16.05.2003

Lokomotive Belgrad

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Lokomotive Belgrad

Von NORBERT MAPPES-NIEDIEK *

ZWEI Monate nach der Ermordung seines Premierministers Zoran Djindjić hat sich Serbien stark zu seinem Vorteil verändert. Die Tat ist allem Anschein nach restlos aufgeklärt; von achtzehn Beteiligten sind sieben in Haft, unter ihnen der Schütze. Die Häupter der ausgedehnten kriminellen Szene sind auf der Flucht. Mit Begeisterung nahm man in den westlichen Botschaften auf, wie die Polizei gleich nach dem Mord unter dem Applaus der Bevölkerung eine große Verhaftungswelle übers Land gehen ließ.

Gestern noch „Schlusslicht“ im Balkan-Express nach Westen, sollte Serbien, in der bildreichen Sprache der Diplomaten, über Nacht zur „Lokomotive“ werden. Die Nachbarschaft sah staunend, manchmal sogar neidisch zu. Die Kroaten, die sich vor kurzem noch als Erbfeind der Serben fühlten, begriffen die Belgrader „Operation Säbel“ zu 62 Prozent als eine Aufforderung an die eigene Regierung, nun ebenso entschlossen gegen das organisierte Verbrechen vorzugehen. Allein dass beide Länder unter ähnlichen Problemen litten, hätte vor einem Jahr noch niemand zu behaupten gewagt. Selbst die Albaner im Kosovo versagten es sich, angesichts des Mordes und der vielen Enthüllungen danach mit dem Finger auf das Sündenbabel Belgrad zu zeigen. Man wusste: Im eigenen Land geht es kein bisschen besser zu.

Die Belgrader Aktion selbst war von den chauvinistischen Komplexen, die hier zehn Jahre lang die Oberhand hatten, völlig frei. In die täglichen Polizeiberichte platzte Ende April in Belgrad die Nachricht, dass auch ein Mann namens Shefket Musliu verhaftet worden war, wenn auch nicht im engeren Serbien, sondern im Kosovo. Der 38-Jährige hatte im Jahr 2000 eine albanische „Befreiungsarmee“ für drei südserbische Gemeinden an der Grenze zum Kosovo auf die Beine gestellt und einen Heroin-Umschlagplatz in der Region gegen die Polizei verteidigt. Zwei Monate zuvor noch hätte Muslius Verhaftung seitenweise Berichte über die „Albaner-Mafia“ nach sich gezogen, die von klandestinen Zentren aus die ganze politische Szene und den halben europäischen Opiat-Markt kontrolliere. Fünfzehn Jahre lang hatte man in Belgrad jedes Problem auf die anderen projiziert: erst auf den ungeliebten Vielvölkerstaat Jugoslawien, dann auf die internationale antiserbische Verschwörung, angeführt von Genscher und dem Papst, dann auf die Albaner, schließlich wurde dann noch einmal alles rückprojiziert auf den Großprojektor Slobodan Milošević. Aber kaum war Djindjić tot, befasste sich die serbische Öffentlichkeit plötzlich mit den Problemen der eigenen Gesellschaft. Serbien war über Nacht von einer Kriegspartei zum Staat gereift.

Verbrecher standen auf einmal wieder gegen Ordnungshüter, nicht Serben gegen Albaner, Muslime oder Kroaten. Was westliche Stiftungen, internationale Missionen und Diplomaten den Völkern Südosteuropas seit Jahren einzutrichtern versuchen: Besinnung auf die Nation im modernen, zivilgesellschaftlichen Sinn, auf den Rechtsstaat, die Bedeutung von Institutionen bei der Konfliktregelung – alles das war in Serbien über Nacht da.

