Im Namen der Tugend
ZOHRA M. ist 42, arbeitet als Laborantin und ist unverheiratet – wie 20 Prozent der Algerierinnen, die in Städten leben. Bis 2010 werden es wohl 30 Prozent sein. Zohra wohnt allein, in einem Mietshaus im Zentrum von Algier. Immer wieder sind obszöne Kommentare auf ihren Briefkasten oder auf die Wohnungstür geschmiert. „Für diese Idioten ist die Sache klar“, meint sie resigniert. „Dass ich allein lebe, heißt für sie, dass ich eine lockere Moral habe. Gott sei Dank bekomme ich regelmäßig Besuch von meinem Bruder. So wissen sie wenigstens, dass es einen Mann in der Familie gibt. Das hält sie hoffentlich von Übergriffen ab.“
Trotzdem ist Zohra M. sehr vorsichtig. Sie wagt nicht, Freunde oder gar einen Verehrer nach Hause einzuladen. „Damit würde ich mir selbst das Urteil sprechen“, erklärt sie mit düsterer Miene. Sie weiß, dass Angriffe gegen unverheiratete Frauen zunehmen und dass die Behörden sich dafür wenig interessieren. Nach den Übergriffen gegen ledige Frauen in Hassi Messaoud im Juli 2001 wurde gegen die Täter kaum ermittelt. Derartige Strafexpeditionen, angeführt von frommen Eiferern im Namen der Tugend, kommen in vielen Städten und Dörfern Algeriens vor. Sie richten sich gegen Frauen, deren einziges Verbrechen darin besteht, dass sie allein leben.
„Wir kommen nicht um die Tatsache herum, dass die Zahl unverheirateter Frauen zunimmt. Der Staat muss rasch reagieren, um zu verhindern, dass sich die Gewalt in der Gesellschaft gegen diese Frauen wendet“, warnt eine Justizbeamtin. Ihrer Ansicht nach ist es dringend geboten, das geltende Personenstandsrecht vollständig außer Kraft zu setzen. Der algerische Code de la famille erlaubt die Vielehe und stellt die algerischen Frauen ihr ganzes Leben lang unter männliche Vormundschaft. Am 9. Juni 1984 ist es von den Abgeordneten der damaligen Einheitspartei FLN verabschiedet worden. Anlässlich des „Jubiläums“ mobilisieren die algerischen Frauenvereinigungen für eine Kampagne zur Abschaffung der Vorschriften, Motto: „20 ans, barakat!“ („20 Jahre sind genug!“). „Den Frauen hat der Sieg über die Terroristen überhaupt nichts gebracht“, empört sich Nadia, eine Journalistin. „Das Regime hat sich unserer bedient, als es Unterstützung im Ausland brauchte, aber jetzt will man den Islamisten nur nicht zu nahe treten.“
Tatsächlich vermeiden die fünf männlichen Präsidentschaftskandidaten jede konkrete Aussage über die Rechte der Frauen – sie denken an die Wählerstimmen aus dem islamistischen und gemäßigt islamischen Lager. Von einer Abschaffung oder auch nur Änderung des Familienrechts war in ihrem Wahlkampf nie die Rede. Aber es gibt eine Alternative. Erstmals bei algerischen Präsidentschaftswahlen kandidiert eine Frau, Louisa Hanoune, Feministin, Vorsitzende der trotzkistischen Arbeiterpartei (PT) und Mitgründerin der Vereinigung für Gleichheit vor dem Gesetz, die den Code de la famille bekämpft. Im Frühjahr 2003 wurde Präsident Bouteflika mit der Aussage zitiert, er werde die Bestimmungen durch Präsidialdekrete ändern, doch davon war seither nichts mehr zu hören. Inzwischen muss sich Algerien in dieser Frage sogar von Marokko beschämen lassen: König Mohammed VI. hat eine Reform der mudauana, des marokkanischen Familienrechts, dekretiert.