11.04.2003

Keine Insel

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Keine Insel

Als Kind konnte ich nie recht verstehen, warum meine engere Familie in Montreal lebte und alle übrigen Verwandten – Großeltern, Tanten, Onkel, Vettern und Kusinen – in den Vereinigten Staaten wohnten.

Wenn wir zu Verwandten nach New Jersey oder Pennsylvania fuhren, erzählten meine Eltern uns Kindern auf den langen Autofahrten vom Vietnamkrieg und von den vielen US-amerikanischen Pazifisten, die sich – genau wie wir – in den 1960er-Jahren über die Grenze nach Kanada abgesetzt hatten. Damals erfuhr ich, dass die kanadische Regierung während des Vietnamkonflikts nicht nur offiziell neutral geblieben war. Nein, sie hatte auch US-amerikanischen Bürgern Zuflucht gewährt, die sich weigerten, in einem Krieg zu kämpfen, den sie für falsch hielten.

Mit diesen romantischen Geschichten nistete sich in meinem Kopf eine Vorstellung ein, der ich in meinem jugendlichen Alter von damals noch nichts entgegensetzen konnte: Ich war der Überzeugung, dass Kanadas Verhältnis zur Welt sich grundlegend von dem der Vereinigten Staaten unterscheide. Ich glaubte, dass wir im Umgang mit anderen Ländern von humaneren Werten geleitet würden, die eine Einmischung in deren Angelegenheiten sehr viel schwerer machten. Kurzum, für mich war Kanada ein souveränes Land.

Seit dieser Zeit war ich ständig auf der Suche nach handfesten Beweisen, die meinen Kinderglauben (oder eher: meinen kindlichen Glauben) untermauern könnten. Vergebens. Bis letzte Woche, als die kanadische Außenpolitik eine Kehrtwende vollzog, die sie weiter als je seit dem Vietnamkrieg von den Vereinigten Staaten entfernte.

Die Haltung Kanadas zur Irakinvasion der USA ist im Grunde eine einzige Heuchelei. Wir haben 31 Soldaten am Persischen Golf und drei Kriegsschiffe in der weiteren Region. Die seien dort, so der kanadische Ministerpräsident Jean Chrétien, als kanadischer Beitrag zum ursprünglichen „Antiterrorkrieg“, hätten also nichts zu tun mit dem nachgeschobenen anderen Krieg gegen den Irak, auch wenn Letzterer offiziell als neue Version des ersteren verkauft wird (wir Kanadier haben nie ganz mit der neuesten Mode Schritt gehalten).

Aber jetzt stehen wir vor einem erstaunlichen Faktum: Nachdem wir jahrzehntelang die Vereinigten Staaten bei jedem ihrer militärischen Feldzüge unterstützt haben, steht Kanada nicht hinter diesem Krieg. Und Ministerpräsident Chrétien stellte die berechtigte Frage: „Wenn man erst einmal mit dem Regimeablösen angefangen hat, wo hört man dann damit auf?“ Ebenso bemerkenswert ist die Position des mexikanischen Präsidenten Vicente Fox. Auch er hat – wenngleich mit Vorbehalten garniert – ganz offen gesagt: „Wir sind gegen diesen Krieg.“

Die vorsichtige, wenn nicht gar ambivalente Haltung beider Länder zu diesem Krieg scheint nicht besonders spektakulär zu sein, wenn man sie mit dem politischen Getöse vergleicht, das aus Europa, China und einem Großteil der arabischen Welt zu vernehmen ist. Und doch stellt die Entscheidung Kanadas und Mexikos für das marodierende US-Imperium womöglich die weit größere Herausforderung dar als das laute Geschrei aus Übersee.

Wenn europäische und arabische Länder sich gegen die Vereinigten Staaten stellen, kommt das ja durchaus nicht unerwartet. Aber Kanada und Mexiko? Wir sind mehr als Freunde, mehr als strategische Bündnispartner der USA. Wir sind die geografische Fortsetzung, der Vor- bzw. der Hinterhof der Vereinigten Staaten, der diesen billige Energie (Kanada) und billige Arbeitskräfte (Mexiko) liefert und natürlich bedingungslose Unterstützung leistet. Denn wir gehören ja angeblich alle zum selben Team, das sich Nafta nennt.

Und genau darum ist die Tatsache so bedeutsam, dass Kanada und Mexiko sich in der Kriegsfrage gegen die Vereinigten Staaten stellen, auch wenn sie versuchen, das nicht unbedingt an die große Glocke zu hängen. Ein Imperium braucht Kolonien, um überleben zu können, also Länder, die ökonomisch so abhängig und militärisch so unterlegen sind, dass sie gar nicht auf die Idee kommen, unabhängig handeln zu wollen.

