12.03.2004

Bagdad Blues

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Bagdad Blues

Fühlen sich die Iraker befreit oder besetzt? Ihre Gefühle sind so widersprüchlich wie die Gefühle der Besatzer, die am liebsten zu „Gästen“ mutieren würden. Vorerst sprechen die Waffen.

Von STEPHEN GREY *

ES war der letzte Tag des Ramadan, und ich saß mit irakischen Freunden in einem schwimmenden Restaurant am Ufer des Tigris unter einem Baldachin, dessen Plastikplanen im kalten Wind knatterten. Das Essen schmeckte himmlisch. Nichts geht über ein Musguf-Gericht. Man kann sich aus einem flachen Becken einen Karpfen aussuchen, der auf ein Brett gelegt und mit einem Hieb getötet wird. Dann wird er in Alufolie mit Knoblauch, Tomaten und Kräutern gedünstet. Er schwimmt geradezu im Fett, aber er ist köstlich.

Nach zwei Wochen Bagdad fühlte ich mich zum ersten Mal wie befreit: Es gab keinerlei Verpflichtungen und keine Termine. Endlich konnte ich mich in Ruhe mit Freunden unterhalten, die ich über Exiliraker in London kennen gelernt hatte.

In diesem Kriegsgebiet bin ich ein Neuling, und so hatten meine ersten Erlebnisse in dieser wie unter Hochspannung stehenden Stadt zwangsläufig paranoide Gefühle ausgelöst.

Vier Tage zuvor war ich um halb sieben Uhr morgens aus dem Schlaf geschreckt, weil die Fensterscheiben klirrten. Das Shahin-Hotel, etwas weiter unten in meiner Straße, war bei einem Selbstmordattentat in die Luft geflogen. Abgerissene Körperteile des Terroristen lagen über die ganze Straße verstreut, der Mann hatte zwei weitere Menschen mit sich in den Tod gerissen und viele andere in Angst und Schrecken versetzt.

In diesen ersten Tagen hatte ich nur die dunkle Seite der US-amerikanischen und britischen Besatzung wahrgenommen: Iraker, die angesichts der permanent verstopften Straßen nur sarkastisch meinten, jetzt könne man ja sehen, was Demokratie bedeute; die ständigen unvorhersehbaren Stromausfälle; Geschichten über Raubüberfälle auf den Landstraßen und Klagen über das boomende Gewerbe der Kidnapper, die Lösegelder erpressen wollen. In der Nacht hörte man immer noch Gewehrfeuer rattern, ohne dass irgendjemand genau sagen konnte, wo sich diese Kämpfe abspielten. In den sunnitischen Vierteln der Außenbezirke von Bagdad wurde ich von Wohnung zu Wohnung geführt, wo mir Vater, Mutter und Kinder die tiefen Einschnitte an ihren Handgelenken zeigten. Die blutigen Male stammten von den Plastikfesseln, die man ihnen angelegt hatte, bevor man sie in die Nacht hinauszerrte, um sie bei den Amerikanern zum Verhör abzuliefern.

In Städten wie Falludscha, im so genannten sunnitischen Dreieck, führte man mich zu Familien, deren Kinder von herumfliegenden Kugeln aus US-Maschinengewehren getroffen worden waren. Dr. Abdul Wahab, ein orthopädischer Chirurg im Krankenhaus von Falludscha, versicherte mir, hier würden alle Leute die Aufständischen unterstützen: „Wenn jemand die Amerikaner angreift, fangen sie an, wie wild um sich zu ballern. Ich weiß das, denn die Verletzten landen danach bei mir.“

Aber als ich mit meinen Freunden in dem Restaurant am Ufer des Tigris saß, machten sie mich darauf aufmerksam, dass viele Iraker weitaus ambivalentere Ansichten über ihre „Befreiung“ haben. Als Schiiten, also Angehörige der Mehrheit, deren Glaubensrichtung unter Saddam Hussein erbarmungslos unterdrückt worden war, monierten sie meine Wortwahl, weil ich für die Guerillas, die gegen die Amerikaner kämpfen, den Begriff muqawama benutzte, was „Widerstand“ bedeutet. Sie meinten, ich solle stattdessen von irhab, also von „Terroristen“, sprechen, denn diese Leute würden ja „ganz normale Iraker auf der Straße umbringen“.

