Das Theater der Erinnerung
Von MILAN KUNDERA *
Die Agelasten
ÜBERALL begegnet Pfarrer Yorick diese „geheuchelte Ernsthaftigkeit“, aber er sieht darin nur einen „Ignoranz und Dummheit überdeckenden Schwindel“. Wo immer er kann, verfolgt er sie mit Kommentaren, die „von drolligen und humoristischen Ausdrücken gewürzt“ sind. Diese „unbesonnenen Scherze“ erweisen sich als gefährlich, „auf zehn Witze kommen ihm hundert Feinde“, sodass er eines Tages, als seine Kräfte nicht mehr ausreichen, sich der Rache der Agelasten zu widersetzen, „das Schwert hinwirft und gebrochenen Herzens stirbt“.
So stellt Laurence Sterne eine Figur in seinem Roman „Tristram Shandy“ (1760) vor. Ja, er spricht wirklich von „Agelasten“. Mit diesem aus dem Griechischen abgeleiteten Neologismus bezeichnete Rabelais all jene, die nicht lachen können. Rabelais verabscheute die Agelasten, derentwegen er, seinen eigenen Worten zufolge, um ein Haar „kein Jota mehr geschrieben hätte“. Die Geschichte von Yorick ist der Gruß, den Sterne seinem Meister über zwei Jahrhunderte hinweg zuwinkt.
Es gibt Menschen, deren Intelligenz ich bewundere, deren Redlichkeit ich schätze, in deren Gegenwart ich mich aber unwohl fühle: Ich zensiere meine Äußerungen, um nicht missverstanden zu werden, um nicht zynisch zu erscheinen, um sie nicht durch ein allzu leichtfertiges Wort zu verletzen. Sie leben im Unfrieden mit dem Witz. Ich mache es ihnen nicht zum Vorwurf: ihre Agelastie ist tief in ihnen verankert, und sie können nichts dafür. Aber ich kann auch nichts dafür, und ohne sie zu hassen mache ich einen großen Bogen um sie. Ich will nicht enden wie Pfarrer Yorick.
Jedes ästhetische Konzept (und die Agelastie ist eines) eröffnet Probleme ohne Ende. Jene, die Rabelais einst aus ideologischen (theologischen) Motiven in Grund und Boden verdammten, wurden dazu durch etwas noch tiefer Liegendes angestachelt als die Treue zu einem abstrakten Dogma. Es war eine ästhetische Missbilligung, die sie aufbrachte: die abgrundtiefe Missbilligung des Unernsten; die Empörung gegen den Skandal eines deplatzierten Lachens.
Dass die Agelasten dazu neigen, in jedem Scherz ein Sakrileg zu sehen, liegt nämlich daran, dass jeder Scherz ein Sakrileg ist. Es gibt eine unüberwindliche Unvereinbarkeit zwischen dem Komischen und dem Heiligen, und man kann sich nur fragen, wo das Heilige anfängt und wo es aufhört. Ist es einzig auf die Kirche beschränkt? Oder reicht es weiter, schließt es auch die so genannten hehren weltlichen Werte ein: Mutterschaft, Liebe, Patriotismus, Menschenwürde? Jene, für die das Leben ganz und gar, ohne Einschränkung heilig ist, reagieren mit offener oder heimlicher Verärgerung auf jeden Witz, da sich im kleinsten Witz das Komische offenbart, das als solches eine Schmähung der Heiligkeit des Lebens darstellt.
Man wird das Komische nur verstehen, wenn man die Agelasten versteht. Ihr Vorhandensein verleiht dem Komischen seine volle Bedeutung, zeigt es als eine Herausforderung, ein Risiko, enthüllt seine dramatische Natur.
