Der Mord an den Trappisten von Tibhirine
Von THOMAS SCHMID *
ALS 1997 bei Massakern in Algerien ganze Dorfgemeinschaften hingemetzelt wurden, war die Öffentlichkeit über den Terror islamistischer Fanatiker schockiert. Nur wenige kritische Stimmen warfen die Frage auf: „Wer tötet hier eigentlich wen?“. Der französische Philosoph Bernard-Henri Lévy beschied solche Häretiker barsch: „Die Massaker und diejenigen, die sie verüben, zu stoppen, das ist die einzige Frage, um die es gehen kann, der Rest ist unverantwortliches Geschwätz, eine Beleidigung der Opfer.“ Dass die Islamisten die Massaker verübten, stand für ihn außer Frage. André Glucksmann, ebenfalls französischer Philosoph, warnte: „Wer eine Untersuchungskommission verlangt, will die eigentlichen Verbrechen nicht benennen.“ Und er meinte damit die Verbrechen der Islamisten. Just Philosophen, Vertreter einer Wissenschaft also, für die der Zweifel ein konstituierendes Moment par excellence ist, tabuisierten Fragen und verlangten ein Bekenntnis. Lévy und Glucksmann waren von der algerischen Regierung an die Stätten der Verbrechen eingeladen worden und durften sehen, was man ihnen zeigte. Beide schrieben lange Reportagen, die in den prominentesten Zeitungen Europas und der USA erschienen. Beide haben an der Verschleierung einer grausamen Realität mitgewirkt.
In Algerien ist die Frage nach der Verstrickung von Armee und Geheimdienst in den islamistischen Terror noch immer weitgehend tabuisiert. Doch in Europa kommt die Wahrheit häppchenweise ans Licht. Am 10. Februar hat in Paris ein Strafprozess begonnen, der – weit über den Casus Belli hinaus – ein neues Licht auf die Auseinandersetzungen werfen könnte, denen zehntausende Menschen zum Opfer fielen. Es geht um den Mord an sieben französischen Mönchen im Frühling 1996 etwa siebzig Kilometer südlich von Algier. Die Klage hatte der ehemalige Präsident der „Internationalen Föderation der Menschenrechts-Ligen“ (FIDH) Patrick Baudouin erst im vergangenen Dezember eingereicht – im Namen der Familie Lebreton und im Namen von Pater Armand Veilleux. Christophe Lebreton war mit 45 Jahren der jüngste der ermordeten Trappistenmönche, Armand Veilleux war zur Tatzeit Generalprokurator des Zisterzienserordens, dem die Trappisten angehören.
Am 27. März 1996, um 1.15 Uhr nachts, tauchten vor dem Kloster Tibhirine, das zwischen den Städten Medea und Blida liegt, 20 bewaffnete Männer auf und entführten sieben Mönche. Am 26. April publizierte die in London erscheinende arabische Zeitung Al Hayat das Kommuniqué Nummer 43 der GIA, in dem die damals berüchtigtste islamistische Terrorgruppe Algeriens die Verantwortung für die Entführung übernahm. Gezeichnet war das Kommuniqué von GIA-Chef Djamel Zitouni. Am 21. Mai verkündeten die GIA in ihrem Kommuniqué Nummer 44: „Der Präsident Frankreichs und sein Außenminister haben erklärt, dass sie mit den GIA nicht verhandeln. Sie haben den Faden des Dialogs abgeschnitten. Wir unsererseits haben nun den sieben Mönchen die Hälse abgeschnitten.“ Unterzeichner war wieder Djamel Zitouni. Am 31. Mai gaben die algerischen Behörden bekannt, die Leichen der sieben Mönche seien aufgefunden worden. Das Drama der enthaupteten Trappisten erschütterte damals ganz Frankreich. Vor nichts schreckten diese Islamisten also zurück! Die Kritik an den algerischen Sicherheitskräften, die bei der Bekämpfung des Terrors ja nicht gerade zimperlich vorgingen, verstummte. Was sich in den zwei Monaten zwischen der Entführung und den Morden abgespielt hat, das soll nun in einem Pariser Gerichtssaal geklärt werden.