Die größte Leistung des Nafta-Wirtschaftsraums besteht bis heute darin, bei den engsten Nachbarn und größten Handelspartnern der Vereinigten Staaten die Ängste verstärkt und die Abhängigkeiten verfestigt zu haben. Die Zahlen sprechen für sich: 86 Prozent der kanadischen Exporte und 88 Prozent der mexikanischen Exporte gehen in die Vereinigten Staaten. Wenn die USA, um sich an uns zu rächen, die Grenzen dichtmachen würden, brächen die Volkwirtschaften Kanadas und Mexikos über Nacht zusammen. Und dennoch steht die Mehrheit der Kanadier und Mexikaner hinter der Kriegskritik ihrer Regierung. Dieser Mut ist uns nicht auf einen Schlag zugewachsen, wir haben ihn uns mühsam erarbeitet, mit jeder neuen Demütigung durch die Bush-Regierung.

Nach dem 11. September 2001 waren in Washington plötzlich alle Pläne hinfällig, Millionen nicht registrierten Mexikanern, die ohne jede soziale und rechtliche Absicherung in den Vereinigten Staaten arbeiteten, einen legalen Status zu gewähren. Dieser Schlag hat der Popularität von Präsident Fox im eigenen Lande ernsthaft geschadet. Der Beschluss der Bush-Regierung lief darauf hinaus, statt die mexikanische Grenze zu kanadisieren, die kanadische Grenze zu mexikanisieren. Für kanadische Bürger, die in Ländern geboren sind, die aus Sicht der Vereinigten Staaten eine Bedrohung darstellen, ist die Einreise in die Vereinigten Staaten zu einer einzigen Demütigung geworden – mit Fingerabdrücken und Fotos wie für das Verbrecheralbum.

Und noch ein Faktor hat uns dabei beflügelt, diese neue Art von Mut gegenüber den USA zu entwickeln: Es ist leichter, die Handelsbeziehungen aufs Spiel zu setzen, wenn die Strategie des „freien Handels“ ihre vielen Versprechungen nicht eingelöst hat. Vor kurzem stand in der Washington Post, dass heutzutage 19 Millionen mehr Mexikaner unterhalb der Armutsgrenze leben als vor zwanzig Jahren, obwohl sich das mexikanische Handelsvolumen seit Gründung der Nafta verdreifacht hat.

Nachdem sich Mexiko und Kanada jüngst entschlossen haben, im Fall Irak ihre Unabhängigkeit von den USA zu erklären, geschieht etwas ganz Erstaunliches: nichts. Washington droht nicht mit Vergeltungsmaßnahmen, ja nicht einmal mit der Beeinträchtigung der bestehenden Beziehungen. Der US-Botschafter in Ottawa äußert lediglich seine „Enttäuschung“. Und die amerikanische Öffentlichkeit nimmt unseren Schritt nicht einmal zur Kenntnis, weil sie zu sehr damit beschäftigt ist, auf Frankreich herumzuhacken.

Hier genau liegt die eigentliche Bedeutung der Position, zu der sich die Kanadier und die Mexikaner durchgerungen haben: Jedes Imperium, und sei es noch so mächtig, ist zugleich auch schwach. Hinter seiner einschüchternden Macht verbirgt sich die Tatsache, dass es auf Raub angewiesen ist. Dass es von den kolonisierten Gebieten abhängt, deren Rohstoffe und Arbeitskräfte es ebenso benötigt wie gewisse Territorien für Militärstützpunkte.

Kanada wie Mexiko mögen den USA ausgeliefert sein, wenn sie auf sich allein gestellt sind. Aber wenn sie sich zusammentun? Dann sieht es schon ganz anders aus. Zusammen bilden sie einen Markt, der 36 Prozent der US-amerikanischen Exporte aufnimmt. Zusammen liefern sie den Vereinigten Staaten 36 Prozent ihrer importierten Energie und 26 Prozent ihrer Ölimporte.

Die USA sind eben doch keine Insel, sosehr ihre politische Führung sich das auch einbilden mag. Ihre gemeinsame Grenze mit Kanada und Mexiko ist 12 000 Kilometer lang – und ohne uns nicht zu schützen.

Während man in Europa also vor dem Aufkommen eines neuen imperialistischen Zeitalters warnt, nehmen wir in Nordamerika ironischerweise genau das Gegenteil wahr: die überraschende Verwundbarkeit einer Supermacht. Diese Macht kann vielleicht auf die Vereinten Nationen verzichten, und sie kann wahrscheinlich ohne Frankreich auskommen. Aber sich und ihre Bevölkerung in ökonomischer Hinsicht wie vor physischer Bedrohung zu schützen, ohne dass Mexiko und Kanada dabei mithelfen – das ist für die Vereinigten Staaten so unmöglich wie eine Loslösung von unserem Planeten. Was lernen wir daraus? Dass es ohne fügsame Kolonien kein übermächtiges Imperium gibt. Die Erkenntnis wird weit reichende Folgen haben.

deutsch von Niels Kadritzke

Dieser Text erscheint nur in der deutschsprachigen Ausgabe

* Kanadische Journalistin und Autorin des internationalen Bestsellers „No logo!“, München (Bertelsmann) 2001. Zuletzt erschien „Über Zäune und Mauern. Berichte von der Globalisierungsfront“, Frankfurt (Campus) 2003.

Le Monde diplomatique vom 11.04.2003, von NAOMI KLEIN