, wiesie nach 1967 üblich wurde. Enrico Berlinguer, der Führer der PCI, erklärte explizit, warum Israel ein Sonderfall sei: In einer gerechten, rationalen Welt mochte es „sinnvoller“ und sogar „gerechter“ gewesen sein, den Staat Israel etwa in Bayern oder in Ostpreußen zu gründen (ein Gedanke, den einmal Lord Moyne, ein Minister in Churchills Kriegskabinett, ins Spiel gebracht hatte). Aber leider, so Berlinguer weiter, gehe es in der Welt nicht völlig rational zu.

Der Staat Israel wurde seinerzeit weitgehend anerkannt als das unvermeidliche und sogar legitime Ergebnis eines Krieges, den die Juden weder begonnen noch provoziert hatten. Vor allem sah man in Israel den legitimen Zufluchtsort für Überlebende des Holocaust und heimatlos gewordene Juden, die nicht nach Polen oder Deutschland hatten zurückkehren wollen. Viele von ihnen wollten nach Israel und nur nach Israel. Die Rückführung der mehr als 600 000 palästinensischen Flüchtlinge galt damals als überwiegend humanitäre Aufgabe, nicht als Politikum. Ein Teil der Flüchtlinge war von Israel vertrieben worden, doch die meisten waren einfach vorübergehend in die arabischen Nachbarstaaten geflohen, wie es Dorfbewohner in umkämpften Gebieten häufig tun. Von Israel wurde erwartet, dass es nach einem Friedensschluss eine weitgehende Verantwortung für die Zukunft dieser Flüchtlinge – in existenzieller wie in finanzieller Hinsicht – übernehmen würde. Und das zu Recht, denn schließlich waren die Palästinenser nicht für die Verbrechen Europas verantwortlich. Doch genau sie waren es, auf die am Ende die Strafe für diese Verbrechen abgewälzt wurde.

Von den arabischen Nachbarländern erwartete man, dass sie einen Teil der palästinensischen Flüchtlinge aufnehmen und unterstützen würden. Denn im Westen gab man diesen Ländern zumindest eine Mitverantwortung, weil sie den Krieg 1948 mit dem Ziel, die Umsetzung der UN-Resolution zu verhindern, begonnen hatten. Die USA, die Länder Europas und selbst die Sowjetunion drängten die arabischen Länder, mit Israel auf der Grundlage des nach dem Krieg entstandenen Status quo einen Friedensvertrag zu schließen.

*

Die große historische Wasserscheide war der Krieg von 1967. Er beendete ein Jahrzehnt allmählicher Entspannung zwischen Israel und Ägypten und damit die Hoffnung, der israelisch-arabische Konflikt könne wenigstens teilweise beigelegt werden. (Obwohl der Suezkanal für israelische Schiffe gesperrt blieb, konnten sie nach 1956 die Straße von Tiran am Ausgang des Roten Meeres passieren. Der Handel mit dem Fernen Osten und die Öllieferungen aus dem Iran wurden über Israels südlichste Hafenstadt Elath abgewickelt.) Im Westen herrschte zunächst Begeisterung über den spektakulären Sieg der Israelis in einem Krieg, der vor allem auf bizarre Fehleinschätzungen der ägyptischen und der syrischen Führung zurückging, zum Teil aber auch auf die tumben Ratschläge eines sowjetischen Diplomaten, der beide Länder zur Bedrohung Israels ermutigt hatte (und der kurz darauf von der Bühne – und womöglich im Gulag – verschwand). Damals ist es mir auf einer Party passiert, dass der deutschen Militärattaché meine Hand packte, die er gar nicht wieder loslassen wollte, und ergriffen beteuerte: „Genau so hätte es unser Feldmarschall Rommel gemacht, wenn man ihm freie Hand gelassen hätte …“

Heute wissen wir, dass der Sieg von 1967 ein Pyrrhussieg war. Dieser Krieg hat nicht nur die strategische Position Israels in der Region verändert, sondern mehr noch die Selbsteinschätzung der Israelis. Von Isaiah Berlin stammt der Satz, Israel habe stets „mehr Geschichte als Geografie“ gehabt. Aber jetzt hatte es auf einmal beides. Es verfügte erstmals, zumindest in der Theorie, über genügend Territorium, um ein Stück davon für einen Frieden einzutauschen.

