12.03.2004

Nachahmungstäter

zurück

Nachahmungstäter

WEIL der Terrorismus sich gegen wehrlose Zivilisten richtet, ist diese Art des Kampfes besonders abscheulich, und kein noch so berechtigtes Anliegen kann das legitimieren. Die Anschläge vom 11. September 2001 und die jüngsten Attentate in Casablanca, Riad, Istanbul, Moskau, Haifa und Jerusalem können nur Abscheu erregen – ebenso wie der als Gegenmaßnahme inszenierte „Staatsterrorismus“ mancher Regierungen:

Unter dem Eindruck der Anschläge des 11. September beeilten sich zahlreiche Länder, neue Gesetze zu verabschieden, die bestimmte Organisationen verbieten, die bürgerlichen Freiheitsrechte einschränken und den Schutz vor Grundrechtsverletzungen aufweichen, wie amnesty international schon in seinem Jahresbericht 2002 beklagte.

Dabei gingen die USA mit schlechtem Beispiel voran. Bereits am 26. Oktober 2001 verabschiedete der US-Kongress den so genannten Patriot Act (Provide Appropriate Tools Required to Intercept and Obstruct Terrorism). Dieses Gesetz verleiht Polizei und Geheimdiensten Sonderbefugnisse und stellt damit das Habeas-Corpus-Prinzip in Frage, das die persönlichen Freiheitsrechte gegenüber den staatlichen Strafverfolgungsbehörden garantiert. Der Patriot Act erlaubt es, Verdächtige in Isolationshaft zu nehmen – wobei insbesondere Ausländer auf unbestimmte Zeit festgehalten werden können. Hausdurchsuchungen, Lauschangriffe und Verletzungen des Postgeheimnisses (betrifft auch E-Mails) bedürfen zuvor nicht mehr der richterlichen Genehmigungspflicht.

Dieser Sicherheitswahn wurde ins Extrem getrieben, als US-Präsident George W. Bush mit dem Erlass vom 13. November 2001 militärische Sondergerichte für ausländische Angeklagte installierte. Kurz darauf wurde in der US-Basis Guantánamo Bay auf Kuba ein Hochsicherheitsgefängnis eingerichtet.

Am 5. Januar dieses Jahres schließlich trat das Programm „US Visit“ in Kraft, das alle einreisenden Ausländer nötigt, ihren rechten und linken Zeigefingerabdruck digital einlesen und ihr Gesicht fotografieren zu lassen.

Dieses für Friedenszeiten einzigartige Arsenal von Sondermaßnahmen, das eines autoritären Staates würdig ist, wurde in anderen Ländern alsbald nachgeahmt. Die britische Regierung hatte keine Bedenken, in Abweichung von Artikel 5 der Europäischen Menschenrechtskonvention im Jahre 2001 ein ähnliches Antiterrorgesetz zu verabschieden. Auch dieses Gesetz macht es möglich, Ausländer ohne Anklage und ohne Verurteilung auf unbegrenzte Zeit zu inhaftieren, wenn sie im Verdacht stehen, die Sicherheit des Landes zu gefährden.

INNENMINISTER David Blunkett würde dieses für Europa einzigartige Gesetz am liebsten verschärfen und auch auf britische Staatsbürger anwenden. Demnach würden Verdächtige präventiv in Geheimprozessen von einem Gericht abgeurteilt, das nur aus Berufsrichtern besteht, also ohne Geschworene auskommt. Die für diese Sondergerichte bestellten Richter, Staats- und Rechtsanwälte würden von den Geheimdiensten ausgewählt, um die Verurteilung von Verdächtigen zu erleichtern. Darüber hinaus möchte der britische Innenminister die Reisepässe mit Mikrochips ausstatten, auf denen Fingerabdrücke und Irismerkmale gespeichert werden können.

Angesichts dieser Entwicklung Orwell’sches Ausmaßes wollte sich die französische Regierung nicht lumpen lassen und hat ihr Sicherheitsarsenal ebenfalls aufgestockt: Mit dem Gesetz Sarkozy zur inneren Sicherheit vom Februar 2003 und dem Gesetz Perben 2, das am 11. Februar dieses Jahres beschlossen wurde, und von sämtlichen Anwaltsvereinen scharf kritisiert wird, da es die Einführung einer geheimen Voruntersuchung vorsieht. Betroffene können also keinen Einspruch dagegen erheben, weil sie gar nicht erst informiert werden. Und Verdächtige können 96 Stunden ohne richterlichen Beschluss festgehalten werden. Die Polizei darf bei ihren Nachforschungen geheimdienstliche Mittel einsetzen, das heißt Telefone abhören, verdächtige Personen und Gruppen infiltrieren, für die Nahüberwachung von Privaträumen sorgen durch versteckte Mikrofone und Kameras, und sie kann nachts Wohnungen von Verdächtigen durchsuchen lassen.

Durch das Beispiel der führenden Demokratien ermutigt, beeilten sich die repressivsten Regime, auf den Antiterrorzug aufzuspringen. In Kolumbien, Indonesien, China, Birma, Usbekistan, Pakistan, der Türkei, Ägypten, Jordanien und der Demokratischen Republik Kongo werden Oppositionelle mittlerweile als „Sympathisanten von Terroristen“ bezeichnet. Damit werde jeder politische Dissens erstickt, klagt die internationale Schriftstellervereinigung P.E.N. in ihrem Bericht vom November 2003.

Die westlichen Demokratien, die seit je den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten nicht allzu viel Bedeutung beimessen, haben sich bislang vor allem um die Verteidigung der politischen Rechte gesorgt. Werden sie nun im Zuge ihres Antiterrorwahns auch noch dieses Grunderfordernis aufgeben? Wenn der Ausnahmezustand zur Normalität erklärt und die Polizei als Zentralfigur des Systems installiert wird, drängt sich die Frage auf, ob die westlichen Demokratien im Begriff sind, vor unser aller Augen Selbstmord zu begehen.

Le Monde diplomatique vom 12.03.2004, von IGNACIO RAMONET