Meine Freunde sind alle Anfang dreißig und stammen aus Nassarija, der schiitischen Stadt im Süden des Irak. Unter Saddam waren viele ihrer Bekannten und Verwandten hingerichtet worden. Die Übrigen waren nach Bagdad, in die Anonymität der Großstadt geflohen. Und einige waren auch mit ihren Familien ins Exil gegangen, nach London oder anderswohin.

Diesen Menschen hatten die Invasion der USA und der Sturz von Saddam Hussein tatsächlich Gutes gebracht. Befreiung hieß, dass man nach Hause zurückkehren konnte, wenn man es wollte. Sadq ist aus London in den Irak zurückgekommen. Khalid ist mit seiner Frau wieder nach Nassarija gezogen und arbeitet heute als Übersetzer für die italienischen Truppen.

Doch selbst diese Schiiten können sich mit der Vorstellung von „Befreiung“ nur schwer anfreunden oder gar abfinden. Gewiss, Intellektuelle, Politiker und Künstler haben es jetzt spürbar besser, aber für andere bleibt das Wort vorerst eine Idee, die lediglich eine Zukunftshoffnung ausdrückt. Die Regisseure des ersten Spielfilms, der nach dem Krieg im Irak gedreht wurde („Under Exposure“), haben es so ausgedrückt: „Unsere einzige Waffe ist die Freiheit.“ Was haben nun die Massen davon? Straßenblockaden, Arbeitslosigkeit, Stromausfälle wie Bombenopfer lassen sich beziffern. Freiheit ist keine messbare Größe. Sie ist unerträglich leicht.

Auch meine schiitischen Freunde sind nicht mehr so begeistert über die Besatzung. „Vor einem Jahr war ich sehr glücklich, dass die Amerikaner hierher kamen“, meint Sadq, „aber heute bin ich mir nicht mehr so sicher. Es scheint kaum voranzugehen. Vielleicht wird es Zeit, dass sie abziehen.“

Khalid arbeitete bis kurz vor dem Krieg für das Informationsministerium und führte ausländische Journalisten durch Bagdad. Er zeigte auf einen Gebäudekomplex, der jenseits des Schilfgürtels und des rasch dahinströmenden Flusses am anderen Ufer in die Höhe ragte: das einst so gefürchtete Hauptquartier des Istakbharat, des militärischen Geheimdienstes. „Ich bat die Journalisten immer, keine Fotos zu machen, weil ich sonst im Gefängnis gelandet wäre. Das Komische ist nur“, fügte Khalid hinzu, „dass ich sogar jetzt noch Angst davor habe, dass man in Schwierigkeiten gerät, wenn man hier ein Foto macht.“ Und dann erzählte Khalid, dass der Komplex mittlerweile von der US-Armee in Beschlag genommen wurde.

Zwei Tage nach dem Essen am Tigris habe ich in ebendieser Festung einen Interviewtermin. Ich werde von einem Oberst der Ersten US-Kavallerie-Division empfangen, der gerade aus Texas hier eingetroffen ist. Zwölf Monate soll sein Einsatz im Irak dauern. Der Mann sprüht vor Ideen. Er glaubt, wie viele US-Amerikaner in Bagdad, aufrichtig an die Mission, einen neuen demokratischen Irak aufzubauen. Mit ernster Simme erinnert er seine Leuten daran, sensibel vorzugehen und ihre Macht nicht zu missbrauchen: „Es gibt einen Unterschied zwischen Härte zeigen und schikanieren“, ruft er in die Runde, als er seinen Untergebenen die Instruktionen für den nächsten Einsatz erteilt. „Houarr“, schallt es im Chor zurück.