Der Humor
IM „Don Quijote“ vernimmt man ein Lachen, wie es einem aus den mittelalterlichen Farcen entgegenschallt: man lacht über den Ritter, der statt eines Helms ein Bartbecken auf dem Kopf trägt, man lacht über seinen Diener, der eine Tracht Prügel bekommt. Doch neben dieser oft stereotypen, oft grausamen Komik lässt Cervantes uns eine ganz andere, subtilere auskosten:
Ein liebenswürdiger Landedelmann lädt Don Quijote in sein Haus ein, das er mit seinem Sohn, einem Dichter, bewohnt. Der Sohn, klarsichtiger als sein Vater, erkennt in dem Gast sofort einen Verrückten und bleibt betont auf Abstand. Dann fordert Don Quijote den jungen Mann auf, ihm seine Dichtung vorzulesen; der gehorcht eifrig, und Don Quijote lobt seine Begabung in den höchsten Tönen. Geschmeichelt und glücklich, ist der Sohn auf einmal überwältigt von der Intelligenz des Gastes und vergisst auf der Stelle dessen Verrücktheit. Wer also ist der verrücktere, der Verrückte, der den Klarsichtigen lobt, oder der Klarsichtige, der das Lob des Verrückten glaubt? Damit sind wir in die Sphäre einer anderen Komik eingetreten, einer feineren, unendlich kostbaren. Wir lachen nicht, weil jemand lächerlich gemacht, verspottet oder gar gedemütigt wird, sondern weil eine Realität sich plötzlich in ihrer Mehrdeutigkeit zeigt, weil die Dinge ihre sichtbare Bedeutung einbüßen, die Menschen sich als anders erweisen, als sie selbst zu sein meinen.
Das ist Humor; jener Humor, der für Octavio Paz dank Cervantes und der Geburt des Romans die „große Erfindung“ der Neuzeit ist. Ich werde immer wieder auf diese unermessliche Idee von Paz zurückkommen: Der Humor ist dem Menschen nicht angeboren, er ist eine Errungenschaft der Kultur der Neuzeit (was bedeutet, dass er auch heute keineswegs allen zugänglich ist und dass niemand vorhersehen kann, wie lange diese „große Erfindung“ uns noch erhalten bleibt).
Der Humor ist kein Funke, der bei der komischen Auflösung einer Situation oder einer Geschichte kurz aufblitzt, um uns zum Lachen zu bringen. Sein unauffälliges Licht liegt über der ganzen weiten Landschaft des Lebens. Versuchen wir, die Szene, die ich gerade erzählt habe, noch einmal anzusehen, als wäre es eine Filmrolle: der liebenswürdige Edelmann nimmt Don Quijote mit auf sein Schloss und stellt ihm seinen Sohn vor, der sich beeilt, dem überspannten Gast seine Reserviertheit und Überlegenheit zu zeigen. Aber diesmal wissen wir Bescheid: wir haben die narzisstische Glückseligkeit des jungen Mannes schon gesehen, wenn Don Quijote ein Loblied auf seine Gedichte singt; wenn wir den Anfang der Szene jetzt noch einmal sehen, finden wir das Verhalten des Sohnes gleich prätentiös und seinem Alter unangemessen, das heißt von Anfang an komisch. So sieht ein Erwachsener die Welt, der viel Erfahrung mit der menschlichen Natur hat (der beim Betrachten des Lebens den Eindruck hat, bereits gesehene Filmrollen noch einmal zu sehen) und seit langem aufgehört hat, den Ernst der Menschen ernst zu nehmen.
Und wenn das Tragische uns verlassen hätte?
NACH schmerzlichen Erfahrungen hat Kreon begriffen, dass unbeherrschte persönliche Leidenschaften eine tödliche Gefahr für die Stadt sind. Mit dieser Überzeugung tritt er Antigone entgegen, die ihm gegenüber die nicht minder legitimen Rechte des Einzelnen verteidigt. Sie stirbt, und er, von seiner Schuld erdrückt, wünscht, dass er „keinen Tag mehr sehe“. „Antigone“ war es, die Hegel zu seiner meisterhaften Betrachtung über das Tragische anregte: zwei Antagonisten stehen sich gegenüber, jeder untrennbar an eine Wahrheit gebunden, die partiell und relativ, in sich gesehen jedoch ganz und gar begründet ist. Jeder ist bereit, sein Leben dafür zu opfern, kann ihr aber nur um den Preis der vollständigen Vernichtung des Widersachers zum Sieg verhelfen. Somit sind beide zugleich gerecht und schuldig. Schuldig zu sein gereicht den großen tragischen Figuren zur Ehre, sagt Hegel. Und in der Tat kann einzig tiefes Schuldbewusstsein eine künftige Versöhnung ermöglichen.
Die großen menschlichen Konflikte von der naiven Deutung als Kampf zwischen Gut und Böse zu befreien, sie im Lichte der Tragödie zu verstehen war eine ungeheure Leistung des Geistes; sie brachte die verhängnisvolle Relativität der menschlichen Wahrheiten zu Tage; durch sie wurde das Bedürfnis spürbar, dem Feind Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Aber die Lebenskraft des moralischen Manichäismus ist unbezwingbar: ich erinnere mich an eine Bearbeitung der „Antigone“ die ich kurz nach dem Krieg in Prag sah; ihr Verfasser hatte das Tragische in der Tragödie getötet, indem er Kreon zu einem bösartigen Faschisten machte, der einer jungen Freiheitskämpferin gegenüberstand.
