Da strahlt der heilige Serafim
BORIS JELZIN versprach sich von der Kirche einen „Beitrag zur geistigen Wiedergeburt Russlands“. Unter Präsident Putin schreitet die Verschränkung von Staat und Kirche in Russland voran. Als im Januar 2003 die Moskauer Kunstausstellung „Achtung Religion“ einen Christus mit der Inschrift „this is my blood“ und einem Coca-Cola-Logo präsentierte, rief die Kirche zum Bildersturm auf. Dass die Randalierer juristisch nicht verfolgt wurden, wohl aber die Künstler und die Kuratoren, wirft die Frage auf, ob hier eine neue Heilige Allianz zwischen Staat und orthodoxer Kirche entsteht.
Von ELFIE SIEGL *
Um ein Haar wäre Boris Jelzin als Baby ertränkt worden, und Schuld daran hätte der Pope gehabt, der in Jelzins sibirischem Heimatdorf die Taufe vollzog. Der dem Wodka nicht abgeneigte Gottesmann tauchte den Täufling in den Zuber mit geweihtem Wasser und vergaß, ihn wieder herauszuziehen. Diese Geschichte mag das Verhältnis erklären, das der erste demokratisch gewählte Präsident des nachsowjetischen Russland zur Religion entwickelt hat.
Jelzin begegnete der Geistlichkeit mit einer Mischung aus Ehrfurcht und kumpelhafter Anbiederung. Er erwartete von ihr – und das heißt in erster Linie von der russisch-orthodoxen Kirche, der sich heute beinahe 70 Prozent der Bürger des Landes zurechnen – nicht mehr, aber auch nicht weniger als einen „Beitrag zur geistigen und moralischen Wiedergeburt Russlands und zur Festigung des innerstaatlichen Friedens“. Voraussetzung für diesen Dienst an der Nation war die Rückgabe des in der Sowjetzeit verstaatlichten Kircheneigentums, also von Kirchen, Klöstern und Seminargebäuden. Mitte der 1990er-Jahre erhielt das Moskauer Patriarchat sogar die Lizenz für eine inoffizielle Einnahmequelle. Sie durfte unter der Hand und steuerfrei Tabak und Alkohol importieren und die Marketenderware gewinnbringend veräußern – angeblich zur Linderung der finanziellen Notlage.
Die rechtlichen Grundlagen für die Stellung der Kirchen legte die Verfassung von 1993. Sie definierte Russland als säkularen Staat, in dem keine Religion zur Staatsreligion werden darf. Religiöse Vereinigungen sind vom Staat getrennt und vor dem Gesetz gleich. Ferner garantierte die Verfassung jedem Bürger die Freiheit des Gewissens und des religiösen Bekenntnisses.
Die russisch-orthodoxe Kirche erinnerte sich angesichts der neuen Freiheiten schnell an die zaristischen Zeiten und ihre byzantinische Traditionen: Sie forderte die Gleichheit von staatlicher und kirchlicher Macht, allerdings unter strikter Betonung ihrer dienenden Rolle. Der Züricher Orthodoxie-Experte Gerd Stricker meint, in dem Maße, in dem sich Russland erneut auf seine Geschichte besonnen habe und der Patriotismus immer deutlicher die Politik bestimme, habe auch die russisch-orthodoxe Kirche wieder eine wichtige Rolle in der Gesellschaft: „Die Orthodoxie wurde zum Kern einer nationalen Ideologie.“
Aber die Medaille hat auch eine Kehrseite. Die Orthodoxie hat eine innere Neigung, sich mit nationalistischen, ja neofaschistischen Kräften in der russischen Gesellschaft gemein zu machen und die vom Kremlchef gewünschte Modernisierung des Landes, die Hinwendung Russlands zum Westen zu konterkarieren. Ein Beispiel dafür ist der Skandal um die Ausstellung „Achtung, Religion“, die im Januar 2003 im Moskauer Andrej-Sacharow-Museum eröffnet wurde und an der sich vierzig Künstler – auch aus dem westlichen Ausland – beteiligten. Wenige Tage nach der Eröffnung drangen sechs Rowdys in die Ausstellung ein – angeblich einfache orthodoxe Christen, die ihren Glauben verhöhnt wähnten und Teile der Exponate demolierten. Beleidigt fühlten sie sich zum Beispiel von einer Christusfigur vor rotem Hintergrund mit der Überschrift Coca-Cola und der Unterschrift „this is my blood“. Die Vandalen konnten auf eine breite öffentliche Zustimmung zählen.
