12.03.2004

Friede und nichts zu feiern

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Friede und nichts zu feiern

Bei den Wahlen am 8. April wird Präsident Bouteflika wieder kandidieren. Sein aussichtsreichster Gegner ist Ali Benflis, Chef der ehemaligen Einheitspartei FLN. Die algerische Gesellschaft, traumatisiert durch zehn Jahre Bürgerkrieg, interessiert sich aber weniger für das politische Stühlerücken als für den alltäglichen Kampf ums Überleben. Dabei erzielt das Land dank hoher Einnahmen aus dem Ölexport enorme Gewinne. Zugleich meldet sich der politische Islam zurück.

Von LYES SI ZOUBIR *

SONNTAG, 8. Februar 2004: Algerien liegt im Fußballfieber. Aus Tunesien wird das Viertelfinale des Afrika-Cups übertragen, Marokko gegen Algerien, und fast jeder sitzt vor dem Fernsehapparat. Sechs Minuten vor Spielende geht Algerien in Führung und hat damit die nächste Runde praktisch in der Tasche.

Keinen hält es mehr auf dem Sitz. Ohne den Schlusspfiff abzuwarten, stürmen Millionen auf die Straßen. Es ist ein einziger Freudentaumel von Tlemcen bis Annaba, von Algier bis Tamanrasset. „So etwas hat es seit 1990 nicht mehr gegeben“, sagt der Architekt Hamid Mokrani. Damals hatte Algerien zu Hause den Afrika-Cup gewonnen. „Sogar Leute, die sich sonst nichts aus Fußball machen, waren völlig begeistert.“ Doch den Marokkanern gelingt wenige Sekunden vor dem Schlusspfiff der Ausgleich, und in der Verlängerung schießen sie das Siegtor. Algerien ist ausgeschieden.

„Wir waren am Boden zerstört und heulten vor Wut“, erzählt Hamid. „Es wurde geflucht, manche gerieten völlig außer sich, und es gab Prügeleien zwischen Leuten, die sich fünf Minuten vorher noch in den Armen gelegen hatten. Wir hatten uns so sehr etwas zum Feiern gewünscht – aber wieder mal waren wir die Dummen.“

Die Geschichte geht noch weiter: Am nächsten Tag verbreitete sich das Gerücht, die Marokkaner seien wegen Dopings disqualifiziert und Algerien nachträglich zum Sieger erklärt worden. Eine Falschmeldung – aber sie machte rasend schnell die Runde. Trotz ständiger Dementis in den Medien kam es über Stunden zu neuen Begeisterungsausbrüchen im ganzen Land, noch heftiger als am Vorabend. „Es war der Wahnsinn“, seufzt Aziz Chellig, ein 38-jähriger Geschäftsmann aus Oran. „Frauen mit ihren Juju-Trillern und ein andauerndes Hupkonzert. Und überall hörte man, das Ergebnis sei offiziell, es sei schon bei al-Dschasira und auf Eurosport bekannt gegeben worden. Tbahdlila – was für eine Erniedrigung!“

„Ich habe es auch geglaubt“, fügt Hamid Mokrani hinzu. „Irgendwo im Hinterkopf wusste ich, dass es so ein Gerücht schon mal gab, 1982 nach einer Niederlage Algeriens bei der Weltmeisterschaft. Aber ich wollte einfach dran glauben! Dabei war es schon naiv zu denken, wir würden weiterkommen. Was nicht geht, geht eben nicht!“ Sie hatten gegen den feindlichen Bruder Marokko verloren, sich abgrundtief lächerlich gemacht, und noch dazu mussten sich algerische Fans in Tunesien von der Polizei verprügeln lassen.

Die Ereignisse des 8. Februar werfen ein Schlaglicht auf die tiefe Depression, in die die algerische Gesellschaft seit Ende der 1990er-Jahre versunken ist. Alle hatten harte Zeiten durchmachen müssen, und: „Die Wunden sind noch nicht verheilt“, sagt ein ehemaliger Minister der Regierung unter dem alten Militärmachthaber Houari Boumedienne. „Alle warten verzweifelt auf gute Nachrichten, auf irgendeinen Anlass, sich unbeschwert zu freuen und die Jahre des Unheils, des Terrorismus und der Katastrophen einmal zu vergessen.“