Ben-Gurion war der einzige führende Repräsentant, der sich der allgemeinen Euphorie entgegenstellte und einen sofortigen – notfalls einseitigen – Rückzug aus allen besetzten Gebieten vorschlug. Wie schon 1948 war er strikt gegen jeden Versuch, das Westjordanland auf Dauer zu besetzen. Aber Ben-Gurion war mittlerweile im Ruhestand. Seit seinem Austritt aus der Arbeitspartei (1965, damals Mapai) war er politisch isoliert. Maßgeblichen Einfluss in der Labour-Regierung hatte jetzt Yigal Allon, der 1948 als junger General Ben-Gurion gedrängt hatte, die vollständige „Befreiung“ (so sein Wort) des gesamten Mandatsgebietes anzuordnen. Allons Hauptkonkurrent um das Amt des Ministerpräsidenten (als Nachfolger von Levi Eschkol) war mit Mosche Dajan ein weiterer Exgeneral. Der so genannte Allon-Plan sah Siedlungen und territoriale Annexionen im Westjordanland vor. Den Palästinensern wäre kaum mehr geblieben als zwei Enklaven in den Hügeln von Samaria und Judäa, umzingelt von israelischen Militärbasen und Siedlungen. Auch sollten sie kein Mitspracherecht über Jerusalem haben.

Der Allon-Plan entfaltete, je länger die politische Lage festgefahren blieb, eine zunehmend expansive Logik, insofern immer mehr Territorium zur Besiedlung und Annexion ausersehen wurde. Die Pläne Dajans waren zwiespältiger und in ihren Auswirkungen weitaus ehrgeiziger. Er war der erste nicht religiöse Spitzenpolitiker, dessen Rhetorik mit einer suggestiven biblischen Bildersprache aufgeladen war. Dajan war der vergötterte Sieger in einem glorreichen Krieg und eine Zeit lang vielleicht der berühmteste Jude seit Jesus Christus. Und wenn ich mich nicht täusche, war er es auch, der später veranlasste, dass der Krieg nach den sechs Schöpfungstagen benannt wurde. Rechte Politiker und religiöse Fundamentalisten beuteten den Sieg von 1967 bis zum äußersten für ihre ideologischen Zwecke aus. Sie gaben dem „Sechstagekrieg“ eine metaphysische, ja pseudomessianische Aura und drängten auf die Annexion aller „befreiten Gebiete“. Damals waren sie allerdings noch eine relativ kleine Minderheit.

Die Konkurrenz der beiden säkularen Exgeneräle um das Amt des Ministerpräsidenten war verheerend, ihre fatalen Folgen wirken bis in die Gegenwart fort. Allon wie Dajan waren – selbst für Politiker – extrem egozentrische Persönlichkeiten und somit blind für die Präsenz der Palästinenser. Die Hoffnungen von über einer Million Palästinenser im Westjordanland und im Gaza-Streifen waren für sie ein untergeordnetes Problem. Sie hatten keinerlei Neigung, diesen Menschen die israelische Staatsbürgerschaft zu gewähren. Etwa 300 000 Palästinenser lebten in Israel und waren als Bürger zweiter Klasse entsprechend verbittert. 1967 belief sich die Zahl der jüdischen Bürger auf 2,7 Millionen, die Zahl aller Araber zwischen Mittelmeerküste und Jordan auf 1,3 Millionen. Es war demnach so, als hätte Frankreich 1938 beschlossen, durch territoriale Ausdehnung 20 Millionen renitente, potenziell subversive Deutsche zu schlucken, während jenseits der Grenzen über 100 Millionen schwer bewaffnete, feindlich gesinnte Landsleute dieser inneren Minderheit lebten. Heute, 35 Jahre später, leben 4,1 Millionen Palästinenser westlich des Jordans, davon 3,1 Millionen im Westjordanland und im Gaza-Streifen, und 1 Million Palästinenser innerhalb der israelischen Grenzen. Und obwohl seit 1967 viele Juden zugewandert sind, liegt ihre Zahl heute bei lediglich 5 Millionen, die Relation zwischen jüdischer und arabischer Bevölkerung beträgt also lediglich 1,2:1. Und die höhere Geburtenrate der Palästinenser wird dazu führen, dass die Palästinenser in zehn bis fünfzehn Jahren die Bevölkerungsmehrheit stellen werden.