Viele Amerikaner haben ganz gewiss ehrliche Absichten. Das Problem ist nur, dass sie nicht begreifen, wie es für die aussieht, die sich auf der anderen Seite der Barrikade befinden – jenseits der gepanzerten Schutzmauern, die sie um sich herum hochgezogen haben. Sie sehen einfach nicht, was sie mit vielen ihrer Aktionen zerstören, dass sie gerade die Menschen enttäuschen, die sich so viel vom neuen Irak versprochen hatten. Auf vielfältige Weise – und ohne eine Spur von Ironie – haben sich die Besatzungstruppen und die zivilen Berater, die als Coalition Provisional Authority (CPA) firmieren, alle Insignien von imperialen Eroberern zugelegt. Zum Beispiel haben sie im ganzen Land fast jeden von Saddams protzigen Palästen übernommen. Die so genannte grüne Zone von Bagdad erstreckt sich heute über fast ein Drittel der Innenstadt. Sie ist von Betonbarrieren umzingelt und für normale Sterbliche off limits. Das macht sie für die Aufständischen natürlich zum Ziel Nr. 1. Jede Woche schlagen ein paar Geschützgranaten in dem Areal ein, und die meisten Autobomben explodieren an der Betonbarriere, wo Iraker Schlange stehen, die sich um Zutritt oder um einen Job in der grünen Zone bemühen.

Die Entscheidung, eine riesige US-Militärbasis mitten ins Zentrum der Innenstadt zu platzieren, hat zu einem totalen Verkehrschaos geführt. Die große Ringstraße entlang dem Tigris ist gesperrt, dasselbe gilt für zwei Brücken und die öffentlichen Parks, in denen früher irakische Paare spazieren gehen konnten.

Einmal wollte ich – wie naiv! – eine Freundin aus England in der Bar des Rashid-Hotels treffen. Vor dem Krieg war das Rashid ein beliebter Treffpunkt für Journalisten, heute liegt es innerhalb der Besatzungszone. Deshalb war mir, wie sich herausstellte, der Zutritt ohne Begleitperson untersagt. Auch meine Bekannte wurde abgewiesen. Ihr Zutrittsausweis der Stufe eins reichte nicht mehr aus. Inzwischen braucht man, um jemanden auf einen Gin Tonic ins Rashid einzuladen, zumindest Stufe zwei. Mit Hilfe eines anderen Freundes kamen wir dann doch noch rein. Viel Zeit hatten wir nicht mehr, weil das Restaurant um viertel nach acht dichtmacht. Mittlerweile befürchtet man, das Hotel könnte nach Einbruch der Dunkelheit zur Zielscheibe für Mörsergranaten werden.

Beim Verlassen des Geländes blickte ich auf die in Flutlicht getauchte Festung der Grünen Zone zurück und fragte mich, ob die Amerikaner je auf den Gedanken gekommen sind, dass sie hier im Irak zwangsläufig einen noch massiver ausgebauten Sicherheitsstaat zurücklassen würden, als er je existiert hat. Man kann sich nur schwer vorstellen, dass eine neue irakische Regierung die ganzen neu errichteten Barrieren und Sicherheitsanlagen wieder abreißen wird. Offenbar fehlt der US-Verwaltung nicht nur jedes Gespür dafür, wie ihr imperiales Auftreten auf die Iraker wirkt. Sie scheint auch kaum wahrzunehmen, wie wenig sich das tägliche Los der Bevölkerung verbessert hat und wie viel Geduld die Menschen aufbringen.

Bei meiner ersten Fahrt durch Bagdad waren mir die Riesenkräne aufgefallen, deren Silhouetten überall am Horizont aufragten. Zuerst dachte ich, dass sei der Wiederaufbau. Aber nach ein paar Tagen fiel mir auf, dass diese Kräne immer stillstanden. Die Baustellen waren noch Saddams Projekte – die Projekte von Paul Bremer III müssen erst noch in Angriff genommen werden. Welcher Kontrast zu Berlin, wo nach der Wende jede Straßenecke zur Baustelle wurde. Oder zum Kosovo, wo ich nur ein Jahr nach dem Krieg Verkehrsstaus erlebte – verursacht nicht durch Militärkolonnen, sondern durch Baufahrzeuge – und wo auf großen, blaugelben Schildern die neuesten EU-Projekte vorgestellt wurden.

Überall ragen die Strommasten wieder auf

HIER in Bagdad hat man Milliardensummen versprochen, und doch ist kurz vor der Übergabe der Regierung an die Iraker kaum etwas geschehen. Sechs Wochen bin ich im ganzen Land herumgefahren, und doch konnte ich nur ein einziges Zeichen von Aufbruch entdecken: die gigantischen Starkstrommasten, die überall auf dem flachen Land wieder aufgerichtet werden. Was ich vor allem sah, waren gesprengte Brücken, Hotelruinen, zerstörte Regierungsgebäude und überall Müll- und Schuttberge.

