Friseur unter freiem Himmel
EIN Schal bläht sich am Stamm, wie ein Schlauch windet er sich um den Baum herum, der vielleicht kaum noch atmen kann. Zwischendurch flickt der Friseur auch mal einen platten Fahrradreifen. Ein Warteraum für alle, ein tiefes Sofa für die Kunden in einer Brandung aus schwarzen Haaren. Im Schatten einer von Bambusstöcken und Ziegelsteinen gestützten Platane drehen sich zwei silberweiße Schläfen hin und her. Ein Stecknadelkopf auf einem weißen Kittel, geräumig wie ein Krankenzimmer, von zwei Wäscheklammern an den Kragenknöpfen zusammengehalten.
Der Friseur steht vor einem Schemel ohne Arm- und Rückenlehne, der vom Himmel gefallen scheint wie ein Klappsitz. Bequem, wie ein drehbarer Betstuhl. Er steht da, gerader Nacken, den Rücken dem Spiegel zugewandt, auf der Schwelle seines Schattenkarrees, auf einem Teppich aus schwarzen Haarbüscheln. Herbstlaub, geschnitten mit Schere und Rasiermesser, sommers wie winters.
Am Spiegel eine Zickzacklinie aus Erinnerungen, Bruchstücke des Lebens. In allen vier Ecken klemmt ein vergilbtes Foto. Dort ein alter Friseursalon mit Spiegeln größer als Schaufenster und roten Ledersesseln mit riesigen Armlehnen, so hoch, als hielte einen das Schicksal an den Ellbogen. Dort hat er gearbeitet, Chen Guo Quin – Nationalfeiertag heißt das, seinen Namen verdankt er einem Tag während der Revolution, vielleicht im Oktober 1949. Mehr sagt er darüber nicht. Ja, das war sein Salon. Er streckt einen Finger aus. Genau wie der auf dem anderen Foto in der gegenüberliegenden Ecke. Eine schöne klare Kante, wie ein Scheitel aus der Zeit. „Ja, die Erinnerung ohne Kopf.“
Zweimal verlor Chen Guo Quin seinen Salon. Einmal, weil das Haus renoviert wurde, das andere Mal weil das ganze Viertel abgerissen wurde. Der Umzug war seine Sorge, dass es mit dem Laden von da an bergab ging, ebenso. Ja, dieser Friseursalon hat einmal ihm gehört, und Chen Guo Quin setzte alles daran, Bart und Haare über einem Tuch zu schneiden, das so appetitlich sauber war wie ein Tischtuch: blütenweiße Tücher bindet er seinen Kunden auch heute noch um den Hals. Ein Dutzend am Tag. Er lacht, legt einem Kunden ein Tuch um den Hals. Ein Rascheln von Hanfleinen unter dem Rauschen der Platane, „alles für ein paar Yuan“. Ein Ausweis klebt an der Mauer, bezeugt seine Qualifikation, sein früheres Metier: den Beruf, den er in seinen vier Wänden ausgeübt hat, den Broterwerb, dem er weiter mit Sorgfalt nachgeht, jede Bewegung sitzt: Kamm, Schere, alles akkurat. Eingespielte Reflexe, am Ende eines Gehwegs, die Straße im Rücken, vor ihm der Spiegel, jetzt übt er diesen Beruf draußen an einer Hauswand aus. Seine Finger trommeln auf die Mauer. Die Hand gleitet, streicht über die Nackenstütze, die so glatt ist wie ein Hackklotz. Seit drei Jahren ist das so.
In Reichweite ein kleiner Schreibtisch mit aufgerissenen Schubladen und einem Wirrwarr von Kämmen. Gierig aufgerichtete Stacheln, ein Dschungel aus Krimskrams, um Nacken zu lichten und freizulegen, Augenbrauen bis zu den Lidern abzurasieren, Haare in Nasen und Ohren zu bändigen. Auf dem Tisch Talkdosen, Rasierklingen, eine mechanische Haarschneidemaschine, zwei Wasserpfeifen und ein Heißwasserspender: „Das Haar tränken! Ba ta nong ruan! Ba ta nong ruan! Es weich machen! Weich machen!“ Es gibt auch ein bauchiges Metallgerät mit Schwanenhals und einer kleinen runden rosa Birne zum Wegpusten des Talkumpuders. Ja, diese kurzen Kreideseufzer, geflüstert wie anonyme Geständnisse unter dem Druck von Würgehänden auf weiß gebluteten Hälsen.
Seit kurzem ist auf einer riesigen Steckdose eine elektrische Haarschneidemaschine erblüht, thront in kaiserlichem Gelb auf der Mauer und sprüht allmorgendlich im Fahrtwind der Autos knisternde Funken. Das Chrom blitzblanker Taxen wirft Lichtreflexe zurück. Hälse recken sich, Haut dehnt sich, ein Rasiermesser saust im Rhythmus der Hupen und des quellenden Schaums über Abgaswolken. Dichter Qualm bläst aus den Auspuffrohren. Über allem, was auf die Ohren einstürmt, hängt das Röcheln eines Haartrockners. In einem Jahr wird die Mauer hinter ihm eingerissen sein. „Dann ist endgültig Schluss!“ Jedes Jahr glaubt man das. Jeden Monat sagt man es wieder. Doch der Friseur hebt den Arm, streckt den Finger aus und zeigt auf den Spiegel. Denn wenn die Mauer verschwindet, ist es vorbei mit seinem Frisierplatz, mit der blauen Himmelsdach und der Straße als Schaufenster. Alles wird abgerissen. Auch das Haus gegenüber, die Wohnung des Friseurs und alles, was bis dahin vom Viertel noch übrig ist. „Und dann? Wir werden sehen. Was bleibt einem anderes übrig? Was soll’s! Ich kann’s nicht ändern! Also?“
Also macht man mit, übt sich in höflicher Ergebenheit gegenüber dem Schicksal, als versetze man einer fallenden Haarsträhne einen Schlag mit dem Handrücken. Bloß nicht jammern. In diesem Herbst ist er vier Jahre hier. Ja, sein Umsatz ist durch die Mauer gestiegen. Man drückt ein Auge zu. Ein einachsiger Anhänger mit Salzsäcken überquert die Changan-lu. Die Frau des Friseurs kommt unendlich langsam angefahren und lässt sich schließlich neben ihm nieder. Sie versucht, sich ein Staubkorn aus dem Auge zu reiben.
Ein Staubkorn, so klein wie ein Stein, ein Haus, eine Straße, ein Stadtviertel, das abgerissen wird. „Ein Staubkorn im Auge!“ Nur ein Staubkorn. „Der Wind! Der Wind!“ Das kann man doch verstehen, da braucht man sich doch nicht länger aufzuregen. Es ist nichts. Nichts. „Ein Staubkorn im Auge! Nur ein Staubkorn!“ Die Augen können einem ja mal tränen. Nicht immer nur weinen. Einfach nur tränen.
deutsch von Sigrid VagtAuszug aus „Xi, parce que ce n’en est que le commencement“