Im Sommer 1967 erörterte das israelische Kabinett in selbst für israelische Verhältnisse außergewöhnlich langen Sitzungen, was nun nach dem großen Sieg zu tun sei. Die entscheidende Debatte, bei der es um den Status des besetzten Westjordanlandes ging, begann Mitte Juni an einem Sonntag und zog sich – von kurzen Essens- und Schlafpausen unterbrochen – bis zum darauffolgenden Mittwoch hin. Am Ende entschied man sich, nicht zu entscheiden. Dank dieses Vakuums konnten Dajan, mittlerweile ein nationaler Halbgott, Allon und einige rechtsgerichtete und religiös-fundamentalistische Aktivisten und Landbesetzer dazu übergehen, höchst zweifelhafte Fakten zu schaffen: Siedlungen und so genannte heachsujot (Vorposten), zu denen im Lauf der Jahre mittels offizieller und halboffizieller Regelungen ständig neue hinzukamen. Die Landbesetzer erhielten so allmählich einen legalen Status und großzügige Subventionen und wurden am Ende als nationale Helden gefeiert. Jemand hat über das britische Empire gesagt, es verdanke seine Entstehung einem kurzen Moment der Geistesabwesenheit. Die koloniale Besitznahme des Westjordanlands durch Israel kam unter ähnlich nebulösen Umständen zustande. Zunächst wurde die Sache nur von wenigen Leute ernst genommen. Einige redeten sich ein, es gehe lediglich um eine zeitlich begrenzte Maßnahme. Doch die verantwortlichen Politiker haben es konsequent vorangetrieben, und nicht wenige Minister glaubten ernsthaft, man könne so die Araber unter Druck setzen, sich möglichst bald auf einen Frieden einzulassen, bevor die israelische Seite zu viele „unwiderrufliche“ Fakten geschaffen habe.

Der Minister für Wohnungsbau, der innerhalb der Labour-Regierung als Taube galt und gegen das Siedlungsprojekt war – das er gleichwohl großzügig subventionierte –, machte damals eine zynische Rechnung auf: Nach Aufgabe der Siedlungen würden die USA für jedes umsonst ausgegebene israelische Pfund einen Dollar Entschädigung zahlen. Die wenigen Bürger, die mit politischen und demografischen Argumenten gegen die Siedlungen protestierten, fanden kein Gehör. Gegen die sich herausbildende Koalition aus religiösen und politischen Fundamentalisten hatten sie keine Chance. In der Knesset wurde über das Projekt nie abgestimmt. Finanziert wurde es anfangs vor allem über nichtstaatliche Agenturen wie den United Jewish Appeal (UJA), die Jewish Agency und den Jewish National Fund (JNF). Die US-Regierung rang sich zu einem sanften Protest gegen das Siedlungsprojekt durch, unterließ jedoch alle rechtlichen oder andere möglichen Schritte. Sie hätte zum Beispiel die steuerfreien Spenden an den UJA oder den UJN unterbinden können. Das Kabinett der nationalen Einheit, das man 1967 am Vorabend des Krieges eilends zusammengeschustert hatte, hielt sich noch lange im Amt. Zunächst geführt vom schwachen Levi Eschkol, der kurz nach dem Krieg starb, danach von der Hardlinerin Golda Meir, die für ihren herablassenden Maternalismus berühmt war – und für den Ausspruch: „Wer sind die Palästinenser? Ich bin eine Palästinenserin.“

Die israelische Regierung ließ Washington wissen, man sei bereit, sich als Gegenleistung für einen Frieden aus den besetzten Territorien Ägyptens und Syriens zurückzuziehen. Einen Rückzug aus dem Westjordanland und dem Gaza-Streifen hingegen schloss sie explizit aus. Bis heute gibt es keinerlei Hinweis darauf, dass US-Diplomaten in Kairo oder in Damaskus die Möglichkeit eines Vertrags auf der Basis eines israelischen Rückzugs sondiert hätten. Und auch eine Recherche der New York Review of Books bei den US National Archives unter Berufung auf den Freedom of Information Act brachte nicht ein einziges Telegramm, keinen Bericht oder mündlichen Hinweis zum Vorschein, der darauf hindeuten würde, dass Washington im Sommer 1967 einen Friedensprozess in Gang zu bringen versuchte. Über die Gründe für dieses Versäumnis kann man nur spekulieren. Nicht nur war die US-Regierung offensichtlich ganz froh, dass Israel die wichtigsten Klienten der Sowjetunion im Nahen Osten gedemütigt hatte, sie zeigte auch keine Eile, den arabisch-israelischen Konflikt beizulegen. Der Krieg zwischen Israel und den arabischen Staaten wurde zum Stellvertreterkonflikt – und zum Übungsfeld für die Waffensysteme der beiden Supermächte. Dass der Suezkanal blockiert blieb, kam Washington gerade recht. Der Vietnamkrieg war in vollem Gange und die Johnson-Regierung hatte nichts dagegen, wenn sowjetische Versorgungsschiffe für Nordvietnam gezwungen waren, die lange Route um Afrika zu nehmen. Wenig später verkündeten die arabischen Staaten auf ihrem Gipfeltreffen in Khartoum ihre „drei Neins“: Nein zur Anerkennung, Nein zu Verhandlungen und Nein zu einem Friedensabkommen mit Israel. Danach geschah mehrere Jahre nichts. Mit einer gewissen Schadenfreude beschrieb ein arabischer Israeli das israelische Dilemma mit folgendem Bild: „Statt die Schlange, die sie bedrohte, totzutreten, haben sie sie verschluckt. Jetzt müssen sie mit ihr leben – oder sterben.“