„Es gibt schlimmere Phänomene“, stellt ein renommierter algerischer Mediziner fest. „Viele der Älteren, die im Unabhängigkeitskrieg gekämpft haben, aber seit den 1990er-Jahren allmählich ins Abseits gedrängt wurden, kümmern sich inzwischen auch nicht mehr um ihre Gesundheit. Sie haben den Kampf aufgegeben.“ Ein ähnlicher, nicht weniger tragischer Rückzug findet auf einer anderen Ebene statt – auch dies ein Zeichen der aktuellen sozialen Depression. Im letzten Jahr gab der algerische Verband der Psychiater bekannt, dass die Zahl der Selbstmorde und Selbstmordversuche seit fünf Jahren beständig zunehme. Nach offiziellen Angaben gibt es heute zwei bis fünf gelungene und 34 versuchte Selbsttötungen pro 100 000 Einwohner.

Diese Quote liegt noch immer bei nur einem Zwanzigstel des Durchschnitts in den europäischen Ländern, doch die Psychiater schlagen dennoch Alarm. Wie die meisten seiner Kollegen hält auch Professor Mohammed Boudef, Leiter der psychiatrischen Klinik in Annaba, die offiziellen Zahlen für zu niedrig angesetzt. Die Fachmediziner beklagen vor allem das Fehlen jeglicher Vorsorge gegen Suizid. Tatsächlich ist seine Klinik die landesweit einzige, in der selbstmordgefährdete Patienten betreut werden können – angesichts der Folgen von zehn Jahren der Angst und Gewalt ein unhaltbarer Zustand. „Ganz abgesehen von den offenen Fragen nach der Straffreiheit für die Täter und dem Schicksal der Verschwundenen – die Machthaber sind zudem unfähig, durch gesundheitspolitische Maßnahmen die psychischen und physischen Folgen zu lindern“, meint Professor Boudef. Er nennt eine erschreckende Zahl: Nach Schätzungen waren eine Million Jugendliche unter fünfzehn Jahren Opfer oder Zeugen von Terrorakten. Aber nur ganz wenige von ihnen erhielten danach psychologische Hilfe.

Für das algerische Regime gilt das Kapitel der Gewalttaten als abgeschlossen, von der gesellschaftlichen Traumatisierung will es nichts wissen. Nach einer Statistik des Innenministeriums starben 2003 weniger als 1 500 Menschen bei Kampfhandlungen mit Terroristen, davon angeblich 450 Mitglieder des bewaffneten islamischen Widerstands. Verglichen mit der jährlichen Unfallstatistik mit ihren mehr als 4 000 Toten wenig, und erst recht unerheblich, wenn man die 100 000 bis 200 000 Toten aus Algeriens „dunklem Jahrzehnt“ heranzieht.

Glaubt man den Angaben des Generalstabs der Armee, so sind die bewaffneten islamistischen Gruppierungen völlig zersplittert. Das gelte etwa für die Salafistische Gruppe für Predigt und Kampf (GSPC), lange Zeit die am besten organisierte unter den Gruppen, die das Regime mit Waffengewalt besiegen und eine islamische Republik errichten wollen.

Hassan Hattab, der einstige „Emir“ der GSPC, lebt angeblich seit seiner Entmachtung isoliert in der Kabylei östlich von Algier, sein Nachfolger Nabil Sahraoui (Abu Ibrahim) soll die letzten 500 Kämpfer Anfang 2003 ins östliche Grenzgebiet verlegt haben. Andererseits verantwortete die GSPC noch die Entführung der 32 europäischen Saharatouristen, von denen die Letzten erst im August 2003 freikamen. Den als besonders blutrünstig geltenden Bewaffneten Islamischen Gruppen (GIA) rechnen die Militärs heute nur noch dreißig Kämpfer zu. Bleiben noch einige Splittergruppen, die in den ländlichen Gebieten aktiv sind.

„Die Zeiten, als die GIA mehrere katibat, Kompanien von je hundert Mann, aufstellen konnten, sind vorbei“, meint ein Sicherheitsexperte, der anonym bleiben will. „In den Städten hat sich ihr Unterstützernetzwerk weitgehend aufgelöst, und die Kampfverbände im Untergrund konnten gegen die massiven Einsätze der Armee nicht bestehen. Aber es gibt kleine, sehr bewegliche Einsatzgruppen, die noch jahrelang zuschlagen können, weil sie sich vor Ort sehr gut auskennen und wissen, wie man überlebt. Sollte sich die politische Lage erneut destabilisieren oder der politische Islam wieder an Einfluss gewinnen, dann könnten diese Gruppen zu einer ernsten Bedrohung werden.“

