„Das ist noch Utopie“
Im Jahr 1971 reiste der Philosoph Herbert Marcuse erstmals nach Israel. In der „Jerusalem Post“ beschrieb er seine politische Einschätzung des Konflikts.
Von HERBERT MARCUSE *
VIELE meiner hiesigen Freunde, besonders unter den Studenten, haben mich gefragt, wie ich die Situation einschätze. Ich antworte ihnen mit dieser Erklärung. Es ist eine persönliche Meinungsäußerung, die auf Gesprächen mit vielen Menschen – Juden und Arabern – in verschiedenen Teilen dieses Landes und auf gründlicher Lektüre von Dokumenten und Sekundärliteratur beruht. Ich bin mir ihrer Grenzen vollauf bewusst; ich stelle sie nur zur Diskussion.
Ich glaube, dass der historische Zweck der Gründung des Staates Israel darin bestand, eine Wiederholung von Konzentrationslagern, Pogromen und anderen Formen der Verfolgung und Diskriminierung zu verhindern. Diesen Zweck, der für mich Teil des weltweiten Kampfes für Freiheit und Gleichheit aller verfolgten rassischen und nationalen Minderheiten ist, unterstütze ich voll.
Unter den gegenwärtigen internationalen Bedingungen setzt die Verfolgung dieses Zwecks die Existenz eines souveränen Staates voraus, der verfolgte oder von Verfolgung bedrohte Juden aufnehmen und schützen kann. Hätte ein solcher Staat existiert, als das Naziregime an die Macht kam, dann hätte er die Vernichtung von Millionen Juden verhindern können. Hätte ein solcher Staat anderen verfolgten Minderheiten offen gestanden, auch den Opfern politischer Verfolgung, dann hätte er noch mehr Menschenleben gerettet.
In Anbetracht dieser Tatsachen kann jede weitere Diskussion nur auf der Grundlage geführt werden, dass Israel als souveräner Staat anerkannt wird und dass zugleich die Bedingungen berücksichtigt werden, unter denen er gegründet wurde, nämlich das Unrecht, das dabei der arabischen Bevölkerung widerfahren ist.
Die Gründung Israels war ein politischer Akt, ermöglicht von den Großmächten in Verfolgung ihrer eigenen Interessen. Die der Staatsgründung vorhergegangene Periode der Besiedlung und die Staatsgründung selbst erfolgten ohne Rücksicht auf die Rechte und Interessen der einheimischen Bevölkerung.
Die Gründung des jüdischen Staates ging von Anfang an mit der Vertreibung des palästinensischen Volkes einher, die teilweise mit Gewalt und ökonomischem oder anderweitigem Druck betrieben wurde, teilweise „freiwillig“ erfolgte. Der in Israel verbliebene Teil der arabischen Bevölkerung sah sich trotz der ihm gewährten Bürgerrechte wirtschaftlich und gesellschaftlich auf den Status von Bürgern zweiter Klasse reduziert. Aus nationalen, rassischen und religiösen Unterschieden wurden Klassenunterschiede: so grub sich der alte Widerspruch in die neue Gesellschaft ein und wurde noch verschärft durch die Verschmelzung innerer und äußerer Konflikte.
In all diesen Aspekten unterscheidet sich die Gründung des jüdischen Staates nicht wesentlich von den Ursprüngen praktisch aller Staaten in der Geschichte: der Gründung durch Eroberung, Besetzung und Diskriminierung. (Die Zustimmung der Vereinten Nationen ändert an dieser Situation nichts: durch sie wurde de facto eine Eroberung anerkannt.)
Wenn man diese nun etablierte Tatsache und das grundlegende historische Ziel akzeptiert, das sich der Staat Israel gesetzt hat, dann stellt sich die Frage: – ob der Staat Israel in seiner jetzigen Form und bei seiner jetzigen Politik sein selbst gestecktes Ziel zu erreichen vermag und gleichzeitig in der Lage sein kann, als eine fortschrittliche Gesellschaft auf normale Weise friedlich mit seinen Nachbarn zusammenzuleben.
Ich werde diese Frage in Bezug auf Israels Grenzen von 1948 erörtern. Jede Annexion in gleich welcher Form legt meiner Meinung nach schon eine negative Antwort nahe. Sie würde bedeuten, dass sich Israel nur als militärische Festung in einer riesigen feindlichen Umwelt behaupten könnte und dass seine materielle und geistige Kultur auf wachsende militärische Erfordernisse eingestellt werden müsste. Der überaus gefährliche, unsichere und vorläufige Charakter dieser Lösung ist offensichtlich. Eine Supermacht (oder ihr Satellitenstaat) kann unter solchen Bedingungen durchaus lange bestehen, aber die Kleinheit des Landes und die Rüstungspolitik der Supermächte schließen diese Möglichkeit für Israel aus.