Derartige politische Aktualisierungen der „Antigone“ waren nach dem Zweiten Weltkrieg sehr beliebt. Hitler brachte nicht nur unsägliche Gräuel über Europa, er brachte es auch um seinen Sinn für das Tragische. Nach dem Muster des Kampfes gegen den Nationalsozialismus wird seither die gesamte Zeitgeschichte als Kampf zwischen Gut und Böse gesehen und erlebt. Kriege, Bürgerkriege, Revolutionen, Gegenrevolutionen, nationale Befreiungskämpfe, Aufstände und ihre Unterdrückung wurden aus dem Gebiet des Tragischen verjagt und der Autorität von strafwütigen Richtern unterstellt. Ist das regressiv? Ein Rückfall in das vortragische Stadium der Menschheit? Doch wer ist in diesem Fall regrediert? Die Geschichte selbst, von Kriminellen usurpiert? Oder unsere Art und Weise, die Geschichte zu verstehen? Ich sage mir oft: das Tragische hat uns verlassen; und darin besteht womöglich die wahre Strafe.
Das unvergessliche Vergessen
1975, wenige Monate nachdem ich mein von der russischen Armee besetztes kleines Heimatland für immer verlassen hatte, fand ich mich auf Martinique wieder. Vielleicht wollte ich für einige Zeit meine Lage als Emigrant vergessen. Aber es war unmöglich: Überempfindlich, wie ich für das Schicksal kleiner Länder war, erinnerte mich alles dort an mein Böhmen, zumal Martinique zum Zeitpunkt meines Besuchs leidenschaftlich um eine eigene kulturelle Identität rang.
Was war mir damals über diese Insel bekannt? Nichts. Außer dem Namen von Aimé Césaire, dessen Gedichte ich gleich nach dem Krieg mit siebzehn Jahren in einer tschechischen Avantgarde-Zeitschrift in Übersetzung gelesen hatte. Martinique war für mich die Insel Aimé Césaires. Und so ist sie mir tatsächlich erschienen, als ich sie betrat. Césaire war damals Bürgermeister von Fort-de-France. Jeden Tag sah ich vor dem Rathaus Menschenmassen, die darauf warteten, mit ihm zu sprechen, sich ihm anzuvertrauen, ihn um Rat zu fragen. Bestimmt werde ich nie wieder einen so engen, körperlichen Kontakt zwischen dem Volk und dem, der es vertritt, sehen.
Der Dichter als Begründer einer Kultur, einer Nation – das habe ich in meinem Mitteleuropa sehr gut gekannt; das waren zum Beispiel Karel Hynek Macha in Böhmen, Adam Mickiewicz in Polen, Sándor Petöfi in Ungarn. Doch Macha war ein verfemter Dichter, Mickiewicz war Emigrant, Petöfi ein Revolutionär, der 1849 in jungen Jahren in einer Schlacht umkam. Ihnen war es nicht gegeben, das kennen zu lernen, was Césaire kannte: die offen erklärte Liebe der Seinen. Zudem war Césaire kein Romantiker des 19. Jahrhunderts, er war ein moderner Dichter, Erbe Rimbauds, Freund der Surrealisten. Während die Literatur der kleinen mitteleuropäischen Länder in der Kultur der Romantik wurzelte, ging die Kultur von Martinique und der ganzen Antillen (und das entzückte mich!) aus der Ästhetik der modernen Kunst hervor!
Ausgelöst wurde alles durch ein Gedicht des jungen Césaire: „Rückkehr ins Land der Geburt“ (1939); die Rückkehr eines Negers auf eine Antilleninsel von Negern; ohne jede Romantisierung, Idealisierung (Césaire spricht nicht von Schwarzen, er spricht absichtlich von Negern) fragt das Gedicht schonungslos: „Wer sind wir?“. Mein Gott, ja, wer sind sie, diese Schwarzen der Antillen? Sie waren im 17. Jahrhundert aus Afrika dorthin verschleppt worden; aber woher genau? Welchem Stamm hatten sie angehört? Welche Sprache hatten sie gesprochen? Die Vergangenheit wurde vergessen. Guillotiniert. Guillotiniert von einer langen Reise im Kielraum, inmitten von Leichen, Schreien, Tränen, Blut, Selbstmorden, Morden; nichts blieb nach dieser Fahrt durch die Hölle; nichts als das Vergessen: das grundlegende, Grund legende Vergessen.