Das weiß auch die Bevölkerung, doch im Augenblick hat sie andere Sorgen. Obwohl der am 9. Februar 1992 ausgerufene Ausnahmezustand noch nicht aufgehoben ist, versuchen die Menschen seit einigen Jahren, zur Normalität zurückzufinden. Auf den Titelseiten der unabhängigen Zeitungen fehlt es nicht an optimistischen Kommentaren: Der Terror gilt als überwunden, die Zeiten, als man mit Ausgangssperren des Militärs, Straßensperren der Untergrundkämpfer oder mit nächtlichen Überfällen von Unbekannten in der Uniform der Ordnungskräfte rechnen musste, sollen vorbei sein.

„Wir beginnen aufzuatmen“, meint Faysal R., ein 40-jähriger Ingenieur, der in An Naadscha wohnt, einer Vorstadtsiedlung im Südosten von Algier. Allzu entspannt wirkt er nicht. „Es gab Zeiten, da konnte ich kaum noch schlafen. Nachts habe ich auf jedes Geräusch gelauscht, versuchte herauszufinden, woher das Gewehrfeuer kam, und beim kleinsten Knarren einer Treppenstufe bin ich aufgesprungen. Inzwischen schlafe ich besser, aber ich gehe morgens immer noch mit einem unguten Gefühl aus dem Haus. 1996 habe ich einen abgeschlagenen Kopf auf dem Auto eines Nachbarn gefunden. Wir haben nie erfahren, wer der Tote war.“

Auch Vertreter der politischen Opposition geben gern zu, dass die Zahl der Gewaltakte zurückgegangen ist, doch sie warnen vor jedem Triumphalismus. „Zweifellos haben die Menschen weniger Angst“, meint ein Führungsmitglied des sozialdemokratischen Front des forces socialistes (FFS), der für den Dialog mit den Islamisten eintritt. „Die Mehrheit ist überzeugt, dass die bewaffneten Gruppen besiegt sind. Aber das bedeutet nicht das Ende der Gewalt.“ In den großen Städten gibt es keine Anschläge mehr, aber außerhalb sieht es anders aus. Viele Straßen, vor allem im Westen und in der Mitte des Landes, sind noch unsicher, und in den abgelegenen Dörfern werden bei Nacht weiterhin Menschen abgeschlachtet.

Anlass zur Sorge gibt auch der allgemeine Anstieg der Kriminalität. In den Medien wird ständig von hinterhältigen Anschlägen und bewaffneten Raubüberfällen berichtet. Die Privatwirtschaft hat längst begonnen, sich gegen die alltägliche Gewalt zu schützen.Tewfik B., ein 35-jähriger Exmilitär, fand nach seiner Entlassung aus dem Dienst sofort einen Job als Leibwächter. „Offiziell gibt es diese Tätigkeit nicht“, sagt er. „Aber man wird gut bezahlt. Ich werde angefordert, wenn ein bedeutender Geschäftsmann in Algier mit einer großen Summe Bargeld unterwegs ist. Nicht selten lasse ich mich von zwei oder drei früheren Militärkameraden begleiten, die zum Monatsende finanziell über die Runden kommen müssen.“

Im Mai 2003 veröffentlichte der Nationale Wirtschafts- und Sozialrat (CNES) einen ausführlichen Bericht über die Zunahme der Straftaten. Er wies darin auf den zunehmenden Einfluss der organisierten Kriminalität in den Bereichen Schutzgelderpressung, Drogenhandel und Prostitution hin. Ähnlich alarmierend liest sich auch die Polizeistatistik: Im ersten Quartal des Jahres 2003 waren fast 5 000 Straftaten zu verzeichnen, darunter 407 Tötungsdelikte – den Terrorismus nicht eingerechnet. Das bedeutet eine Steigerung um 35 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum, und für 2004 rechnen die Behörden mit einer Verdoppelung. Schwerpunkte sind die Städte Algier und Oran. „Diese Welle der Kriminalität ist kaum in den Griff zu bekommen“, meint ein Mitglied des CNES.