Ein Dilemma ist per definitionem ein Konflikt zwischen zwei gleich unerwünschten Alternativen. Stand Israel wirklich vor einem solchen Konflikt? Das war nicht der Fall, wie wir heute wissen. Es gab sehr wohl eine Chance für den Frieden – mit den Palästinensern im Sommer 1967, mit Jordanien und Ägypten 1971 und 1972. Gleich nach dem Krieg von 1967 führten zwei hohe israelische Geheimdienstler (einer war David Kimche, der später Vizechef des Mossad und dann Staatssekretär im israelischen Außenministerium wurde) Gespräche mit prominenten Führungspersönlichkeiten der Palästinenser im gesamten Westjordanland: mit Intellektuellen, Notablen, Bürgermeistern und religiösen Würdenträgern. Wie Kimche berichtet, zeigten sich die meisten der Befragten bereit, im Westjordanland einen entmilitarisierten Palästinenserstaat aufzubauen, der einen Separatfrieden mit Israel unterzeichnen könnte. Zu der Zeit war die PLO noch eine weitgehend marginalisierte Gruppe.

Der Kimche-Report wurde, soweit wir wissen, von Dajan ad acta gelegt. Dem Kabinett hat er niemals vorgelegen. Doch in der Hybris der ersten Monate nach dem gewonnenen Krieg wäre wohl selbst ein erster Versuch, diese Möglichkeit auszuloten, vom israelischen Kabinett abgelehnt worden. Dajan glaubte fest, so lange man die Eingeborenen freundlich und anständig behandele – was anfangs der Fall war –, werde man den Status quo in den besetzten Gebieten über Generationen aufrechterhalten können. Die Palästinenser waren noch bemerkenswert fügsam; so hatten die Israelis das Westjordanland binnen weniger Stunden erobern können, ohne einen einzigen Schuss abzugeben. Dayan und mit ihm fast das gesamte politische und militärische Establishment waren der Überzeugung, dass nicht nur die Palästinenser, sondern auch Ägypten und Syrien auf Jahrzehnte hinaus keine militärische Bedrohung darstellen würden. Bei einem Besuch in Vietnam soll er auf die Frage von General Westmoreland, wie man einen Krieg gewinne, geantwortet haben: „Vor allem muss man sich als Feind die Araber aussuchen.“ Ein paar Wochen nach dem Krieg äußerte er mir gegenüber: „Westjordanland? Das sind doch nur zwei kleine Städte.“

Wir vergessen zuweilen, dass Spitzenpolitiker ein ganz anderes Leben führen als wir normalen Bürger. In ihren Autoeskorten überfahren sie jede rote Ampel, nicht selten sind sie sogar mit dem Hubschrauber unterwegs. Aus dem Cockpit eines Hubschraubers betrachtet, mag das Westjordanland tatsächlich nicht viel mehr sein als ein halbes Dutzend erbärmlich kleiner Städte. Wie Dajan die Dinge sah, kam auch in einem anderen Interview zum Ausdruck. Auf die Frage, wie Israel einen Frieden zu erreichen hoffe, antwortete er: Indem wir eisenhart da stehen bleiben, wo wir heute stehen, bis die Araber zum Nachgeben bereit sind.