Unter den heutigen Umständen wäre die erste Vorbedingung für eine Lösung ein Friedensvertrag mit Ägypten, der die Anerkennung des Staates Israel, den freien Zugang zum Suezkanal und zu den Meerengen sowie die Regelung des Flüchtlingsproblems umfasst. […] Die stärkere Macht kann sich die größeren Zugeständnisse leisten – und Israel ist immer noch die stärkere Macht.
Der Status von Jerusalem könnte sich als das größte Hindernis für einen Friedensvertrag erweisen. Tief sitzende religiöse Gefühle, von den Führern immer wieder angeheizt, machen Jerusalem als Hauptstadt eines jüdischen Staates für die Araber (und für die Christen?) unannehmbar. Eine vereinigte Stadt (beide Teile) unter internationaler Aufsicht und Verwaltung könnte eine Alternative sein.
[Ägypten] verlangt darüber hinaus eine „befriedigende Regelung des Flüchtlingsproblems im Einklang mit den UN-Resolutionen“. Der Wortlaut dieser Resolutionen […] lässt Raum für Interpretationen und ist insofern selbst Gegenstand von Verhandlungen. Ich will nur zwei Möglichkeiten (oder deren Kombination) skizzieren, die in Gesprächen mit jüdischen und arabischen Persönlichkeiten vorgeschlagen wurden:
1. Wiederansiedlung der vertriebenen Palästinenser, die nach Israel zurückkehren wollen. Diese Möglichkeit wird von vornherein in dem Maße eingeschränkt, wie arabisches Land zu jüdischem Land und arabischer Besitz zu jüdischem Besitz geworden ist. Auch das ist ein historisches Faktum, das man nicht einfach dadurch ungeschehen macht, dass ein Unrecht durch neues Unrecht korrigiert wird. Es ließe sich aber abmildern, indem man diese Palästinenser auf noch verfügbarem Land ansiedelt und/oder ihnen angemessene Vergünstigungen und Entschädigungen gewährt.
Diese Lösung wird offiziell mit dem (an sich richtigen) Argument abgelehnt, dass eine solche Lösung die jüdische Mehrheit schnell zur Minderheit machen würde und damit den Zweck des jüdischen Staates zunichte macht. Ich glaube allerdings, dass sich gerade diejenige Politik selbst zunichte macht, die auf eine dauerhafte Mehrheit abzielt. Die jüdische Bevölkerung muss eine Minderheit in der riesigen Welt der arabischen Nationen bleiben. Sie kann sich nicht definitiv davon absondern, ohne zu einer Ghettoexistenz auf höherem Niveau zurückzukehren. Gewiss, Israel könnte eine jüdische Mehrheit aufrechterhalten, indem es eine aggressive Einwanderungspolitik betreibt, die wiederum beständig den arabischen Nationalismus stärkt. Als fortschrittlicher Staat kann es nicht existieren, wenn es in seinen Nachbarn weiter „den Feind“ sieht, den „Erbfeind“. Und dauerhafte Sicherheit für das jüdische Volk liegt nicht in einer sich abschließenden, isolierten und von Angst getriebenen Mehrheit, sondern im Zusammenleben von Juden und Arabern als Bürgern mit gleichen Rechten und Freiheiten. Ein solches Zusammenleben kann nur das Ergebnis eines langen Prozesses von Versuchen und Irrtümern sein. Aber die Voraussetzungen für die ersten Schritte sind jetzt gegeben.
Es gibt ein palästinensisches Volk, das seit Jahrhunderten auf dem Territorium gelebt hat, das heute zum Teil von Israel besetzt wird. Und die Mehrheit dieses Volkes lebt heute unter israelischer Verwaltung. Diese Bedingungen machen Israel zu einer Besatzungsmacht (sogar in Israel selbst) und die palästinensische Befreiungsbewegung zu einer nationalen Befreiungsbewegung – mag die Besatzungsmacht auch noch so liberal sein.
2. Die nationalen Bestrebungen des palästinensischen Volkes könnten durch die Gründung eines Palästinenserstaates neben Israel befriedigt werden. Ob dieser Staat unabhängig sein soll oder ob er eine Föderation mit Israel oder mit Jordanien eingeht, bliebe der Selbstbestimmung des palästinensischen Volkes in einem Referendum unter Aufsicht der Vereinten Nationen überlassen.
Die beste Lösung wäre das Zusammenleben von Israelis und Palästinensern, Juden und Arabern als gleichberechtigten Bürgern eines sozialistischen nahöstlichen Staatenbundes. Das ist noch Utopie. Die oben erörterten Möglichkeiten sind Zwischenlösungen, die sich hier und jetzt anbieten – ihre strikte Ablehnung könnte nicht wieder gutzumachenden Schaden anrichten.
Fußnote: Erstmals erschienen in der „Jerusalem Post“ am 2. Januar 1972. Jetzt auch in: Peter-Erwin Jansen (Hrsg.), „Herbert Marcuse, Nachgelassene Schriften 4, Die Studentenbewegung und ihre Folgen“. Zu Klampen Verlag, Springe 2004, 200 Seiten, 24 Euro