Mit der allgemeinen Unsicherheit allein lässt sich die neurotische Verfassung der algerischen Gesellschaft allerdings nicht erklären. „Die depressive Stimmung ist nur ein Symptom“, meint Raschid B., ein Gewerkschafter aus der Industrieregion von Ruiba. „Natürlich weiß jeder, dass der Sieg über den Terrorismus keines unserer grundsätzlichen Probleme löst.“

Die Haftentlassung zweier ehemaliger Führer der FIS, Abassi Madani und Ali Benhadj, hat alte Wunden wieder aufgerissen. Einmal mehr wurde deutlich, dass die Frage, welchen Platz der politische Islam in Algerien einnimmt, nicht gelöst ist. „Die Bartträger sind immer noch unter uns“, beschwerte sich ein Leitartikler in der Tageszeitung El Watan. „Und sie wittern wieder Morgenluft, die früheren Führer der FIS ebenso wie die vermeintlich Abtrünnigen.“ Am 15. Januar 2004 erklärte Abassi Madani in Doha (Katar), die einstigen Kader der FIS seien gewillt, auf die politische Bühne zurückzukehren. Der Islamistenführer hatte sich zwar vor seiner Ausreise nach Malaysia, wo er eine Spezialklinik aufsuchen wollte, verpflichtet, keine öffentlichen Erklärungen abzugeben. Aber nun stellte er auf einer Pressekonferenz einen „Friedensplan“ vor, mit der Verschiebung der Präsidentschaftswahlen und einer Generalamnestie für alle führenden Persönlichkeiten aus der Zeit der „Verfolgung“. Beunruhigt waren die Gegner der Islamisten vor allem, weil Madani seine Positionen von Anfang der 1990er-Jahre bekräftigte: Er forderte „Wahlen zu einer neuen verfassunggebenden Versammlung, um die Verfassung einer neuen Republik auszuarbeiten“ – einer Republik, die „im Rahmen der islamischen Grundwerte die Bürgerrechte garantiert“. Das brachte natürlich die Frauenbewegung auf die Barrikaden (s. Kasten). Ihrer Ansicht nach eröffnet die Unentschlossenheit der derzeitigen Machthaber dem Islamismus neue Chancen.

„Die Menschen sind verunsichert, weil ausgerechnet die Armee im Streit zwischen Bouteflika und seinen Gegnern diesmal nicht Partei ergreift“, meint Saadun al-Maqari, Kommentator der Tageszeitung Quotidien d’Oran. Er hält diese Zurückhaltung für ein Zeichen der Schwäche und fürchtet neue gewaltsame Auseinandersetzungen. „Die gegenwärtige politische Lage ist für den Normalbürger nicht durchschaubar. Das ist das Schlimmste.“ Al-Maqari fühlt sich an die erbitterten Kontroversen vor der Machtübernahme der Nationalen Befreiungsfront nach den Parlamentswahlen von 2002 erinnert.

Im Hinblick auf die Präsidentschaftswahlen ist die ehemalige Einheitspartei in zwei Lager gespalten: Den „Legitimisten“ um Ministerpräsident Ali Benflis, der bereits seine Kandidatur bei den Wahlen bekannt gegeben hat, stehen die „Hardliner“ um den Staatspräsidenten gegenüber, die der Partei wieder zu alter Größe verhelfen wollen. Allerdings sind ihr wegen des innerparteilichen Streits seit dem 30. Dezember 2003 per Gerichtsurteil alle Aktivitäten untersagt.

Das ganze Kaspertheater hat einen regionalistischen Hintergrund: Bouteflika stammt aus dem Westen Algeriens, Benflis aus dem Osten. Die meisten Algerier finden es allerdings nicht komisch, sondern bezeichnend für den Niedergang der politischen Klasse. Hinzu kommt die nach wie vor gespannte Lage in der Kabylei – die arsch, die Stammesräte, haben bereits erklärt, die Wahl boykottieren zu wollen. Mit Wahlboykott drohen auch die Gegner Bouteflikas, die überzeugt sind, dass die Behörden unter dem Einfluss von Innenminister Yazid Zerhouni nicht neutral sind. Aber vielleicht wird die Armee doch noch ein Machtwort sprechen und die Wahlen verschieben.