Der unvergessliche Schock des Vergessens hat die Insel der Sklaven in ein Traumtheater verwandelt; denn nur durch Träume konnten sich die Martinikaner ihre eigene Existenz vorstellen, ihre existentielle Erinnerung erschaffen; der unvergessliche Schock des Vergessens erhob die Volkserzähler in den Rang von Poeten der Identität (als Hommage an sie schrieb Chamoiseau sein „Solibo magnifique“ (1988); sie hinterließen den Romanciers ihr großartiges mündliches Erbe. Diese Romanciers habe ich sehr geliebt (nicht nur Martinikaner, auch Haitianer: René Depestre, Emigrant wie ich; Jacques Stéphen Alexis, 1961 von Faschisten umgebracht, so wie zwanzig Jahre zuvor der tschechische Schriftsteller Vladislav Vancura, meine erste große literarische Liebe, von den Nazis umgebracht worden war). Die Poetik ihrer Romane war ganz und gar originell (Traum, Magie, Phantasie spielten darin eine außergewöhnliche Rolle) und war nicht nur für ihre Inseln von Bedeutung, sondern (etwas sehr Seltenes, was ich betonen möchte) für die moderne Kunst des Romans.
Das Theater der Erinnerung
IN „Terra nostra“ (1975) von Carlos Fuentes gibt es die Figur eines verrückten Wissenschaftlers, der ein seltsames Labor besitzt, ein „Theater der Erinnerung“. Dank einer phantastischen Vorrichtung kann er darin nicht nur alle Ereignisse, die stattgefunden haben, sondern auch die, die stattgefunden haben könnten, auf eine Leinwand projizieren. Ihm zufolge gibt es neben der „wissenschaftlichen Erinnerung“ die „Dichtererinnerung“, die der wirklichen Geschichte alle nur möglichen Ereignisse hinzufügt und so die „totale Kenntnis einer totalen Vergangenheit“ enthält.
Gleichsam inspiriert von seinem verrückten Wissenschaftler, stellt Fuentes in „Terra nostra“ die historischen Gestalten aus dem Spanien des 16. Jahrhunderts auf die Bühne, die Könige und Königinnen, aber ihre Abenteuer haben keine Ähnlichkeit mit dem, was wirklich geschehen ist; was Fuentes auf die Leinwand seines eigenen „Theaters der Erinnerung“ projiziert, ist nicht die Geschichte Spaniens; es ist eine phantastische Variation zum Thema der Geschichte Spaniens.
Was mich an einen sehr witzigen Abschnitt aus „Henri III.“ (1974) von Kazimierz Brandys erinnert: An einer amerikanischen Universität lehrt ein polnischer Emigrant die Literaturgeschichte seiner Heimat. Da er weiß, dass niemand eine Ahnung davon hat, erfindet er zum Spaß eine fiktive Literatur, deren Schriftsteller und Werke nie das Tageslicht erblickt haben. Am Ende des Studienjahrs stellt er erstaunt fest, dass diese imaginäre Geschichte sich nicht wesentlich von der tatsächlichen unterscheidet. Dass er nichts erfunden hat, was nicht hätte geschehen können und dass seine Mystifikationen getreulich das Wesentliche der polnischen Literatur widerspiegeln.
Auf der Leinwand seines eigenen „Theaters der Erinnerung“ beobachtete Robert Musil die Aktivität einer mächtigen Wiener Institution, der „Parallelaktion“, die für das Jahr 1914 die Jubiläumsfeier ihres Kaisers vorbereitete, mit der Absicht, ein großes paneuropäisches Friedensfest daraus zu machen. Über zweitausend Seiten hinweg dreht sich die ganze Handlung von „Der Mann ohne Eigenschaften“ (1930–43) um diese bedeutende intellektuelle, politische, diplomatische und gesellschaftliche Institution, die es nie gegeben hat.
Kollektive Ereignisse fallen nämlich in den Bereich der Statistik, sagt Musil. Das heißt, dass die Jahreszahlen der Kriege, die Namen der Sieger und der Besiegten, die verschiedenen politischen Initiativen sich aus einem Spiel von Variationen und Permutationen ergeben, deren Grenzen mathematisch bestimmt sind von viel tieferen Kräften. Musil wusste, dass diese „tieferen Kräfte“ in einer anderen Variation der Geschichte oft deutlicher zum Ausdruck kommen als in der, die sich, zufällig, ereignet hat.
