Europas letzter Mauerfall
ALS am 16. April auf dem Athener EU-Gipfel der Beitrittsvertrag der Republik Zypern unterzeichnet wurde, war die Insel noch immer geteilt. Vorerst können sich also nur die griechischen Zyprioten als künftige EU-Bürger fühlen. Aber die Union hält die Tür für die türkischen Zyprioten ausdrücklich offen. Die waren von ihren Landsleuten im Süden völlig abgeschottet, bis am 22. April in Nicosia der Schlagbaum aufging. Seitdem sind zwischen den Menschen in Norden und Süden so intensive Kontakte entstanden, dass der EU-Beitritt eines vereinigten Zypern zum 1. Mai 2004 keine blanke Utopie mehr ist.
Von NIELS KADRITZKE *
Vor drei Jahren wurde das unscheinbare Klötzchen abgerissen. Es stand am Paphos-Tor, mitten in der Hauptstadt Nicosia. Seine historische Bedeutung war dem Schild abzulesen, das es auf Griechisch und Türkisch als „öffentliche Toilette“ auswies. Es war das letzte Baudenkmal der ersten ungeteilten Republik Zypern.
Niemand nahm den Verlust zur Kenntnis. Im Jahr 2000 hielten die meisten griechischen Zyprioten die Teilung ihrer Insel ohnehin für besiegelt. Und der türkisch besetzte Norden war für sie unerreichbar. Als Symbol der Teilung hingen über dem Häuschen, auf der Bastion der venezianischen Stadtmauer, zwei Fahnen: das rot-weiße Tuch des separatistischen Nordzypern (Turkish Republic of Northern Cyprus, TRNC) und die rote Fahne der Türkei, die 35 000 Soldaten in ihrem Protektorat stationiert hat.
Die Teilung besteht seit 1974, seit dem Putsch der Athener Obristen gegen die Regierung von Erzbischof Makarios, der die Invasion der türkischen Armee auslöste. Die eroberte 37 Prozent des Inselterritoriums und trieb 160 000 griechische Bewohner in den Süden. Die von UN- Blauhelmen bewachte Waffenstillstandslinie war seitdem so undurchlässig, wie es die Berliner Mauer nie gewesen war.
Bis vor kurzem. Seit dem 22. April dieses Jahres hat die Mauer von Nicosia einen Riss. Rauf Denktasch, der Herrscher des abgeschotteten Nordens, entschied von einem Tag auf den anderen, dass griechische Zyprioten den Norden und türkische Zyprioten den Süden besuchen können. Seitdem haben sich gut 250 000 Inselgriechen und 100 000 Inseltürken auf der anderen Seite umgesehen. Und jetzt hoffen nicht nur die Zyprioten, dass die letzte Mauer in Europa endgültig fällt.
Aber noch ist es nicht so weit. Die rührenden Szenen des Wiedersehens zwischen alten Bekannten, die offen-neugierigen Begegnungen zwischen jungen Leuten, die erst nach 1974 geboren wurden, haben aller Welt demonstriert, dass griechische und türkische Zyprioten friedlich zusammenleben oder sich zumindest als Nachbarn respektieren können. Die „Volksdiplomatie“, sagen die Optimisten auf beiden Seiten, hat die Feindbilder der Nationalisten und die Bedenken der Politiker hinweggefegt. Die griechischen Zyprioten hörten nicht auf ihre Staatsführung, die sie ermahnte, den TRNC-Behörden keine Pässe vorzuzeigen, weil das die Anerkennung des „Pseudostaates“ bedeute. Und die türkischen Zyprioten hatten die eigene Regierung überhaupt erst auf Trab gebracht. Im März waren 80 000 Demonstranten auf die Straße gegangen und hatten ihren Führer Denktasch verflucht, weil er den UN-Plan über eine Zypern-Lösung endgültig abgelehnt und ihnen den Beitritt in die Europäische Union verbaut hatte.