Der Nebenkläger Armand Veilleux, der heute Abt in einem Zisterzienserkloster in Belgien ist, geht nach jahrelanger Recherche davon aus, dass bei der Entführung der Mönche die algerische Armee Regie geführt hat; dass es darum ging, Öffentlichkeit und Politiker Frankreichs von der islamistischen Gefahr zu überzeugen; dass im Übrigen aber der Mord an den Mönchen von den Militärs nicht beabsichtigt war. Zitouni, so viel scheint festzustehen, kann die von ihm unterschriebenen Kommuniqués nicht verfasst haben. Sie sind in klassischem Hocharabisch geschrieben, das er als ungebildeter ehemaliger Geflügelhändler nicht beherrschen konnte. Und Zitouni, dafür spricht vieles, war seit 1994 nicht nur GIA-Chef, sondern auch Agent des Geheimdienstes der algerischen Armee.
Der Erste, der dies behauptet hat, war Hauptmann Ahmed Chouchane, der wegen „subversiver Machenschaften“ drei Jahre im Gefängnis saß. Kurz nachdem er 1995 entlassen worden war, schlug ihm nach eigenen Aussagen General Kamel Abderrahmane, der Chef des für die Armee zuständigen Zweigs des militärischen Geheimdienstes, vor, Zitounis Stellvertreter zu werden. Der General habe ihm gesagt: „Zitouni ist ein Mann von uns.“ Chouchane lehnte ab. Er genießt heute politisches Asyl in Großbritannien.
1997 gab Ali Benhadjar, zur Tatzeit Mitglied eines GIA-Trupps, der in der Region des Klosters von Tibhirine operierte, bekannt, Zitouni habe von seiner Gruppe verlangt, die Mönche zu entführen. Sein Führer aber habe dies abgelehnt, weil man den Trappisten schon im Dezember 1993 bei einem Besuch das aman, das heißt ein beeidigtes Versprechen, gegeben habe, sie nicht anzugreifen. Die Mönche hätten nämlich versprochen, ihnen wie allen Menschen – egal ob Militärangehörigen, Bauern oder Islamisten – medizinische Hilfe zu gewähren. Auf die Weigerung hin habe Zitouni andere GIA-Gruppen eingesetzt. Der GIA-Chef, so behauptete Benhadjar in seiner schriftlichen Erklärung von 1997, sei vom militärischen Geheimdienst manipuliert gewesen.
Kurz vor Weihnachten 2002 meldete sich aus dem fernen Thailand Abdelkader Tigha zu Wort, der 1996 in Blida, etwa 30 Kilometer vom Trappistenkloster entfernt, Offizier des militärischen Geheimdienstes DRS war. Er war 1999 aus Algerien geflüchtet, hatte sich nach Syrien abgesetzt, wo er die französische Botschaft kontaktierte und erklärte, er sei bereit, sein geheimdienstliches Wissen auszupacken, wenn man ihm politisches Asyl gewähre. Damaskus schien den Franzosen ein riskantes Pflaster, und so verabredete man Gespräche in Thailand. Im Januar 2000 wurde Tigha in Bangkok von drei französischen Geheimdienstlern kontaktiert, die ihm allerdings kein politisches Asyl versprechen konnten, zumal nicht klar war, ob er möglicherweise selbst an der Folterung und Tötung von Islamisten beteiligt gewesen war, Verbrechen, die er seinen ehemaligen Vorgesetzten und Kollegen vorwarf. Als sein Touristenvisum im April 2000 auslief, wurde er von der thailändischen Polizei in Auslieferungshaft genommen. Im vergangenen September gelang ihm die Ausreise nach Jordanien. Seit Dezember sitzt er in Amsterdam, wo er politisches Asyl fordert, in Auslieferungshaft.