Der Metropolit von Smolensk und Kaliningrad, Kyrill, als künftiges Kirchenoberhaupt im Gespräch, nannte die Ausstellung eine direkte Provokation, die zu Spannungen in der Gesellschaft führe. Die Randalierer wurden zwar festgenommen, doch sofort wieder freigelassen. Dagegen wurden Ende Dezember 2003 eine der Künstlerinnen und zwei Angestellte des Sacharow-Museums wegen Entfachung religiösen Hasses angeklagt. Die Betroffenen wehren sich: Russland sei ein säkularer Staat, in dem Religion und Staat getrennt seien. Der Schutz des Gesetzes gelte für alle Konfessionen, so auch für Atheismus und Agnostizismus.
Doch die Realität sieht anders aus. Die Orthodoxen haben eine privilegierte Stellung. Im nachsowjetischen Russland leben kirchliche Bräuche der Orthodoxie wieder auf, die eine Symbiose mit dem Staat anzeigen. Unter Jelzins Nachfolger Putin hat sich diese Tendenz verstärkt. Dazu gehört das Weihen von staatlichen Gebäuden und Büros, von Autos, Schiffen, Panzern und anderem Militärgerät durch orthodoxe Priester. 1999 segnete etwa der Patriarch höchstpersönlich einen atomar angetriebenen Kreuzer. Russische Atomwaffen haben einen Schutzpatron, den heiligen Serafim von Sarow, der dort seine Zelle gehabt haben soll, wo heute ein Atomforschungszentrum steht.
Das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, der Moskauer Patriarch Aleksij II., zeigte sich bei nationalen und internationalen Anlässen oft an der Seite von Jelzin und dessen Gattin. Und 1996 wurde im russischen Fernsehen übertragen, wie Jelzin und sein weißrussischer Amtskollege Aleksander Lukaschenko unter dem Segen Aleksijs den Vertrag über die Union ihrer beider Länder unterzeichneten. Hier verkörperte der Patriarch das Symbol für die Verbundenheit beider Völker, deren gemeinsames geistiges Oberhaupt er ist. Jelzin wiederum pflegte bei jeder Gelegenheit kameradschaftlich und kräftig die Hand des Patriarchen zu ergreifen. Nicht im Traum wäre ihm allerdings eingefallen, diese Hand zu küssen.
Ganz anders Wladimir Putin. Jelzins Nachfolger, der im atheistischen Leningrad mit fünf Jahren ohne Wissen des Vaters heimlich getauft worden war, bekennt sich anders als sein Vorgänger sehr offen zu seinem Glauben. In den Sowjetjahren trug der professionelle Geheimdienstoffizier ein Halskettchen mit Kreuz, wenn auch nur dezent unter dem Hemd. Heute gefällt sich der Kremlchef darin, jederzeit öffentlich zu demonstrieren, wie perfekt er die orthodoxen Rituale beherrscht. So bekreuzigt er sich gern vor laufender Kamera, beugt im Gottesdienst das Haupt an den richtigen Stellen der Liturgie, küsst Ikonen und erbittet den Segen des Patriarchen, indem er sich demütig über dessen Hand beugt. Doch diese Demutsgesten können nicht darüber hinwegtäuschen, dass der praktizierende orthodoxe Christ im Kreml von seinem geistlichen Oberhaupt Unterstützung und unbedingte Loyalität, ja Unterordnung erwartet.
Die Harmonie von Kirche und Kreml, die seit dem Untergang des Sowjetsystems immer offener demonstriert wird, ist jedoch nicht ungetrübt. Dass der Patriarch den ersten Tschetschenienkrieg nicht begrüßte, missfiel dem Präsidenten. Und als sich Jelzin 1997 weigerte, ein Gesetz über die Religions- und Gewissensfreiheit zu unterzeichnen, das die russisch-orthodoxe Kirche zum Primus inter Pares machen und die anderen Religionen zu Glaubensgemeinschaften zweiter Klasse abstempeln sollte, protestierte der Patriarch ganz offen. Spannungen gab es auch im Jahr 2000, als der Patriarch vom Kreml die Rückgabe der Ländereien forderte, die der Kirche ehedem von den Bolschewisten abgenommen worden waren.