Die Opposition im Norden rätselt heute, ob Denktasch mit seiner Grenzöffnung auf den Druck der Straße reagierte oder ob er die griechische Seite zu Gegenleistungen zwingen will. Fest steht, dass er von Ankara bedrängt wurde, und das nicht zufällig kurz nach dem EU-Gipfel von Athen. Am 16. April hatte Zypern unter der Akropolis den Vertrag über den EU-Beitritt unterzeichnet, der zunächst nur für den Süden gilt. Damit war die türkische Zypern-Politik endgültig gescheitert. Die Aufnahme der Republik Zypern, die völkerrechtlich ganz Zypern repräsentiert, faktisch aber nur den griechischen Teil, wollte man unbedingt verhindern, um ein Druckmittel für die eigenen EU-Ambitionen in der Hand zu haben. Seit Athen ist es genau umgekehrt: Jetzt wird die Lösung der Zypernfrage zu einer Bringschuld Ankaras, ohne die ein türkischer EU-Beitritt kaum denkbar ist. Die EU aber wird die TRNC niemals anerkennen und die von Denktasch noch immer angestrebte Zwei-Staaten-Lösung niemals zulassen.
Die griechischen Zyprioten sahen in ihrem EU-Beitritt von Anfang an kein ökonomisches, sondern ein politisches Projekt. Er war als Hebel für eine föderative Lösung gedacht oder – sollte diese scheitern – als Versicherungspolice gegen einen türkischen Expansionismus, der hysterisch überschätzt wurde. Was die türkischen Zyprioten betrifft, so kann der Norden nachträglich in die Union aufgenommen werden, sobald eine politische Lösung gefunden ist. Dieses „deutsche Modell“, das die EU im Fall der Osterweiterung um die DDR praktiziert hat, ist im Beitrittsvertrag auch für Nord-Zypern vorgesehen. Die EU wird in diesem Fall den türkischen Zyprioten die nötigen Subventionen und Übergangsfristen gewähren, damit sie den acquis communitaire in absehbarer Zeit übernehmen können. Die Kosten einer zusätzlichen Integration des Nordens wären minimal. Schließlich handelt es sich nur um 150 000 Menschen, und der leistungsfähige Süden Zyperns wird bald zu den Nettozahlern der EU gehören.
Wann ganz Zypern zur EU gehören wird, weiß heute niemand. Aber dass die Insel im östlichen Mittelmeer zu Europa gehört, spüren selbst die Kulturbanausen unter den Urlaubstouristen. Sie sehen griechische und römische Baudenkmäler aus der Antike, byzantinische Kirchen, gotische Kathedralen aus der Epoche der Kreuzzüge, venezianische Festungsanlagen. Und sie vermerken auf Schritt und Tritt die Fußabdrücke der englischen Kolonialherrschaft, von den Trinkgewohnheiten bis zum Linksverkehr. Wenn die griechischen Inselbewohner sich entschließen könnten, auch die osmanische Epoche (in Zypern von 1571 bis 1878) der europäischen Geschichte zuzurechnen, könnten sie auf eine 3 000-jährige lückenlose Zugehörigkeit zu Europa verweisen. Dass diese europäische Identität sich erst sehr spät auf das Projekt der europäischen Einigung orientiert hat, liegt an einer spezifischen Verspätung der zypriotischen Geschichte. Die politische Elite der Inselgriechen, die selbst in osmanischer Zeit nicht weniger als 75 Prozent der Bevölkerung ausmachten, dachten und agierten bis Ende der 1960er-Jahre als griechische Nationalisten. Sie sahen die orthodoxe Gemeinschaft als Teil der griechischen Nation, deren natürliche Bestimmung die Vereinigung (Enosis) mit dem fernen Mutterland sei. Mit dem Ziel der Enosis wurde auch der Kampf gegen die englische Kolonialmacht (1955–1960) geführt. Das musste einen nationalistischen Abwehrreflex der türkischen Minderheit auslösen, der sich in dem separatistischen Drang nach Teilung (taksim) und einem eigenen, „griechenfreien“ Territorium ausdrückte.