Was Tigha in Bangkok einem Reporter der französischen Tageszeitung Libération erzählte, ist höchst brisant. Er behauptete, dass Mouloud Azzout, die rechte Hand von GIA-Chef Djamel Zitouni, am 24. März 1996 in seiner Kaserne aufgetaucht sei, daselbst übernachtet und am Morgen ein zweistündiges Gespräch mit Smail Lamari, der damaligen Nummer zwei des militärischen Geheimdienstes, geführt habe. In der Nacht vom 26. auf den 27. März seien dann zwei Kleinbusse vorgefahren. „Wir glaubten, es seien festgenommene Terroristen“, gab Tigha zu Protokoll, „aber es waren die sieben Mönche, sie wurden von Mouloud Azzout verhört.“ Zwei Tage später habe Azzout die Mönche ins geheime Hauptquartier des GIA-Chefs gebracht. Von dort seien sie später an eine Gruppe der GIA ausgeliefert worden, die sich der Kontrolle der GIA-Spitze entzogen habe. Der DRS forderte von Djamel Zitouni die Rückgabe der Gottesmänner, und als sich der GIA-Chef zu jener Gruppe aufmachte, geriet er in einen Hinterhalt der AIS, einer verfeindeten islamistischen Truppe, die ihn ermordete. Mouloud Azzout, seine rechte Hand, kehrte in die Kaserne von Blida zurück, wo er noch zwei Wochen lebte und vermutlich umgebracht wurde.
Tighas Enthüllungen könnten eine Erklärung dafür bieten, weshalb die GIA nicht – wie es ihre übliche mörderische Praxis war – die Mönche sofort an Ort und Stelle töteten und weshalb es einen ganzen Monat dauerte, bis das Kommuniqué Nummer 43 mit der Forderung an Frankreich, Gefangene auszutauschen, erschien: Es ging den geheimdienstlichen Organisatoren der Entführung darum, über eine Geiselnahme die französische Öffentlichkeit zu mobilisieren. Die Querelen zwischen den islamistischen Gruppen, denen die Mönche – vermutlich gegen den Willen der Auftraggeber der Entführung – zum Opfer gefallen sind, haben es verunmöglicht, sofort Forderungen zu stellen. Der Emissär der GIA, der am 30. April 1996 zwecks Verhandlungen Kontakt mit der französischen Botschaft in Algier aufnahm, wurde schon kurz danach ermordet – möglicherweise weil der algerische Geheimdienst sich von den Franzosen nicht in die Karten gucken lassen wollte. Die algerische Justiz hat im Fall der Ermordung der Trappistenmönche keine Ermittlungen geführt, deren Resultate öffentlich geworden wären.
Wenn Zitouni, der Chef der damals stärksten islamistischen Terrortruppe, tatsächlich für den militärischen Geheimdienst gearbeitet hat, wenn die GIA von diesem auch nach Zitounis Tod im Wesentlichen gesteuert waren, erscheinen die Massaker an ganzen Dorfgemeinschaften, die auch nie ernsthaft aufgeklärt wurden, in neuem Licht. Sind aber der islamistische Emir Benhadjar und die beiden abgesprungenen Geheimdienstler Chouchane und Tigha glaubwürdig? Man mag es bezweifeln. Doch angesichts der weitgehend übereinstimmenden Aussagen, die zudem vieles erklären, was bisher nicht stimmig schien, erstaunt es, dass die französische Justiz erst jetzt – acht Jahre nach der Tat, und erst auf Drängen von Abt Armand Veilleux – ein Verfahren eröffnet hat. Ungewöhnlich, wenn man bedenkt, dass die Opfer Franzosen waren. Allenfalls verständlich, wenn man die traditionell gute Kooperation zwischen algerischen und französischen Geheimdiensten in Betracht zieht.
© Le Monde diplomatique, Berlin
* Lebt als freier Journalist in Berlin.