„Die ‚boulitique‘ “, das Spielchen der Politiker, „interessiert mich nicht“, meint Naual, eine 25-jährige Übersetzerin. „Die haben doch längst alles ausgekungelt.“ Naual gehört der Generation an, die mitten im algerischen Elend noch Anlass zum Optimismus zu geben scheint. Sie war bei der Bank des algerischen Milliardärs Rafik Khalifa beschäftigt; nach dem Niedergang seines Finanzimperiums 2002 fand sie einen „halboffiziellen“ Job bei einer Importfirma. „Khalifa hat versucht, etwas zu bewegen, er war für uns ein Vorbild. Aber er hätte sich aus der Politik heraushalten sollen.“ So denken viele junge Algerier über den gestürzten Finanzmagnaten. Naual lässt unzählige Vorstellungsgespräche über sich ergehen, um einen besseren Job zu finden. „Für tausend Dinar mehr kündige ich sofort. Man muss sehen, wo man bleibt.“ Ins Ausland will sie nicht gehen. „Vielleicht später einmal, aber erst wenn ich Berufserfahrung habe und etwas Geld gespart habe. Ich will nicht um Hilfe betteln müssen wie die harraga, die illegalen Einwanderer.“

Naual kommt aus einer Beamtenfamilie, und für ihre Eltern ist ihre Einstellung nur schwer zu akzeptieren. „Diese Generation will sich alles nehmen, ohne zu fragen“, meint ihr Vater. „Im Oktober 1988, als die ersten Unruhen ausbrachen, war Naual zehn Jahre alt. Sie ist in einer Epoche der Gewalt aufgewachsen, und sie hat völlig andere Wertvorstellungen als wir.“

Dieses Phänomen kennt man auch in den Zeitungsredaktionen. „Manche der jungen freien Journalisten führen sich auf wie Söldner“, sagt Saadun al-Maqari. „Sie sehen nur auf den eigenen Vorteil und versuchen, ihre Beiträge an möglichst viele Redaktionen gleichzeitig zu verkaufen.“ – „Die jungen Leute engagieren sich nicht in Parteien und den Gewerkschaften“, meint der Volkswirtschaftler Ali Chouarbia. „Deshalb haben sie auch kein politisches oder gewerkschaftliches Bewusstsein. In den nächsten Jahren wird sich entscheiden, ob die neuen ökonomischen Grundsätze Erfolg haben. Und wenn die Entscheidungsträger in Politik und Gesellschaft untätig bleiben, wird das Land allmählich in eine Ära des ungezügelten Kapitalismus eintreten – mit den bekannten Folgen wachsender sozialer Ungleichheit.“

Solche Befürchtungen scheinen nur zu berechtigt, wenn man die soziale Lage vor den Präsidentschaftswahlen betrachtet. Algerien konnte 2003 einen Außenhandelsüberschuss von mehr als 10 Milliarden US-Dollar verzeichnen und seine Währungsreserven auf 30 Milliarden Dollar erhöhen – die beste Handelsbilanz seit 1962. Doch von diesem Rekordergebnis hat die Bevölkerung wenig: Die Hälfte der Algerier leben unterhalb der Armutsgrenze; Rentner, Staatsbedienstete und Arbeitslose sind auf den familiären Rückhalt angewiesen, um nicht zu verhungern. Ein Ingenieur, der bei der mächtigen staatlichen Ölgesellschaft Sonatrach angestellt ist, macht folgende Rechnung auf: „Von meinem Gehalt leben zwanzig Menschen, doppelt so viele wie vor zehn Jahren.“ Er ernährt nicht nur seine beiden arbeitslosen Söhne, 28 und 30 Jahre alt, sondern sorgt auch für eine seiner Schwestern und ihre vier Kinder sowie für zahlreiche andere Verwandte in seinem Heimatdorf, die ohne seine Unterstützung nicht überleben könnten.

Viele aber müssen ohne einen solchen Wohltäter auskommen. Seit einigen Jahren gibt es auch in Algerien Obdachlose. Ganze Familien leben in der Hauptstadt und in anderen großen Städten auf der Straße und betteln um eine Mahlzeit. „Bei uns ist die Zeit der großen Ideale vorbei“, stellt der Exminister aus der Boumedienne-Zeit resigniert fest. „Wir haben jetzt eine Gesellschaft der ‚verschiedenen Geschwindigkeiten‘. Und man muss befürchten, dass die zunehmende Verarmung schon bald zum Wiederaufleben des Terrorismus führen wird.“

deutsch von Edgar Peinelt

* Journalist

Fotohinweis: Der Ausnahmezustand ist noch nicht aufgehoben Den religiösen Eiferern ein Dorn im Auge MICHAEL VON GRAFFENRIED/www.mvgphoto.com

Le Monde diplomatique vom 12.03.2004, von LYES SI ZOUBIR