Bis zum Jom-Kippur-Krieg von 1973 vertrat Dajan gegenüber Ägypten die Position, dass es für Israel vorteilhafter sei, Scharm al-Scheich und die halbe Sinai-Halbinsel zu haben statt einen Frieden mit Ägypten, ohne Scharm al-Scheich zu behalten. Nach 1973 änderte sich seine Einstellung zu Ägypten, und er war bereit, den besetzten Sinai aufzugeben. Was das Westjordanland betrifft, blieb Dajan jedoch ein Annexionist. US-Außenminister Henry Kissinger klagte damals, wann immer man sich bei den Israelis nach ihren politischen Absichten für dieses besetzte Gebiet erkundige, erhalte man einfach keine Antwort.

In Wahrheit wurden trotz des dreifachen Nein von Khartoum, schon bald nach dem Krieg von 1967 direkte Verhandlungen mit Jordanien aufgenommen, ab 1970 sogar mit König Hussein persönlich. Noch als Golda Meir öffentlich lamentierte, „wenn sich die Araber doch nur mit uns an einen Tisch setzen und wie anständige Menschen mit uns reden würden“, trafen ihre Abgesandten heimlich mit dem König zusammen. Hussein steuerte sogar seinen eigenen Hubschrauber nach Tel Aviv und ließ sich von Dajan zu einem Bummel durch das Nachtleben ausführen. Der König war zum Frieden unter der Bedingung bereit, dass sich Israel aus dem größten Teil des Westjordanlands und aus Ost-Jerusalem zurückziehen und die muslimischen und christlichen heiligen Stätten in der Altstadt wieder an Jordanien zurückfallen würden. Als Gegenleistung war er bereit, den Israelis Zugeständnisse an den schmalsten Stellen der Küstenebene und bezüglich der Klagemauer in der Altstadt von Jerusalem zu machen.

Aber von diesem Angebot wollte Israel nichts wissen. Inzwischen hatte man Jerusalem „für alle Zeiten“ zur Hauptstadt Israels ausgerufen, nicht ohne zuvor das Stadtgebiet auf das arabische Ost-Jerusalem, aber auch auf Teile des früheren Westjordanlands auszudehnen. Auf diesem Territorium Groß-Jerusalem wurden nun – auf dem enteigneten Grund und Boden von Palästinensern – immer neue Siedlungen errichtet. Zudem hielt man an der neuesten (noch expansiveren) Fassung des Allon-Plans fest. Das war gleichbedeutend mit der Annexion des gesamten Jordantals zwischen dem See Genezareth und dem Toten Meer, der dicht bevölkerten Region südlich von Jerusalem bis Hebron sowie der Hänge des westlichen und nördlichen Berglandes von Samaria im Norden. König Hussein ließ die Israelis wissen, über derart weitreichende Konzessionen müssten sie mit der PLO verhandeln. Im Rückblick ist es geradezu tragisch, dass damals kein Abkommen mit den palästinensischen Führern im Westjordanland oder mit Jordanien zustande kam. Denn vor 30 Jahren waren die Palästinenser noch nicht durch ein Besatzungsregime radikalisiert, das sie zunehmend erniedrigte und ihnen große Teile ihres Grund und Bodens wegnahm, die dann exklusiv von jüdischen Siedlern genutzt wurden. Es existierten weder Hamas noch Hisbollah; die PLO war noch keine international anerkannte Organisation. Hätte es damals ein autonomes palästinensisches Staatsgebilde in friedlicher Koexistenz mit Israel gegeben, wäre die PLO zwar nicht von der Bühne verschwunden, aber sie hätte vielleicht sehr viel weniger Einfluss gehabt. Eine Friedensregelung mit Jordanien hätte die Palästinenserfrage erneut, wie schon vor 1967, zu einem vorwiegend innerjordanischen Problem gemacht.

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Dass es damals zu keiner Friedensvereinbarung kam ist umso tragischer, als die Zahl der Siedler noch relativ begrenzt war. Die nicht einmal 3 000 Leute wären nicht wie heute imstande gewesen, ihr Veto gegen jeden Kompromiss einzulegen. Inzwischen sind im Westjordanland und im Gaza-Streifen rund 200 000 Siedler ansässig, das sind doppelt so viele wie zum Zeitpunkt des Oslo-Vertrags von 1993. Zählt man die 200 000 Menschen dazu, die auf ehemals jordanischem Territorium in Ost-Jerusalem wohnen, so liegt die Gesamtzahl der Siedler inzwischen bei 400 000. Und die Wohnkomplexe wachsen weiter. Man stelle sich vor, was es für den Friedensprozess in Nordirland bedeuten würde, wenn die britische Regierung laufend zu tausenden Protestanten aus Schottland in Nordirland ansiedeln würde, subventioniert mit Regierungsgeldern und auf Land, das man zuvor irischen Katholiken weggenommen hat.