Staat ohne Staatsbürger
MIT ihrer maximalistischen Politik trieben sich die Nationalisten auf beiden Seiten gegenseitig die Anhänger zu. Die Folge war, dass die erste Republik Zypern, die 1960 als Kompromiss zwischen der britischen Kolonialmacht und den Regierungen in Athen und Ankara zustande kam, ein Staat ohne Staatsbürger war. Diese „Republik wider Willen“ wurde im Bürgerkrieg von 1963/64 von den politischen Führungsgruppen beider Seiten zerstört, die immer noch ihre nationalistischen Maximalziele Enosis und taksim durchsetzen wollten. Schon damals hat die Trennung der beiden Volksgruppen begonnen, die dann 1974 von der türkischen Armee mit Waffengewalt vollendet wurde.
Spätestens seit 1974 haben die Inselgriechen ihre Lektion gelernt: Angesichts der geopolitischen Verhältnisse – der Nähe und Stärke der Türkei – kann Enosis-Politik nur zu taksim führen. Die Teilung hat sie von ihrem unzeitgemäßen Nationalismus geheilt. Das führte zunächst in eine Identitätskrise, die durch rastloses Ackern für materielle Ziele übertüncht wurde. Daraus entstand immerhin das „Wirtschaftswunder“, das den 1974 schlagartig verarmten Süden zum aussichtsreichen EU-Kandidaten qualifizierte. Aber diese Perspektive bietet ihnen auch ein neues Identitätsversprechen, ohne dass sie ihre Zugehörigkeit zur griechischen „Kulturnation“ verleugnen müssen. Dieser identitätspolitische Legierungsprozess, in dem sich eine neue, europäisch orientierte Elite griechischer Zyprioten herausbildet, verändert auch deren Wahrnehmung der türkischen Zyprioten. In dem Maße, in dem sich die Landsleute im Norden ihrerseits vom türkischen Nationalismus distanzieren, werden sie im Süden als willkommene Partner in einem EU-Mitgliedstaat Zypern wahrgenommen. Und zwar ohne das Überlegenheitsgefühl, das die Inselgriechen – als Teilhaber an der „ältesten europäischen Kulturnation“ – lange Zeit gegenüber ihren muslimisch-türkischen Landsleuten gepflegt hatten, die sie bestenfalls wie eine „rückständige Minderheit“ bevormunden wollten.
Doch diese türkischen Zyprioten haben sich in den letzten Jahren auf ganz eigenständige Weise für eine europäische Zukunft qualifiziert. Die Demonstrationen gegen das Denktasch-Regime und für den UN-Plan und die gemeinsame EU-Perspektive haben bewirkt, dass die Opposition des Nordens nicht nur in Brüssel und den EU-Hauptstädten als authentische Stimme der türkischen Zyprioten wahrgenommen wird. Diese Opposition hat vor allem auch im Süden Eindruck gemacht und das Verhältnis zwischen den beiden Volksgruppen stärker beeinflusst als irgendein Ereignis seit 1974. Die griechischen Zyprioten spüren heute, dass die türkischen Zyprioten ein existenzielles Motiv haben, für eine „europäische Lösung“ des Zypern-Problems zu kämpfen. Für sie ist es der einzige Weg, der Falle des türkischen Nationalismus zu entkommen, der ihnen lediglich korrupte und arrogante Protektoren vor die Nase gesetzt und eine trostlose wirtschaftliche Lage beschert hat. Die Lage hat in den letzten Jahren immer mehr und vor allem junge Leute zur Auswanderung gezwungen.
Längst registrieren auch die offiziellen EU-Beobachter die erstaunliche Tatsache, dass die überzeugtesten Europäer in Zypern heute im Norden wohnen. Und zwar nicht, weil die Inseltürken mehr Geld aus den EU-Kassen erwarten dürfen. Sie wissen vielmehr, dass sie nur im Rahmen eines EU-Mitgliedslandes ihre Identität als türkische Zyprioten bewahren können, die ihnen seit 1974 durch ihre unfreiwillige Konfrontation mit den Siedlern aus Anatolien und ihre Bevormundung durch die „Paschas“ immer klarer bewusst wurde.
