11.04.2003

Gesundheitlich günstige Wetterprognose

zurück

Gesundheitlich günstige Wetterprognose

SO schwierig es sein mag für die kleineren der Beitrittsländer, allen Anforderungen der EU zu genügen, eine Norm jedenfalls, wenn es sie denn gäbe, würde EU-Beitrittskandidat Lettland gewiss übererfüllen: die Frauenquote in höchsten Regierungsämtern. Lettland hat eine Regierungschefin und eine Außenministerin. Mit der russischsprachigen Minderheit tut sich das Land schwerer, was historische Gründe hat: Viele Letten der jüngeren Generation stammen aus Familien, deren Eltern, Großeltern oder andere nahe Verwandte in stalinistische Arbeitslager deportiert worden waren. Die Frage der lettischen Unabhängigkeit steht auch beim Beitritt immer wieder im Zentrum.

Von OJARS J. ROZITIS *

Sommer 2002 in Riga, der Hauptstadt Lettlands. Der formelle Entscheid der EU über die Aufnahme der kleinen Ostseerepublik steht zwar noch aus, doch die Zustimmung auf dem Kopenhagener Gipfel in Dezember gilt bereits als sicher. Sitzt man des Abends in einem der zahlreichen Biergärten, die in der warmen Jahreszeit die Hinterhöfe, Gassen und Plätze der Altstadt in Beschlag nehmen, erscheint die Frage des Beitritts unwirklich – und obsolet. Hier ist schon Europa, wie die norddeutsche Backsteingotik belegt. Die Räumlichkeiten der heutigen Philharmonie waren einst Sitz der Großen Gilde der Hanse-Kaufleute, und am Rathausplatz überstrahlt das spätmittelalterliche, erst kürzlich prunkvoll wiederaufgebaute Schwarzhäupterhaus mühelos den benachbarten hässlich-schwarzen Museumsbau aus Sowjetjahren.

Unbeschwerte, selbstbewusste Studenten, Geschäftsleute und Beamten, die mit ihrem Aktenköfferchen zum nächsten Meeting unterwegs sind; kurzärmelige, sorgfältig gegelte Bankangestellte – den allermeisten Passanten könnte man ebenso gut auf der Oxford Street in London oder auf dem Stachus in München begegnen.

Immer wieder ist Europa Thema: „Wie läuft‘s denn bei euch mit der neuen Währung?“, versuchen die Einheimischen von ihrem Gast aus der EU zu erfahren. Aber nach der Schilderung der ersten zwei oder drei Begebenheiten ebbt das Interesse ab. Dafür dudelt aus dem nahen Fenster der Schunkel-Hit der Gruppe Labvcligais tips (in etwa: Gesundheitlich günstige Wetterprognose): „Europa wird uns nicht verstehen / Europa wird uns nicht kennen / Alles, was es braucht / Sind Pilze und Fliegenpapier“. In der Tat ist das Verhältnis der Letten zur EU letzten Endes gespalten: Derzeit reicht die auf 52 Prozent angesetzte Zustimmung zum Beitritt nur knapp – aber bekanntlich hält sich ja auch die Begeisterung der „Alteuropäer“ für die Ost-Erweiterung in Grenzen.

Knapp hinter der Stadtgrenze von Riga ist Europa gleich deutlich weiter weg. Bezogen auf eine Gesamtbevölkerung von 2,33 Millionen Menschen ist die Metropole mit ihren knapp 740 000 Einwohnern eindeutig überdimensoniert. Aber gerade deshalb nimmt sie für sich in Anspruch, das gesamte Land zu repräsentieren.

220 Kilometer weiter südöstlich liegt Latgale, die Grenzregion zu Russland. Die Fahrt dorthin führt durch eine wunderschöne Landschaft. Gemächlich zieht der Hauptstrom des Landes, die Daugava, seine Schleifen. Sanfte Hügel wechseln sich mit dichten Wäldern ab; üppig leuchten Sommerblumen auf den Wiesen; kleine Baumgruppen und Teiche verteilen sich über die Felder; viele Störche, die beinahe jeden westlichen Touristen in Entzücken versetzen, staksen durch ihr Revier. Fast könnte man darüber die Brachen, die halb verfallenen Ruinen ehemals staatlicher Industriebetriebe, die aufgegebenen landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, die heruntergekommenen Plattenbauten übersehen. Irgendwann dann entdeckt man die Hoffnungslosigkeit – in den Gesichtern, den schwieligen, zu ungewolltem Müßiggang gezwungenen Händen, der abgetragenen Kleidung. Von hier aus gesehen könnte Europa ebenso gut hinter dem Mond liegen. Wer den Zeitpunkt verpasst hat, sich in den Dienstleistungssektor zu retten, einen kleinen Laden, eine Werkstatt oder ein Bistro zu eröffnen, steht nach dem Wegfall der traditionellen Ostmärkte und Schließung der Fabriken und Kolchosen oft genug auf der Straße. Zweistellige Arbeitslosenraten sind keine Seltenheit, schwarz gebrannter Schnaps oder der kleine illegale Warenverkehr über die nahen Grenzen geläufiger denn europäische Milchquoten. Nicht einmal zu Protestaktionen nach Art der wütenden polnischen Bauern reicht es hier.