Ganz im Süden, in Basra, bekomme ich beim Besuch eines britischen Armeestützpunkts eine Pressemitteilung ausgehändigt. Darin heißt es, es gebe rund um die Uhr wieder Strom und das Öl fließe ungehindert durch die Pipelines. Auf dem Weg zum Hotel fahre ich an einer Tankstelle vorbei, vor der sich eine lange Autoschlange gebildet hat. Und als ich im Hotel ankomme, brauche ich eine Taschenlampe, um die Pressemitteilung noch einmal nachzulesen.

Hier wird auch viel Geld verschleudert. Ehemalige Soldaten arbeiten für ein Tageshonorar von 500 Dollar als Security Guards. Ihre Pistolen sind mit Klettverschlüssen an ihren Bluejeans befestigt. Sie erzählen mir, dass der Aufenthalt eines zivilen US-Experten wegen der erforderlichen Sicherheitsmaßnahmen – die vom ganztägigen Personenschutz bis zum kugelsicheren Kleinlaster reichen – pro Jahr eine Million Dollar kostet.

Kein Wunder, wenn viele oder gar alle Iraker annehmen, die Amerikaner hätten es nur auf das Öl abgesehen, wollten also die wertvollsten Ressourcen des Landes für Unternehmen sichern, die von den Freunden des US-Präsidenten kontrolliert werden. Das glauben im Übrigen auch viele Iraker, die sich für die „Befreiung“ aussprechen.

In der US-Militärbasis auf dem Flughafen von Bagdad – neben einem improvisierten Burger-King-Laden – empfängt mich im Brigadehauptquartier Mark Hertling, der stellvertretende Kommandeur der US-Truppen in Bagdad. Es ist ihm sichtbar peinlich, als ich ihn auf einige Rechtsverstöße seiner Soldaten anspreche. Zum Beispiel die Praxis, bei der Durchsuchung privater Wohnungen erst mal ein paar Handgranaten durch die Tür zu werfen.

Hertling meint, ich habe mich wohl in den falschen Vierteln der Stadt herumgetrieben. Ich wisse noch nicht richtig zu würdigen, wie sehr sich das Leben der Menschen durch die Befreiung verändert habe. Die Leute müssten keine Angst mehr haben, dass mitten in der Nacht Saddams Geheimpolizei an der Tür steht. Und er hat sicher Recht, die Lage im „befreiten“ Bagdad hat sich tatsächlich verändert. Aber ich muss auch an die Familien denken, die ich bei Stromausfall in ihren dunklen Wohnungen interviewt habe, die mir, während US-Hubschrauber über unseren Köpfen knatterten, schilderten, wie um vier Uhr morgens ihre Wohnung gestürmt wurde. Zu Hertling sage ich: „Sie sprechen von den Leuten, die sagen, dass sie jetzt ein besseres Leben haben. Das sind genau die Leute, die in gepanzerten Autos durch diese Stadt fahren und deren Wohnungen befestigte Bunker sind.“

Der General schweigt für einen Moment, aber er versteht, was ich sagen will. Dann meint er: „Seit wir hier sind, gibt es keine neuen Massengräber.“ Natürlich gibt es, seit er hier ist, keine neuen Massengräber, das hoffen wir jedenfalls. Aber das ist eine negativ definierte Befreiung: Ein Übel existiert nicht mehr. Nur das allein besänftigt die Gemüter nicht.

Unten im Süden, in Basra und Umgebung, wo die Briten in hauptsächlich schiitischen Gebieten operieren, sehen die Beziehungen zwischen den „Befreiern“ und den „Befreiten“ schon anders aus. Hier ist die Besatzungsmacht weitgehend toleriert oder sogar willkommen, auch wenn die Bevölkerung sich auch hier über zu wenig Jobs und zu wenig Wiederaufbauarbeiten beklagt. Gefahren drohen hier eher von den Milizen der Islamisten, die auf den Straßen immer mehr die Herrschaft übernehmen.