Aufs Ganze gesehen war die Besatzung ein Gewinn bringendes Unternehmen. Bis zur ersten Intifada nach zwanzig Jahren war die Kostenrechnung mehr als ausgeglichen. Zum einen musste die palästinensische Bevölkerung Steuern zahlen, zum anderen entwickelten sich die besetzten Gebiet zwangsläufig zum Absatzmarkt für israelische Produkte und Dienstleistungen. Michael Ben Jair, Generalstaatsanwalt in der Regierung Rabin, schrieb kürzlich in Ha‘aretz: „Der Sechstagekrieg wurde uns aufgezwungen, aber der siebte Tag des Krieges, der am 12. Juni 1967 anbrach, dauert bis heute an und resultiert aus unserer eigenen Entscheidung. Mit Begeisterung sind wir zu einer Kolonistengesellschaft geworden, die internationale Verträge missachtet, Grund und Boden beschlagnahmt, Siedler aus Israel in die besetzten Gebiete verbringt, Diebstahl begeht und für all das noch irgendwelche Rechtfertigungen findet.“ Das sind harte Worte. Doch der tragische Wahnsinn, den ich hier beschreibe, liegt darin begründet, dass Ben Jair solche Ansichten nicht schon vor Jahren, zu seiner Zeit als Generalstaatsanwalt, in einem offiziellen Memorandum zu Papier brachte.

Die Siedler sind im heutigen Israel die stärkste aller politischen Interessengruppen. In den letzten Jahren wurden sie staatlicherseits großzügig unterstützt: mit Subventionen, Landübertragungen und Mietsubventionen, mit Regierungsposten, Steuererleichterungen und besonders gut funktionierenden öffentlichen Dienstleistungen. Bis auf wenige Ausnahmen haben die Siedlungen Israel nicht „sicherer“ gemacht, wie zuweilen behauptet wird. Im Gegenteil. Die Siedlungen machen heute teure Schutzmaßnahmen erforderlich, denn sie liegen weit verstreut innerhalb von Gebieten mit dichter palästinensischer Bevölkerung. Die unvermeidlichen Kontrollen, Ausgangssperren und Gewaltmaßnahmen führen dazu, dass immer mehr Palästinenser immer verbitterter reagieren, zumal sie ständig durch unsensible oder undisziplinierte israelische Rekruten und Reservisten gedemütigt werden.

Dafür zwei Beispiele: Ein komplettes Panzerregiment muss seit Jahren eine kleine Kolonie von nationalistischen religiösen Fanatikern bewachen, die sich in der Altstadt von Hebron, also in einer fundamentalistisch geprägten muslimischen Umgebung angesiedelt haben. Und im Gaza-Streifen liegen einige der fest etablierten, blühenden Siedlungen nur wenige hundert Meter von riesigen Flüchtlingslagern entfernt, in denen die Flüchtlinge bereits in der dritten und vierten Generation leben. Hier bietet sich dem Besucher ein irres Kontrasterlebnis: binnen fünf Minuten legt er gleichsam die Strecke von der südkalifornischen Suburbia nach Bangladesch zurück, vorbei an Stacheldrahtverhauen, Wachtürmen, Suchscheinwerfern, Maschinengewehrnestern und betonierten Straßensperren. Ein bizarrer Anblick, der kalte Angst auslöst.

Voller Wut müssen die Palästinenser zudem mit ansehen, wie ihre Olivenhaine abgeholzt oder von Siedlern niedergebrannt werden. Oder wie ihre Wasserzapfstellen austrocknen und ihre alten Bodenrechte und kostbaren Wasserressourcen konfisziert werden, damit die Siedler nebenan ihre Swimmingpools füllen können. Jeder Siedler verbraucht im Durchschnitt etwa fünfmal so viel Wasser wie ein Palästinenser. Obwohl bei Meinungsumfragen 70 Prozent der Israelis sagen, sie seien für die Aufgabe von Siedlungen, kontrollieren die Siedler und ihre rechtsradikalen und orthodoxen Anhänger heute mindestens die Hälfte der Wählerstimmen. Und sie können ständig mit Bürgerkrieg drohen, falls man ihre Interessen nicht voll berücksichtigt. Den Kern der Siedlerbewegung bilden fanatische Nationalisten und religiöse Fundamentalisten, die genau zu wissen glauben, worüber sich Gott und Abraham in der Bronzezeit unterhalten haben.