Der Beitritt zur EU – für Lettland ist er noch immer eine in Riga ausgebrütete Kopfgeburt. Hier ist auch der Aufbruch nach Europa am stärksten verankert. Die Motive – durchaus rational, bedingt durch die historische Erfahrung der unfreiwilligen, über fünf Jahrzehnte währenden Trennung von Europa.

Nie wieder Moskauer Diktat, Schutz vor Fremdherrschaft – das Streben in die EU erfolgt zuallererst ex negativo und ist das kleinere Wohl. Denn zu Beginn der 1990er-Jahre war der Terroranschlag des 11. September undenkbar – und damit auch eine rasche Aufnahme in die Nato. Dass eine „robuste“, notfalls militärisch unterfütterte Sicherheit auf der Prioritätenliste Lettlands an erster Stelle stand, lässt sich auch mit der nicht ganz unblutig verlaufenen Trennung von der Sowjetunion und mit der Moskauer Rhetorik vom „nahen Ausland“ als besonderer Interessensphäre erklären. Nur: Vor zehn Jahren hielt die weltpolitische Gesamtlage die Option eines Nato-Beitritts nicht parat, weshalb Europa – auch – eine Lücke schloss.

Seit der endgültigen Wiederherstellung der staatlichen Unabhängigkeit im August 1991 ist der EU-Beitritt jedoch über das gesamte politische Spektrum hinweg Konsens. Die Frage einer Nato-Mitgliedschaft hingegen wird von den Parteien, die sich als postsozialistisch-links verstehen und sich der großen russischen Minderheit im Land verpflichtet fühlen, skeptisch betrachtet.

In der ersten Hälfte der 1990er-Jahre glich die kleine Ostseerepublik zuweilen einem Hund, der zur Jagd nach Brüssel geschoben, wenn nicht gar getragen werden musste. „Ja zu Europa, aber nicht zu diesen Bedingungen“, hieß es vor allem im konservativen Lager. Die Geister scheiden sich bis heute vor allem an der Frage, wie mit dem russischstämmigen und -sprachigen Teil der Bevölkerung zu verfahren sei. Erschwerend kommt hinzu, dass auch die EU in dieser Frage über kein stimmiges Konzept verfügt. Das gängige Verständnis von „ethnischer Minderheit“ oder „Einbürgerung“ taugt nämlich nicht viel, wenn (wie im Falle Lettlands) die Titularnation nach den Besatzungsjahren nur noch 58,4 Prozent der Einwohner stellt, bzw. der Anteil der Nichtstaatsangehörigen bei knapp 23Prozent liegt (Anfang 2003).

„Russische Okkupanten“, die man umgehend dahin „zurückschicken“ solle, wo sie hergekommen seien – dies ist keine Mehrheitsmeinung, aber sie wird häufig genug und nicht selten lautstark kundgetan. Dabei beruft man sich auf das Völkerrecht. Da es sich bei der Eingliederung Lettlands in die UdSSR nach 1941 um eine gewaltsame Annexion gehandelt habe, seien auch deren Folgen ein Unrecht, das es zu beheben gelte, so die Argumentation. Dies gelte im Übrigen für die gesamte vor 1991 erfolgte, gewollt unkontrollierte Zuwanderung aus den übrigen Teilen der UdSSR. Natürlich gibt es insbesondere im russischsprachigen Bevölkerungsteil auch die spiegelbildliche Meinung – die unbeirrbar Gestrigen betrachten das Land gleichsam aus sowjetischer Perspektive als „ihres“, als ein Stück untergegangener sozialistischer Heimat.

Die Schwelle, bis zu der sich eine Integration – insbesondere der russischsprachigen Minderheit – gleichsam im Selbstlauf vollziehen könnte, ist in Lettland bei weitem überschritten. Das Ergebnis sind zwei Kulturen, zwei Volksgemeinschaften, die bis heute in der Regel lieber unter sich bleiben. Einer der ersten wichtigen Schritte Lettlands bei der Reintegration in Europa, die Aufnahme in den Europarat Anfang 1995, drohte lange Zeit an einem Staatsbürgerschaftsgesetz zu scheitern, das der politischen Eingliederung der nichtlettischen Bevölkerungsgruppen geradezu unüberwindbare Hürden in den Weg legte. Auch wenn in der Folge Begriffe wie „Europarat“ oder „OSZE“ in konservativen lettischen Kreisen zu Schimpfwörtern mutierten – dank des sanften, aber nachhaltigen europäischen Drucks wurde ein halbwegs tragbares Naturalisierungsgesetz erarbeitet.