Was in Serbien geschah, war ironischerweise eine Wiedergeburt aus dem Nationalgefühl, derselben Emotion also, die einst Milošević zur Vernebelung der Gehirne eingesetzt hatte. Serbien hat als einzige Republik des früheren Jugoslawien eine eigene Staatstradition. Im 19. Jahrhundert bildeten die Serben, nach den Griechen, den ersten modernen Staat in der Region. An der Stelle armseliger balkanischer Katen entstand mit Belgrad ein „Paris des Ostens“. Serbien hatte Institutionen: einen König, ein Parlament, eine Armee, moderne Gesetze, oft nach französischem Vorbild, eine Verwaltung im Stil der Zeit, einen Nationaldichter und Kompilator von Volksepen, dessen Werke von Goethe ins Deutsche übersetzt wurden, ein Nationaltheater, eine Nationalbibliothek, eine Universität – alles, was nach westlichem Vorbild für eine vollwertige Nation benötigt wurde. In dem Wort für „Königreich“ schwang der Stolz auf die enorme Leistung mit, hier, mitten in der orientalischen Wüstenei des Osmanischen Reiches, mit Bauern und Ziegenhirten einen modernen Staat aufzubauen. Aus einem ethnos war ein demos geworden.

Kann das Belgrader Beispiel Schule machen? Albaner, Mazedonier und Bosnier leiden mit Korruption, organisiertem Verbrechen und bad governance unter den gleichen Gebrechen wie die Serben, ohne allerdings über deren historisches Antidot, Staatstradition und Nationalbewusstsein, zu verfügen. Als Belgrad sich nach dem Djindjić-Mord seiner Rosskur unterzog, hofften die westlichen Diplomaten, dass die Nachbarn Kosovo, Montenegro, Albanien, Mazedonien und Bosnien sich nun ein Beispiel nehmen würden. Serbien, schien es den Diplomaten, war der erste Erfolg für das europäische Konzept des nation building auf dem Balkan. Dabei übersahen sie, dass gerade Serbien viel weniger in den Genuss von Seminaren, Konferenzen, Tagungen, der Aufbau- und Erziehungsprogramme gekommen war als alle seine Nachbarn. Es hatte sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf gezogen. Gegen alle physikalischen Gesetze schien das leichter zu gehen als mit Hilfe eines starken Krans, der auf festem Ufer steht.

Der Widerspruch offenbart ein tiefes historisches Missverständnis. Der „Nationalismus“, den wir gern für das Grundübel der Balkanregion halten, ist ein mehrdeutiges Phänomen. Die westeuropäischen Nationalstaaten sind entstanden, weil die Bürger ihre Angelegenheiten selbst regeln wollten – Republik, Demokratie und freier Markt waren ihre Ziele, die Nation der referenzielle Rahmen, in dem diese Ziele wirklich werden sollten. An solchen nationalen Bewegungen hat es auf dem Balkan in den 1990er-Jahren nicht eine einzige gegeben. Im Gegenteil: Was sich „Nationalismus“ nannte, war immer nur Vorwand dafür, die Probleme der eigenen Gesellschaft eben nicht anzupacken. Es waren auch nicht – wie etwa im 18. und 19. Jahrhundert die Bourgeoisie – neue, zur Macht drängende Gesellschaftsschichten, die jeweils die nationale „Bewegung“ trugen und die Konflikte vom Zaun brachen, sondern auf allen Seiten die alten kommunistischen Eliten. Die „Nationen“ blickten nicht nach innen und versuchten nicht, ihre Probleme zu lösen, eine funktionierende Wirtschaft, einen Staat und moderne Institutionen aufzubauen, sondern sie blickten nach außen und nutzten einander als abschreckendes Beispiel. Wenn die Serben erst vertrieben sind, ist unser Kroatien ein perfekter westlicher Staat, dachten die Kroaten, und alle anderen dachten auch so. Probleme wurden nicht gelöst, sondern auf die andere Nation projiziert. Es war der Mechanismus, der die „ethnischen Säuberungen“ hervorbrachte. Albaner, Bosnier und Mazedonier haben aus ihrer Geschichte keine Vorstellung davon, was ein Staat sein kann. Sie kennen aus türkischer (und die Albaner auch aus kommunistischer) Zeit den Staat nur als eine fremde, ausbeuterische Macht, die sich vor ihnen nicht rechtfertigen muss. Seine Institutionen sind die Machtmittel einer fremden Clique. Wer sich den Staat sichert, darf ihn plündern und alle anderen niederhalten. Der Anspruch auf ein Gewaltmonopol ist nur eine Finte des Stärkeren, um sich internationale Unterstützung zu sichern. Wer den Krieg gewinnt, wird mit einem Staat belohnt.