Ein aktueller Streitpunkt ist der Plan des Kreml, eine neue staatliche Kirchenbehörde zu schaffen. Sie erinnert in gewisser Weise an den 1990 aufgelösten „Rat für religiöse Angelegenheiten“, der in Sowjetzeiten die Aktivitäten der Kirchen kontrollierte. Das Patriarchat sieht in der neuen staatlichen Kirchenbehörde eine konkurrierende Machtinstanz, die womöglich die Kirche wieder kontrollieren soll.
Während Jelzin seinerzeit Bitten des Patriarchen in höflicher Form ablehnte, zieht Putin es vor, Ansinnen der Kirche, die ihm nicht passen, schlicht zu ignorieren. Andererseits ist der heutige Kremlchef bei seinen ehrgeizigen Plänen einer moralischen Erneuerung und einer Verbesserung des allgemeinen Lebensstandards weit mehr als sein Vorgänger auf die tatkräftige Unterstützung der russisch-orthodoxen Kirche angewiesen. Vor einigen Monaten nannte der Patriarch in der Iswestija einige Aufgaben, die Staat und Kirche gemeinsam wahrnehmen müssten: zum Beispiel die Souveränität und Eigenständigkeit Russlands zu erhalten oder gemeinsam gegen die Armut zu kämpfen und eine gesunde und geistig rege neue Generation heranzuziehen. Auch bei Wahlen steht die Kirche nicht abseits, sondern betet schon mal für Kandidaten, die das Wohlwollen des Kreml genießen. Und zwar obwohl ihr eigenes, vor vier Jahren verabschiedetes „Sozialkonzept“ den Geistlichen jedes politische Engagement untersagt.
Das Vertrauen der Bürger in die Kirche liegt Umfragen zufolge genau auf demselben Niveau wie das Vertrauen in ihren Präsidenten. Und das ist sehr hoch. Die herrschende Kirche in Russland und die herrschende Klasse ziehen an einem Strang. Die orthodoxe Kirche ist also auf dem besten Wege, eine Staatskirche zu werden, die sich für staatliche Belange einsetzt und im Gegenzug vom Staat finanzielle Unterstützung erwartet, zum Beispiel für Kirchenbauten und für die Renovierung der an sie zurückgegebenen Immobilien. Die politische Zeitschrift Jezhenedelnyj zhurnal kommentiert, die Kirche sei zwar per Gesetz vom Staat getrennt, habe aber offenbar nichts gegen Staatsknete. Und sie verweist darauf, dass der staatliche Gaskonzern Gasprom für Kirchen, Klöster und Kirchenpresse spendet, wie übrigens auch die neuen Milliardäre, die sich damit vielleicht Ablass für ihre Sünden verschaffen wollen.
Als Dank für ihre politische Loyalität erwartet die orthodoxe Kirche auch eine Vorzugsbehandlung im Vergleich zu den Minderheitenreligionen in Russland. Ein Beispiel dafür sind die anhaltenden Spannungen der russisch-orthodoxen mit der römisch-katholischen Kirche, die auch an dem Tauziehen um den Besuch von Papst Johannes Paul II. in Russland sichtbar werden. Putin hatte dem Papst als Oberhaupt des Vatikanstaates vor Jahren bereits einen Staatsbesuch abgestattet und ihn zu einem Gegenbesuch eingeladen. Doch der hat bis heute nicht stattgefunden. Der Papst soll der Meinung sein, dass eine Moskaureise ohne Audienz beim Patriarchen nicht sinnvoll sei; der Patriarch will die Audienz aber offenbar nicht gewähren. Der Hauptgrund für diese ökumenische Krise ist offensichtlich der Vorwurf des Moskauer Patriarchats, die katholische „Schwesterkirche“ betreibe auf dem kanonischen Territorium der russisch-orthodoxen Kirche, also auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion, Proselytenmacherei, das heißt die Abwerbung von Gläubigen. Kardinal Walter Kasper hat allerdings als Abgesandter des Papstes bestritten, dass der Vatikan eine solche Politik verfolge.
Einen Tiefpunkt hatten die Kirchenbeziehungen im Februar 2002 erreicht, als der Vatikan die vier Apostolischen Administraturen in Moskau – Saratow, Nowosibirsk und Irkutsk – zu vollwertigen Diözesen ernannte. Mehrere aus dem Ausland stammende katholische Geistliche durften seitdem – trotz gültiger Aufenthaltsdokumente – nach ihrem Urlaub nicht mehr nach Russland zurückkehren oder wurden ausgewiesen.