Nicht wenige Letten fanden es im Übrigen seltsam, dass ausgerechnet solche Länder sie zu einer großzügigen Einbürgerungspolitik drängen, die sich mit der Eingliederung ihrer eigenen, viel kleineren ethnischen Minderheiten ungleich schwerer tun – allen voran Deutschland (Ausländeranteil Ende 2000: bescheidene 8,9 Prozent). Letzten Endes aber könnte die Europäisierung Lettlands auf lange Sicht zu einer neuen Qualität im ethnischen Miteinander führen und eine noch verbliebene Trennungslinie überwinden helfen.

Die angehende Grundschullehrerin Tatjana Bakirova aus der westlettischen Hafenstadt Ventspils könnte da ein gutes Beispiel sein. Mitte März erhielt sie als 60 000. Einwohnerin Lettlands ihre Einbürgerungsurkunde, und in ihrer Geschichte, die sie aus diesem Anlass der großen Tageszeitung Diena erzählte, verweben sich sowjetische Nationalitätenpolitik mit neuem staatsbürgerlichem Engagement und europäischer Perspektive. Ihre Eltern, berichtet Tatjana, seien der Tatare Dinaris und die Ukrainerin Vera. Beide hätten sich vor mehr als zwanzig Jahren in Ventspils kennengelernt und beschlossen, eine Familie zu gründen. Zu Hause sei Russisch gesprochen worden, Lettisch habe Tatjana erst später auf dem Musikcollege gelernt. (Und sie spricht es fast akzentfrei, versichert der Journalist.) Zu ihrem Entschluss, die lettische Staatsangehörigkeit zu beantragen, diktiert die junge Frau ihm in die Feder: „Für mich gab es da keine quälenden Überlegungen. Ich habe mir einfach die Frage gestellt: Wenn ich schon in Lettland geboren und aufgewachsen bin und auch nicht vorhabe, das Land zu verlassen – warum soll ich dann abseits bleiben und auf eine vollwertige Teilhabe am Leben hier verzichten? Besser als an Missständen herumzunörgeln ist es, Einfluss zu nehmen.“ Ihr Freund Anatolis sei Russe, aber auch des Lettischen mächtig. Und ihre Kinder sollten zwar Russisch können, aber eine lettische Schule besuchen, wo sie zusätzlich Deutsch oder Englisch lernen sollen: „Das wird ihnen nutzen, wenn wir in der EU sind.“ Und in der Tat: In Gesprächen mit jungen Russen in Lettland klingt nicht selten eine pragmatische Einstellung zur Staatsangehörigkeitsfrage an – wer sich für die kleine Ostseerepublik entscheidet, löst gleichzeitig eine Eintrittskarte in die EU, eine Chance, die sich ihren Altersgenossen in Moskau oder St. Petersburg so bald nicht bieten dürfte.

Die Europäisierung könnte sich aber auch in einer anderen Hinsicht als segensreich erweisen: So stolz die Letten auf ihre eigenständige Republik auch sein mögen – tatsächlich handelt es sich um ein Gemeinwesen, das in so manchem westeuropäischen Flächenstaat allenfalls als größere Kommune gelten würde. Entsprechend „dörflich“ ist die politische Elite: alle Akteure kennen sich schon ewig und gruppieren sich nach Kriterien, die gängige demokratische Mechanismen gleichsam ins Leere laufen lassen. So kursierte Mitte der 1990er-Jahre nicht nur unter spekulationswütigen Journalisten das Bild vom Kampf der „Gepunkteten“ gegen die „Gestreiften“ (gemeint waren die Krawatten der Kontrahenten aus den beiden Lagern); noch immer sind gemeinsame Schuljahre oder Mitgliedschaft in demselben Sportclub ein schlüssiges Erklärungsmuster für wichtige Kooperationen. Ergänzt wird das System informeller Kontakte durch die in den Sowjetjahren eingeübte Praxis des „kleinen“ Dienstwegs: der Anruf bei den richtigen Leuten. Und so franst die res publica an den Rändern aus, es bildet sich Nährboden für die eine oder andere, mehr oder weniger harmlose Gefälligkeit. Auch wenn Brüssel nicht gerade ein Hort demokratischer Tugenden ist – die EU-Integration könnte helfen, politische Prozesse und Entscheidungen in Lettland zu versachlichen und transparenter zu gestalten.