Die Siedler sind heute nicht mehr wie früher gesellschaftliche Außenseiter oder illegale Landbesetzer. Viele von ihnen sind aus ganz pragmatischen Gründen zu Siedlern geworden: Weil sie billigere Wohnungen suchten und in einer angenehmeren Umgebung leben wollten, die dennoch für Pendler bequem zu erreichen ist. Fast 25 Jahre lang wurden die Siedler von jeder israelischen Regierung als Patrioten, gute Bürger und gute Zionisten gefeiert. Zumindest im Westjordanland gilt das Siedlungsprogramm schon längst als Grundpfeiler der zionistischen und israelischen Identität. Doch inzwischen gibt es eine zweite Generation von Siedlern, die zwischen sich selbst und anderen Israelis, die in Tel Aviv oder in Tiberias leben, gar keinen Unterschied mehr sehen. Und diese Leute gehen seit dem Ausbruch der jüngsten Intifada und dem Auftauchen von palästinensischen Selbstmordattentätern davon aus, dass sie nicht nur eine Idee verteidigen, sondern auch: „die Heimat“.

Die Folge ist, dass auf beiden Seiten inzwischen die Extremisten die Oberhand haben, die in Israel wie in Palästina jeden Forschritt in Richtung Frieden verhindern. Jeder Tag bringt eine neue Katastrophe, ein Ende ist nicht in Sicht. Auf beiden Seiten haben offenbar die Extremisten die nationale Sache usurpiert: auf palästinensischer Seite die Hamas, auf israelischer Seite die Fanatiker der religiöse Rechten. Diese Entwicklung ist umso tragischer, als dreißig Jahre nach dem ersten Friedensvorschlag König Husseins von 1970 die Regierung Barak einen ähnlichen Friedensplan – jedenfalls unter Vorbehalt – befürwortet hat. In Camp David wurde den Palästinensern auf der – übrigens wohl einmalig schlecht vorbereiteten – Friedenskonferenz von US-Präsident Clinton – und nicht von Barak selbst – eine „Verhandlungsgrundlage“ von mehreren Punkten vorgelegt, die einen Palästinenserstaat vorsahen, in dem die Israelis 9 Prozent des besetzten Westjordanlandes behalten durften. Arafat sah sich jedoch außerstande, diesem Konzept zuzustimmen oder einen überzeugenden Gegenvorschlag zu machen. Nach weiteren Geheimtreffen zwischen israelischen und palästinensischen Diplomaten hat Clinton am 23. Dezember 2000 dann Arafat die „Parameter“ eines verbesserten Plans übermittelt, die das israelische Kabinett akzeptiert hatte. Erst nach zehn Tagen übermittelte Arafat seine Antwort, die Interesse an dem neuen Vorschlag ausdrückte, aber auch Vorbehalte anmeldete. Vertreter beider Seiten trafen sich dann vom 21. bis 27. Januar 2001 im ägyptischen Taba. Mit eingem Erfolg, doch es war zu spät: Clintons Amtszeit war abgelaufen und von Barak wussten alle, einschließlich Arafats, dass er die bevorstehenden israelischen Wahlen verlieren würde.

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Über die Gründe, warum Arafat nicht wenigstens die Grundzüge eines Abkommens eindeutig akzeptiert hat, können wir nur spekulieren. Vielleicht dachte er, die neue Bush-Administration würde ihm bessere Bedingungen anbieten. Oder er hatte jede Hoffnung verloren, die besetzten Gebiete jemals auf dem Wege der Diplomatie unter palästinensische Oberhoheit zu bringen. Vielleicht hoffte er auch, Israel könnte durch den ständigen Einsatz von Gewaltmitteln zur Aufgabe des Westjordanlands und des Gaza-Streifens gezwungen werden, so wie kurz zuvor der Hisbollah-Terror die Israelis aus dem Südlibanon vertrieben hatte. Womöglich zielte er auch immer noch auf eine Art Groß-Palästina, so wie mächtige isarelische Gruppen seit langem ein Groß-Israel errichten wollen, das vom Mittelmeer bis zum Jordan reicht. Scharon hatte lange vorher verkündet, er sei für einen Palästinenserstaat, der östlich des Jordan, also im heutigen Jordanien liege.