Putin will aus Russland einen starken Staat mit patriotisch gesinnten Bürgern machen. Dabei soll ihm die orthodoxe Kirche helfen, eine ethnisch-nationale russische Identität zu stiften. Das formulierte er bereits vor vier Jahren: „Russland muss mit seinen orthodoxen Traditionen besonders sensibel umgehen und respektvoll auf die Gefühle der Gläubigen reagieren. Auf die für uns alle heiligen Hoffnungen auf die Wiedergeburt des Mutes, des Willens und der Würde des russischen Volkes“.
Solche Worte sprach Putin schon als Ministerpräsident, im Rahmen der Vorbereitungen der Feierlichkeiten zum 2000-Jahr-Jubiläum der Christenheit im November 1999. Und die Kirche hat verstanden: Fortan setzte der Patriarch die Worte Putins in die Sprache der Gläubigen um, was ihn zu einem wichtigen Wahlhelfer des Kreml machte. Zum Beispiel unterstützte er auch den zweiten Tschetschenienkrieg, was wiederum der Kreml im Präsidentenwahlkampf 2000 geschickt instrumentalisierte. Damals bediente Putin das Bedürfnis, die angeschlagene Würde Russlands wiederherzustellen, und propagierte einen neuen Patriotismus, der seitdem seinem Machterhalt dient.
Statt die Versöhnung der Gegner und eine friedliche Lösungen für Tschetschenien anzustreben, heizte Aleksij II. als treuer Gefolgsmann des Präsidenten die Kriegstimmung an. Gefallene Tschetschenienkämpfer der russischen Armee wurden im Beisein von Bischöfen und Priestern der russisch- orthodoxen Kirche geehrt, Generäle und Offiziere des Tschetschenienkrieges erhielten hohe kirchliche Orden. Die Kirche trug also bewusst dazu bei, diesen schmutzigen Krieg in den Augen der Gläubigen zu rechtfertigen, ja in einen heiligen Krieg gegen den internationalen Terrorismus umzudeuten.
In der russischen Vielvölkerarmee gibt es heute an Stelle der einstigen sowjetischen „Politruks“ – also der Politoffiziere, die junge Soldaten in Sowjetpatriotismus und kommunistischer Ideologie schulten – die Militärgeistlichen, die das ideologische Vakuum nach dem Zusammenbruch des Sowjetkommunismus mit national(istisch)-religiös-orthodoxen Inhalten füllen sollen. Das verletzt freilich die russische Verfassung, die eine Gleichberechtigung aller Religionen festschreibt.
Die Inauguration Putins als Präsident Russlands am 2. Mai 2000 wurde zum Sinnbild des Zusammenspiels zwischen Staat und Kirche. „Eine Hand wäscht die andere“, könnte das Motto dieser Symbiose lauten. Bei einem Gebetsgottesdienst, den der Patriarch für den neuen Präsidenten in einer der Kremlkirchen zelebriert hat, versicherte er, die russisch-orthodoxe Kirche stehe der Staatsgewalt bei allem, was der Wiedergeburt des Vaterlandes dient, unerschütterlich zur Seite. „Möge Gott, der Herr, unserer Heimat, dem großen Russland, Eintracht, Blüte und Wohlstand schenken.“ Und Putin antwortete, er sehe in der Tätigkeit der russisch-orthodoxen Kirche einen der Stabilisierungsfaktoren für die russische Gesellschaft: „Gerade ihr kommt nach dem langjährigen Unglauben, nach sittlichem Niedergang und Gottesfeindlichkeit eine gewaltige Aufgabe zu, die russischen Gebiete auf geistlichem Wege zu vereinigen.“
Seit jener Zeit gehört der öffentliche Schulterschluss von Präsident und Patriarch zum russischen Alltag. Böse Zungen munkeln, das sei kein Wunder, denn die beiden kämen aus derselben Schule. Damit spielen sie auf Vermutungen an, die in der Jelzin-Zeit geäußert wurden: Hohe Würdenträger der russisch-orthodoxen Kirche trügen schon seit jeher eine doppelte Last. Als der Priester Georgij Edelschtejn letzten Sommer in einem offenen Brief an den Präsidenten warnend erklärte, die beiden möglichen Anwärter auf die Nachfolge des kränkelnden 75 Jahre alten Aleksij seien Mitarbeiter des Geheimdienstes, fanden seine Bedenken kein Echo. Der Präsident hatte damit offenbar keine Probleme.
© Le Monde diplomatique, Berlin
* Arbeitete lange Jahre für verschiedene Medien als Korrespondentin in Moskau; lebt heute als freie Journalistin in Berlin und Moskau.