Egal, was sich Denktasch und die Regierung in Ankara von der begrenzten Freizügigkeit in Zypern versprochen haben, die Menschen auf beiden Seiten der „grünen Linie“ haben die Chance zu einer eigenständigen Botschaft genutzt: Griechische und türkische Zyprioten können und wollen in Europa zusammenkommen mit dem guten Willen, aus ihren historischen Fehlern zu lernen. Sie sehen in der EU-Mitgliedschaft einen Katalysator für die Entstehung einer zweiten Republik, die endlich das gescheiterte Staatsprojekt, das die Nationalisten beider Seiten zerstört haben, durch eine Föderation europäischen Typs neu begründen kann.
So wie die EU-Perspektive für Zypern eine Chance ist, bietet auch Zypern der Union die Möglichkeit, eine folgenreiche und exemplarische Leistung zu erbringen. Sie könnte in ihrem östlichsten Mitgliedsland die politische Versöhnung und die gesellschaftliche Integration zweier ehemals verfeindeter Gruppen auf eine Weise fördern, die ein Beispiel für ganz Südosteuropa setzen würde: Wie man einen von nationalistischer Konkurrenz geprägten und durch historische Katastrophen überheizten Konflikt entschärfen kann, indem man den Kontrahenten eine langfristige ökonomische Perspektive bietet und sie auf übernationale Normen und multilaterale Entscheidungsstrukturen verpflichtet.
Die Vollendung einer griechisch-türkischen Föderation Zypern wäre also ein Zukunftsprojekt, das die Integrationskraft der europäischen Identität so nachhaltig demonstrieren könnte wie an keinem anderen Ort. Das Gelingen dieses Projekts hängt allerdings weitgehend davon ab, wie sich das Verhältnis zwischen der EU und der Türkei entwickeln wird. Zum Verzicht auf das Zwei-Staaten-Modell, das mit der EU-Mitgliedschaft wie mit dem Annan- Plan unvereinbar ist, kann Denktasch nur durch die politische Führung in Ankara gezwungen werden. Doch der kemalistische Machtblock in Ankara, der die Bürokratie und das Militär beherrscht, hat immer noch nicht erkannt, welche Chancen im EU-Beitritt eines vereinigten Zypern liegen – allen voran die Chance, dass Türkisch zu einer offiziellen EU-Sprache würde. Ob diese Einsicht in der Türkei rechtzeitig reift, wird sich spätestens im nächsten Jahr zeigen müssen. Denn die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der EU-Kommission, die Anfang 2005 beginnen könnten, setzt eine Lösung des Zypern-Problems voraus.
Aber auch wenn die Teilung des Inselstaats innerhalb der nächsten zwölf Monate überwunden sein sollte, wird am 1. Mai 2004 nicht ganz Zypern zur Union gehören. Als koloniale Hinterlassenschaft wird es im Süden auch nach dem EU-Beitritt der Insel zwei britische Militärbasen geben, die nach dem Willen Londons exklusiv britisch bleiben, das heißt nicht zu Unions-Territorium werden sollen. Selbst wenn der Graben zwischen den türkischen und den griechischen Inselbewohnern bis dahin zugeschüttet wäre, wird man in Zypern zukünftig eine andere politische Kluft besichtigen können: die Differenz zwischen dem „alten“ und dem „neuen“ Europa, wie sie in Zypern bereits vor zwei Monaten deutlich zutage trat. Während die UN-Waffeninspektoren für den Irak ihr Basislager auf dem Boden der Republik Zypern eingerichtet hatten, diente die Militärbasis von Akrotiri der britischen Marine und Luftwaffe als logistischer und kommunikativer Stützpunkt für die „Allianz der Willigen“, der das Wohlwollen der militärischen Vormacht USA wichtiger ist als das Völkerrecht.
Tausende Zyprioten protestierten am 1. Mai 2003 im Zentrum von Nicosia gegen die Verletzung des Völkerrechts. Es war die erste gemeinsame Mai-Demonstration der Gewerkschaften aus dem Süden und dem Norden nach über dreißig Jahren. Die alte Arbeiterbewegung Zyperns formulierte die Forderungen des alten Europa, unter roten Bannern und blauen EU-Fahnen. Und in zwei Sprachen: auf Türkisch und auf Griechisch.
Dieser Text erscheint nur in der deutschsprachigen Ausgabe
* Redakteur Le Monde diplomatique, deutsche Ausgabe