16.05.2003

Teure Freiheit

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Teure Freiheit

Kolumne von NAOMI KLEIN *

AM 6. April dieses Jahres ließ Paul Wolfowitz die Katze aus dem Sack: Für die Vereinten Nationen, meinte der stellvertretende US-Verteidigungsminister, habe man bei der Bildung einer Interimsregierung im Irak keine Rolle vorgesehen. Und das jetzige, von den USA betriebene Regime werde mindestens noch sechs Monate installiert bleiben, „wahrscheinlich noch länger“.

Zu dem Zeitpunkt, da die Iraker eine Regierung wählen können, wird die Besatzungsmacht also bereits die wichtigsten wirtschaftlichen Entscheidungen über die Zukunft ihres Landes getroffen haben. „Vom ersten Tag an muss es eine effektive Verwaltung geben“, meinte Wolfowitz. „Die Menschen brauchen Wasser und Nahrungsmittel und Medikamente, das Abwassersystem muss funktionieren, ebenso die Stromversorgung. All das liegt in der Verantwortung der Koalition.“

Das Bemühen, die gesamte Infrastruktur wieder funktionsfähig zu machen, bezeichnet man gemeinhin als „Wiederaufbau“. Aber die US-amerikanischen Pläne für die wirtschaftliche Zukunft des Irak gehen weit darüber hinaus. Das Land wird wie eine Art Tabula rasa behandelt, auf der die Vorkämpfer des Neoliberalismus, die in Washington regieren, die Wirtschaft ihrer Träume errichten können: eine vollständig privatisierte, vom Auslandskapital beherrschte Volkswirtschaft, in der sich gute Geschäfte machen lassen.

Die ersten Verträge sind unter Dach und Fach. Der Auftrag zum Betreiben des Hafens von Umm Kasr ging an das US-Unternehmen Stevedoring Services. Die Agency for International Development hat die US-amerikanischen Multis aufgefordert, sich um alle anfallenden Aufträge zu bewerben, vom Wiederaufbau von Straßen und Brükken bis zum Druck von Schulbüchern. Über kurz oder lang dürften solche Verträge in langfristige Vereinbarungen über privatisierte Wasserwerke, Fernstraßen, Telefondienste münden. Wann wird der Wiederaufbau in eine verkappte Privatisierung umkippen?

Darrell Issa, ein republikanischer Abgeordneter des US-Repräsentantenhauses aus Kalifornien, hat einen Gesetzentwurf eingebracht, der das US-Verteidigungsministerium dazu verpflichten soll, im Nachkriegsirak ein Mobiltelefonsystem aufzubauen, das auf der CDMA-Technologie basiert, damit die „US-amerikanischen Patentinhaber“ davon profitieren. Wie Farhad Manjoo in der online-Zeitschrift Salon (www.salon.com) vermerkt, ist diese Technologie der „dritten Generation“ in den Vereinigten Staaten, aber nicht in Europa im Gebrauch und wurde von dem Unternehmen Qualcomm entwikkelt, das zu den großzügigsten Wahlkampfspendern des Abgeordneten gehört.

Und dann ist da noch das Öl. Die Bush-Administration weiß natürlich, dass sie nicht offen davon reden kann, die Ölvorkommen des Irak an Exxon Mobil und Shell zu verkaufen. Das überlässt sie Leuten wie Fadhil Tschalabi, der früher einmal im irakischen Ölministerium arbeitete. „Wir müssen Riesenmengen Geld ins Land bringen“, meint Tschalabi, „Das geht nur, wenn wir die Ölindustrie teilweise privatisieren.“

Tschalabi gehört zu einer Gruppe irakischer Exilpolitiker, die dem US-Außenministerium als Berater dienen und sich Gedanken machen, wie man die Privatisierung so durchziehen kann, dass sie nicht als Initiative der USA erscheint. Zu diesem Zweck hat die Gruppe auf einer Konferenz Anfang April in London den Irak aufgefordert, seinen Ölsektor nach dem Krieg für die Ölmultis zu öffnen. Als Zeichen ihrer Dankbarkeit hat die Bush-Administration versprochen, dass für die irakischen Exilpolitiker in der Interimsregierung eine Menge Posten abfallen werden.

Manche Leute warnen vor der allzu simplen Ansicht, bei diesem Krieg sei es nur um das Öl gegangen. Diese Leute haben Recht. Es geht nämlich um Öl und um Wasser, um Straßen und Eisenbahnlinien, um Telefonnetze, Hafenanlagen und Drogen.