Der um die Existenz kreisende Projektor
MAN könnte Sinn (und Erbe) des Modernismus in der Anstrengung jeder einzelnen Kunst sehen, sich ihrer Besonderheit, ihrer Essenz so weit wie möglich anzunähern. So hat die Lyrik alles über Bord geworfen, was rhetorisch, didaktisch, ornamental war, um die tiefe und reine Quelle der poetischen Phantasie sprudeln zu lassen. Die Malerei hat ihre dokumentierende, mimetische Funktion aufgegeben, all das, was durch ein anderes Mittel (die Fotografie zum Beispiel) ausgedrückt werden konnte. Und der Roman? Auch er weigert sich, zur Illustration der Geschichte, zur Beschreibung einer Gesellschaft, zur Verteidigung einer Ideologie da zu sein, und macht sich auf die Suche nach dem, „was allein der Roman sagen kann“.
Kürzlich las ich eine 1958 entstandene Novelle von Kenzaburô Ôe, „Blökende Herde“. In einen Bus voller Japaner steigt abends eine Bande betrunkener Soldaten ein, die einer fremden Armee angehören. Sie machen sich daran, einen Fahrgast, einen Studenten, zu terrorisieren. Sie zwingen ihn, seine Hose auszuziehen und seinen Hintern zu zeigen. Der Student hört ringsum unterdrücktes Lachen. Aber die Soldaten sind mit diesem einen Opfer nicht zufrieden und zwingen die Hälfte der Fahrgäste, gleichfalls ihre Hose auszuziehen. Der Bus hält an, die Soldaten steigen aus, und die Betroffenen ziehen ihre Hosen wieder an. Die anderen erwachen aus ihrer Passivität und nötigen die Gedemütigten, zur Polizei zu gehen und das Verhalten der fremden Soldaten anzuzeigen. Einer von ihnen, ein Lehrer, stürzt sich auf den Studenten: er steigt mit ihm aus, geht mit ihm bis nach Hause, will seinen Namen wissen, um seine Demütigung öffentlich zu machen und die Fremden anzuklagen. Alles endet mit einem Ausbruch von Hass zwischen ihnen. Eine großartige Geschichte über Feigheit, Scham, Schande, aggressive Indiskretion, Sadismus, Hass … Aber ich erwähne diese Novelle nur, um zu fragen: wer sind diese fremden Soldaten? Amerikaner natürlich, die Japan nach dem Krieg besetzt hielten. Wenn der Autor namentlich von „japanischen“ Fahrgästen spricht, warum gibt er dann die Nationalität der Soldaten nicht an? Politische Zensur? Stilmoment? Nein. Stellen Sie sich vor, die japanischen Fahrgäste wären in der ganzen Novelle amerikanischen Soldaten ausgesetzt! Unter der Hypnose dieses einen, deutlich ausgesprochenen Wortes würde die Novelle zu einem politischen Text schrumpfen, zu einer Anklage der Besatzer. Mit dem Verzicht auf dieses Adjektiv versinkt der politische Aspekt im Halbdunkel, und das Licht konzentriert sich auf das maßgebende Rätsel, das den Romancier interessiert, das existentielle Rätsel.
Die Geschichte mit ihren Bewegungen, ihren Kriegen, Revolutionen und Gegenrevolutionen, ihren nationalen Demütigungen usw. interessiert den Romancier nämlich nicht als Gegenstand, den es zu beschreiben, zu erzählen, zu erklären gilt; der Romancier ist nicht der Diener der Historiker; doch die Geschichte fasziniert und inspiriert ihn: Sie ist für ihn wie ein Projektor, der um die menschliche Existenz kreist und deren unbekannte, unerwartete Möglichkeiten beleuchtet, die sich in friedlichen, unbewegten Zeiten nicht zeigen, die verborgen, unsichtbar bleiben.
deutsch von Uli Aumüller
* Tschechischer Schriftsteller, geb. 1929, lebt seit 1975 in Frankreich. Autor u. a. von: „Der Scherz (1968)“, „Das Buch vom Lachen und vom Vergessen“ (1979), „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“, „Die Langsamkeit“ (1995). Außerdem erschienen die Essay-Bände „Kunst des Romans“ (1986) und „Verratene Vermächtnisse“ (1996). Milan Kundera schreibt heute in französischer Sprache. In diesem Frühjahr erschien in Paris sein Roman „L‘ignorance“ (dt. „Die Unwissenheit“, München, Hanser 2000).