Arafat und seine Gefolgsleute haben sicher die Macht und Entschlossenheit Israels wie auch ihre internationale Unterstützung gewaltig unterschätzt. Gegen die These israelischer Hardliner, Arafat strebe mit aller Gewalt nach einem Groß-Palästina, spricht allerdings, dass die Palästinenser in den letzten sieben Jahren 3 Milliarden Dollar in touristische Anlagen investiert haben. Diese Projekte machen Sinn eigentlich nur für einen Palästinenserstaat, den Arafat häufig genug als sein Ziel benannt hat und den Scharon zu verhindern entschlossen ist.

Die israelische Rechte geht davon aus, dass es mit den Palästinensern keinen brauchbaren Kompromiss geben könne. Aber die fast 200 Siedlungen im Westjordanland und im Gaza-Streifen und über 200 000 Siedler auf dem Gebiet von Ost-Jerusalem sind ein latent höchst explosives Potenzial, das jeden denkbaren historischen Kompromiss verhindern kann. Wie viel leichter wäre es heute, wenn Israel sich in etwa auf die Grenzen von 1967 beschränken würde (die es dem Land immerhin erlaubt haben, innerhalb von sechs Tagen drei arabische Länder zu besiegen).

Stattdessen versucht die Scharon-Regierung heute, aus vorwiegend innenpolitischen Gründen entlang dieser Grenzlinie hohe Mauern zu errichten und zahllose weitere Mauern um jede Siedlung und um jede palästinensische Stadt herum. Entlang den Straßen, die zu jeder dieser Siedlungen führen, lässt die Regierung regelmäßig Panzer und Kampfhubschrauber patrouillieren. Dennoch: Israel erleidet schwere Verluste, muss Reservisten einberufen und eine riesige Streitmacht in Jerusalem stationiert halten, um Selbstmordattentäter davon abzuhalten, in jüdische Wohnviertel einzudringen.

In Israel wie in Palästina ist die politische Mitte weggebrochen. Die vielfach erörterte „Zwei-Staaten-Lösung“ ist vielleicht nicht mehr machbar, seit beiden Parteien jegliches Vertrauen in die andere Seite abhanden gekommen ist. Im Namen von Groß-Israel und Groß-Palästina blockieren die Extremisten jeden politischen Fortschritt. Ich benutze die Begriffe „Groß-Israel“ und „Groß-Palästina“ hier bewusst und mit großer Bitterkeit. Denn zu welchen Katastrophen ähnliche „Groß“-Projekte anderswo geführt haben, wissen wir von den Beispielen „Groß-Serbien“ und „Groß-Bulgarien“, dem „Groß-Kroatien“ der Ustascha und der megali idea der Griechen.

Was meint Ariel Scharon, wenn er von dem Ziel spricht, die „Infrastruktur“ des Terrors zu zerstören? Denn wir sprechen ja in Wahrheit nicht von irgendeiner Garage oder Werkstatt, wo die Gürtel mit Sprengstoff und Stahlnägeln präpariert oder die Eigenbaugranaten gebastelt werden. Die wahre Infrastruktur ist viel gefährlicher und besteht aus zwei Elementen: der wachsenden Bereitschaft verbitterter junger Männer und Frauen, sich selbst in die Luft zu sprengen, und der religiösen und politischen Kultur in 21 arabischen Staaten, wo diese Selbstmordattentäter als Märtyrer gefeiert werden. Wie auch immer der Krieg im Irak ausgehen wird, so viel ist sicher: Er wird die „Infrastruktur“ verbreitern und vertiefen – eine diffuse „Infrastruktur“, die selbst von der mächtigsten Luftwaffe nicht zu vernichten ist. Die Amerikaner haben Afghanistan besiegt, aber al-Qaida ist nicht „zerstört“.

Das enorme Siedlungsprojekt nach 1967 war nicht nur ein großes Unrecht, sondern es war auch selbstzerstörerisch und politisch ruinös. Es könnte sogar, ich wage gar nicht daran zu denken, zu einem Zustand führen, der weitaus schlimmer ist, als was wir derzeit erleben.

deutsch von Niels Kadritzke

Dieser Text erscheint nur in der deutschsprachigen Ausgabe

* Israelischer Schriftsteller. Zuletzt erschien: „Zu einer anderen Zeit. Portrait der jüdisch-deutschen Epoche (1743–1933)“ München (Hanser) 2003.

Le Monde diplomatique vom 11.04.2003, von AMOS ELON