In Latgale ist der Europabeitritt nur selten Thema (wenngleich nicht wenige Fürsprecher darauf hinweisen, dass der Beitritt Lettland auch zur Einhaltung der EU-Sozialstandards verpflichte). Bauern wie Vater Juris und Sohn Janis Pundurs, die in der Gegend von Aizkraukle zusammen fast 1 200 Hektar Land bewirtschaften, kalkulieren hingegen schon heute mit Brüssel und sehen dem europäischen Wettbewerb gelassen entgegen. „Wir haben bereits Fuß gefasst, uns kann nichts mehr passieren. Wir werden Raps und Getreide anbauen“, geben sie Diena wortkarg, aber entschieden zu Protokoll. Sie haben ausgerechnet, dass die Aufnahme Lettlands in die EU ihnen unterm Strich merkliche finanzielle Vorteile bringt.

Ausgerechnet unter den Intellektuellen und Kulturschaffenden in Riga, wo der „Sprung vom Totalitarismus zur Demokratie, zu Transparenz und Freiheit“ besonders stark hervorgehoben wird, wächst auch das Wissen um die Ambivalenz, „dass uns die ‚europäische Schule‘ nebenbei auch den internationalen Drogenhandel und die Kinderpornographie beschert“, wie es die Schriftstellerin Mara Zalite formulierte. Außerdem fürchtet man um die lettischen Eigenarten, für deren Bewahrung bereits die „singende Revolution“ Mitte der 1980er-Jahre angetreten war. „Die baltischen Staaten sind selbstbewusst und emanzipiert genug, um sich einem etwaigen Kulturimperialismus zu widersetzen“, meint die Schriftstellerin. „Wir sind bereit zum uneingeschränkten Dialog mit allen Kulturen, aber wir sind nicht bereit, uns zu verleugnen.“

Ausgerechnet der für Lettland triumphal verlaufene Grand Prix Eurovision de la Chanson 2002 machte deutlich, wie sehr dies frommer Wunsch ist. Einerseits könnte die damalige Siegerin Marija Naumova (alias Marie N) durchaus für ein modernes Lettland stehen: russische Abstammung, allerbeste Lettischkenntnisse, eingebürgert, polyglott, Abschluss in Jura. Andererseits ist ihr Song „I Wanna“ reinster Latino-Pop, der mit einem lettischen Volkslied ungefähr so viel gemein hat wie ein Fahrrad mit einem Fisch. Und bezeichnend auch ihr erstes Statement nach dem Triumph in Tallinn: „Ich hoffe auf eine Karriere in ganz Europa – Lettland ist ein wenig zu klein für mich.“

Erst jüngst hat der bundesdeutsche (staatlich anerkannte) Rechtsextremist Joachim Siegerist, der auch einen lettischen Pass besitzt, die Europafrage zu einem spektakulären Auftritt genutzt: „Stalin hat es nicht geschafft – aber die EU wird Lettland zugrunde richten“, posaunt er aus Hamburg in halbseitigen Anzeigen, die Anfang März in der überregionalen lettischen Presse erschienen sind. Finster warnt er: dank europäischem Kommunalwahlrecht könnten Russen demnächst in Städten, in denen sie die Bevölkerungsmehrheit stellen – etwa in der ostlettischen Metropole Daugavpils, aber auch in der Hauptstadt Riga – einen der ihren zumBürgermeister wählen: „Das Volk muss wissen, ob es so etwas will“ (zum Zweck der wohlfeilen Demagogie verschweigt Siegerist allerdings geflissentlich, dass selbst in Daugavpils und Riga lettische Staatsbürger die Mehrheit stellen – unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit). Sein Nationalismus bedient historisch gewachsene Ressentiments: „Die bürokratische EU-Kommission ist ungefähr so demokratisch wie die KPdSU. Das Europaparlament hat in Wirklichkeit genauso viel zu sagen wie der Oberste Sowjet zu Zeiten Breschnews.“

Lettland und Europa – gewiss, kein leichtes Verhältnis. Aber dass der Beitritt der kleinen Ostseerepublik zur EU an 2 oder 3 Prozent der Stimmen scheitert, die ein Siegerist dagegen mobilisieren könnte – das hat sie bei aller Problematik nun wirklich nicht verdient.

Dieser Text erscheint nurin der deutschsprachigen Ausgabe

* Deutschlandkorrespondent von DIENA, einer Netzausgabe der größten lettischen Tageszeitung.

Le Monde diplomatique vom 11.04.2003, von OJARS J. ROZITIS