„Die Briten verstehen uns“, kann man in Basra hören, „schließlich hatten sie uns früher schon mal besetzt.“ Und ein Offizier des neu gegründeten irakischen Civil Defence Corps, der von den Koalitionstruppen ausgebildeten Miliz, sagt: „Wenn die Amerikaner hier wären, hätten sie massenhaft Probleme. Vielleicht würde sogar ich gegen sie kämpfen.“

Was also ist für die Zukunft zu erwarten? Die Iraker sind – trotz aller Beschwerden – ziemlich geduldig. Und sie haben die Schnauze voll nach all den Kriegen, die sie durchgemacht haben. Außerdem glaube ich, entgegen einer weit verbreiteten Meinung, dass die Amerikaner aus diesem Land abziehen wollen. Sie sind keineswegs begeisterte Besatzer. Die Kontrolle der Straßen überlassen sie zunehmend den Einheimischen: der neuen Polizeitruppe und den frisch ausgebildeten Milizen.

Die Vereinigten Staaten und Großbritannien versuchen derzeit noch, das Unvermeidliche hinauszuzögern. Der Aufschub der Wahlen dürfte weniger von Sicherheitsbedenken herrühren – Wahlen wurden schon in ganz anderen Kriegsregionen abgehalten – als vielmehr von der Angst, dass man durch Wahlen das Land an die schiitische Mehrheit ausliefern würde. Aber diese Angst scheint unbegründet. Die irakischen Schiiten verlangen nach ihrer Jahrhunderte währenden Unterdrückung vor allem das Recht, ihren Glauben frei auszuüben. Aber sie wollen keinen religiösen Staat wie im Iran, sondern eine weltliche Regierung.

In der sunnitisch dominierten Region gibt es hingegen vermutlich immer noch viele, die die neue Regierung ablehnen und auch weiterhin bewaffneten Widerstand leisten werden. Daran würde vielleicht auch ein Aufschub der Wahlen nichts ändern. Vielmehr könnte es sein, dass sich die Widerstandsbewegung noch mehr festsetzt.

Ähnliche Befürchtungen gibt es hinsichtlich des Nordens, wo die Kurden einen unabhängigen Staat anstreben könnten, was automatisch zu einer türkischen Invasion führen würde. Aber das kurdische Volk und seine Führung sind – aller Rhetorik zum Trotz – vor allem Realisten. Sie wissen, dass sie Sicherheit und Wohlstand nur innerhalb einer irakischen Föderation finden können.

Voraussagen zu wagen ist gefährlich. Wie sich in Bosnien gezeigt hat, können selbst friedliche Menschen durch politische Demagogen in einen Krieg getrieben und zu Massakern aufgehetzt werden.

Auch die „Befreier“ haben die bosnische Parallele vor Augen. Deshalb wollen sie nach dem 30. Juni 2004 nur noch als „Gäste“ der neuen irakischen Regierung im Land bleiben. Doch der Vertrag, der die Rolle der Besatzungstruppen genau definiert, muss erst noch ausgehandelt werden. Sollte es künftig zu bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen kommen, wollen die Militärs zu uneingeschränktem Eingreifen ermächtigt sein. So jedenfalls sieht es Brigadegeneral Nick Carter, ein britischer Truppenkommandeur: „Auf keinen Fall wollen wir in eine Situation geraten, wie wir sie in Bosnien zwischen 1991 und 1994 hatten. Damals hat uns das Mandat nicht erlaubt, wie vollwertige Soldaten zu agieren.“

In As-Subair in der Nähe von Basra bin ich mit einem Trupp britischer Soldaten auf Patrouille. Ich unterhalte mich mit einem jungen schottischen Unteroffizier, der schon in Bosnien und im Kosovo, in Sierra Leone und in Nordirland eingesetzt war. Ich frage, ob ihn sein Auftrag im Irak an Missionen auf dem Balkan oder anderswo erinnere. Er wirft mir einen merkwürdigen Blick zu und antwortet: „Nein, dies hier ist ganz anders. Hier habe ich gesehen, wie ein Hund einen anderen Hund frisst.“

deutsch von Niels Kadritzke

© Le Monde diplomatique, Berlin

* Journalist

Le Monde diplomatique vom 12.03.2004, von STEPHEN GREY