Es ist daher keine Überraschung, dass so viele Multis sich für die jungfräulichen irakischen Märkte interessieren. Es geht ja nicht nur um Wiederaufbau-Aufträge im Wert von bis zu 100 Milliarden Dollar. Es geht auch darum, dass der „freie Handel“ mittels weniger gewaltsamer Mittel in letzter Zeit nicht besonders gut läuft. Immer mehr Entwicklungsländer lehnen weitere Privatisierungen ab, und die panamerikanische Freihandelszone, das Lieblingsprojekt der Bush-Administration, ist in ganz Lateinamerika höchst unpopulär. Und die WTO-Verhandlungen über Rechte an geistigem Eigentum, landwirtschaftliche Produkte und Dienstleistungen sind alle festgefahren, weil die Partner der Vereinigten Staaten und der Europäischen Union bemängeln, dass diese beiden größten Handelsmächte früher gemachte Zusagen noch nicht erfüllt haben.

Was also könnte eine vom Wirtschaftswachstum abhängige Supermacht angesichts einer drohenden Rezession tun? Statt sich den Zugang zu neuen Märkten durch harte Machtpolitik hinter geschlossenen Verhandlungstüren zu sichern, könnte man doch aufs Ganze gehen und die neuen Märkte auf dem Schlachtfeld erobern. Ein Präventivkrieg erspart die Verhandlungen mit souveränen Staaten, die ja auch ganz schön schwierig sein können. Da ist es doch viel leichter, das Land einfach zu besetzen, aufzuteilen und dann nach den eigenen Vorstellungen wieder aufzubauen. Präsident Bush hat das Prinzip des Freihandels nicht aufgegeben, wie einige Beobachter behaupten, er hat nur eine neue Doktrin entwickelt: Erst bomben, dann kaufen.

Die Investoren sehen mit Vergnügen voraus, dass nach der Grundentscheidung für die Privatisierung des Irak auch der Iran, Saudi-Arabien und Kuwait gezwungen sein werden, ihre Ölvorkommen zu privatisieren, um der Konkurrenz standzuhalten. Demnächst dürfte also klar werden, dass sich die USA eine komplette neue Freihandelszone herbeigebombt haben.

Nach den Worten von Chris Patten, dem EU-Kommissar für Auswärtige Angelegenheiten, wäre es von den Vereinigten Staaten „außerordentlich unsensibel“, wenn sie die ganzen fetten Aufträge für sich allein reservieren würden. In Washington soll man gefälligst teilen lernen: Der US-amerikanische Ölgigant Exxon Mobil hat vorgeschlagen, die französische TotalFinaElf an der Ausbeutung der lukrativsten Ölfelder zu beteiligen; der US-amerikanische Baukonzern Bechtel solle die britischen Kollegen von Thames Water an den Verträgen über Abwassersysteme und Kläranlagen beteiligen.

Nun mag Patten den kommerziellen Unilateralismus der USA in diesem Fall äußerst misslich finden, aber der entscheidende Punkt liegt ganz woanders. Es ist nämlich völlig egal, welche Multis beim irakischen Räumungsverkauf in der Ära nach Saddam und vor der Einführung der Demokratie die besten Schnäppchen machen. Ist es wirklich ein Unterschied, ob die Privatisierung unilateral von Washington oder multilateral von den Vereinigten Staaten, Europa, Russland und China durchgezogen wird?

Wer in dieser ganzen Debatte nichts zu sagen hat, das ist das irakische Volk. Dabei könnte es ja durchaus sein, dass die Iraker ein paar ihrer wertvollsten Besitztümer für sich behalten wollen. Was hier – unter Ausnutzung eines demokratischen Vakuums – geplant wird, ist also nicht etwa ein Programm des Wiederaufbaus oder gar der Reparationen, sondern ein Raubzug. Ein gigantischer Diebstahl im Gewande der Barmherzigkeit. Oder verfassungstheoretisch formuliert: privatization without representation.

Nachdem die irakischen Menschen – als Folge der jahrelangen Sanktionen – unter Krankheit und Hunger gelitten haben, nachdem ihr Land durch den Krieg kaputt gebombt wurde, werden sie nach dem Ende dieser ganzen traumatischen Epoche entdecken müssen, dass man das Land unter ihren Füßen verkauft hat. Und sie werden auch merken, dass ihre neu erworbene „Freiheit“ in Fesseln daherkommt. In den Fesseln ökonomischer Entscheidungen, die in den Chefetagen getroffen wurden, während noch die Bomben auf ihre Köpfe fielen.

Dann wird man sie auffordern, sie mögen für ihre neuen Führer stimmen. Und ihnen zurufen: Willkommen in der Wunderwelt der Demokratie.

deutsch von Niels Kadritzke

Dieser Text erscheint nur in der deutschsprachigen Ausgabe

* Kanadische Journalistin und Autorin des internationalen Bestsellers „No logo!“, München (Bertelsmann) 2001. Zuletzt erschien „Über Zäune und Mauern. Berichte von der Globalisierungsfront“, Frankfurt (Campus) 2003.

Le Monde diplomatique vom 16.05.2003, von NAOMI KLEIN