Die Unterstellung, Staaten seien immer die Hervorbringungen einer Gemeinschaft, der Nation eben, ist empirisch falsch. Albanien etwa verdankte seine Unabhängigkeit 1912/13 den strategischen Interessen der europäischen Großmächte, die einen Sperrriegel gegen serbische und russische Aspirationen auf das Mittelmeer brauchten. Die Botschafter der Mächte fragten nicht danach, ob es in Albanien wirklich einen demos gab, der als Träger des neuen Staates auftreten konnte. Das erschien ihnen selbstverständlich. Weil seine Bewohner dieselbe Sprache sprachen, einige kulturelle Gemeinsamkeiten teilten und sich nicht irgendwelchen anderen Völkern zugehörig fühlten, wurde (und wird) Albanien für „ethnisch“ homogen gehalten und seine Bewohner damit für prädestiniert, einen Nationalstaat zu bilden – das erste fundamentale Missverständnis, das Europa dem damals noch unbekannten Land entgegenbrachte. Die europäischen Nationalismen, auch die in Südosteuropa, verstanden sich als Ausdruck sprachlicher, kultureller oder auch genealogischer (oder „rassischer“) Übereinstimmung. Dass aber die Entstehung von nationalen Bewegungen und Nationalstaaten zugleich einen Grad der Vergesellschaftung markierte und einer im Großen und Ganzen gemeinsamen Entwicklung entsprach, geriet nicht ins Blickfeld. So wie Deutsche, Briten oder Franzosen einander an der Sprache und der Kultur erkannten, so identifizierten sie auch die anderen, sodass sich die Welt oder wenigstens Europa als synchrone Einheit von Nationen darstellte. Universale kulturelle Errungenschaften wie die Staatlichkeit, die arbeitsteilige Produktion und die Mobilität auf einem großen Territorium, die für die Entstehung nationaler Bewegungen in Westeuropa den Ausschlag gegeben hatten, wurden, da sie den Völkern ja gemeinsam waren, unzulässigerweise einfach weggekürzt.

Albanien musste zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum Nationalstaat erklärt werden, um mit den westeuropäischen Staaten kompatibel zu sein. Die neuen balkanischen Nationalstaaten sind aus demselben Motiv entstanden. Die Europäische Union ist noch immer ein Klub von Nationalstaaten. Wenn die Spaltprodukte Jugoslawiens eines Tages aufgenommen werden sollen, sind sie gehalten, sich zunächst ebenfalls zu funktionierenden Nationalstaaten zu entwickeln. Damit werden sie auf einen historischen Umweg geschickt – sie sollen selbstständig werden, nur um ihre Selbstständigkeit bald wieder aufzugeben. Aber wie sollte sich in dieser Region, und das unter besonders schweren Bedingungen, etwas herausbilden, was im Rest Europas gerade überwunden wird? Der Umweg führt nicht einmal mit historischer Verspätung zum Ziel, sondern geradewegs in eine Falle. Scheitern die aussichtslosen Projekte, so wird dieses Scheitern nach den Regeln der Osterweiterung demnächst als „mangelnde EU-Reife“ hergenommen werden – und das Tempo auf dem Weg in die Sackgasse wird noch verschärft. In Wirklichkeit passt der Balkan schlecht zur EU, wie sie ist. Er passt allerdings weit besser zu einer EU, wie sie sein sollte: als ein Raum mit offenen Grenzen, vielen Sprachen und Kulturen, einigen klaren Regeln, größtmöglicher Selbstverwaltung auf lokaler Ebene, mit Reise- und Niederlassungsfreiheit für alle.

Dieser Text erscheint nur in der deutschsprachigen Ausgabe

* Südostexperte, lebt als Journalist in Graz. Zuletzt erschien „Balkan-Mafia. Staaten in der Hand des Verbrechens“, Berlin (Christoph Links) 2003.

Le Monde diplomatique vom 16.05.2003, von NORBERT MAPPES-NIEDIEK