08.04.2004

Mein Europa

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Mein Europa

Der längste Fluss Europas hat viele Namen: Donau, Dunaj, Duna, Dunav, Dunarea. Aber natürlich ist die Geografie nicht so wichtig wie das Vorstellungsvermögen der bald 371 Millionen EU-Bürger.

Von ANDRZEJ STASIUK *

ACH Europa, manchmal wache ich nachts auf und höre den slowakischen Sender Východ oder Radio Rebeka. Ich kann nicht schlafen und bin neugierig, was es bei dir gibt. Lou Reed, Dylan, Abba, Willy Nelson und die Steve Miller Band. Es läßt sich aushalten. Vor allem, wenn sie sagen, daß es bei ihnen auch stürmt und schneit. Die Gemeinschaft der Schicksale und Kulturen. Schade, daß ich nicht die Ukraine, Ungarn oder Rumänien empfangen kann. Ich stelle mir nur die große nächtliche Ebene vor, über der die Feuerwerke von Lemberg und Bukarest leuchten, sie leuchten wie Johannisnachtkränze auf einer großen dunklen Wasserfläche, sie brennen, bis das Morgengrauen sie löscht. Weißt du, einmal bin ich mit dem Flugzeug von Budapest abgeflogen, es herrschte schönes Wetter, und alles lag zum Greifen nah unter mir, doch man konnte nicht erkennen, wo das eine begann und das andere endete. Wenn man hingegen nach Deutschland fliegt, sieht man das auf einen Blick. Sicher wirst du dir am Ende etwas einfallen lassen, um das zu ändern, aber ich bin nicht sicher, ob das gut ist. Jedenfalls sagt man, daß du älter wirst. Die Leute reden alles Mögliche daher. Vor fünfundzwanzig Jahren habe ich deine Bilder im Schulatlas betrachtet. Du hast mir gut gefallen, doch ich konnte nicht recht glauben, daß auf all diesen seltsamen Inseln und Halbinseln Menschen leben, die so sind wie ich. Jetzt glaube ich es immer noch nicht ganz, doch mit fortschreitendem Alter wird der Mensch skeptisch und braucht den Glauben nicht mehr so nötig zum Leben. Ich habe deine Bilder betrachtet und mir vorgestellt, ich würde winzig und unsichtbar über deinen mächtigen Leib krabbeln. Eine ungeheuer erotische Vorstellung. Jetzt erkenne ich es. Das hat sich jemand fein ausgedacht, daß die Kontinente weiblich sind. Europa, wärst du ein Mann, ich könnte nicht so zärtlich an dich denken. Ich würde nachts aufwachen und nur grenzenlose Schläfrigkeit empfinden. Zum Glück ist es anders. Du liegst zwischen dem Blau der Meere auf dem Rücken, dein linker Arm ist Großbritannien und die Hand Irland, der rechte Arm ist Italien, dein schönes Haupt die Iberische Halbinsel, und das Herz schlägt irgendwo zwischen Dijon und Paris … […]

Als ich vor kurzem Wäsche wusch, kam mir plötzlich die Erkenntnis, daß ich Mitteleuropäer bin. Vielleicht hieß das Waschmittel im bunten Karton OMO, Ariel oder sonstwie. Eine ferne, halb mythische Zivilisation - vielleicht Procter and Gamble, vielleicht Henkel oder auch Lever - sprach zu mir in meiner eigenen Sprache. Mehr noch, sie sprach auch zu anderen Mitteleuropäern in ihren Sprachen: Prací prostriedok pre farebnú bielizen. Fékezett habzású mosópor szines ruhákra. Detergent pentru rufe colorate. Proszek do prania tkanin kolorowych … Ich steckte die Sachen in die Waschmaschine, maß die genaue Dosis Ariel oder auch OMO ab und spürte, daß meine Existenz grundsätzlich und unwiderruflich anerkannt wurde. Ich sah mir andere Verpakkungen im Badezimmer an. Zahnpasten, Deodorants, Scheuerpulver und -milch: von allen Seiten wurde mir meine mitteleuropäische Auferstehung verkündet. Das war wie die Anerkennung der Unabhängigkeit oder die Aufnahme diplomatischer Beziehungen. Skladujte mimo dosah deti. Außerhalb der Reichweite von Kindern aufbewahren. Ja, Europa, dein Herz schlägt irgendwo zwischen Dijon und Paris, und dein schönes Haupt ist die Iberische Halbinsel auf dem blauen Kissen des Wassers. Dein unersättlicher Bauch ist Deutschland. Und ich? Das heißt wir? Sind wir etwa deine Lenden? Vor etwas mehr als zwanzig Jahren hatte ich dieses Wort noch nicht einmal gekannt und mich wie ein Fisch im Wasser, wie Gulliver beim Besuch der Königin von Brobdingnag gefühlt, wenn ich stundenlang über deinem Bild wie über etwas Verbotenem brütete. Der rechte Schenkel ist die Ukraine und der linke Skandinavien. Lange herbstliche Nachmittage, die ich über dem Schulatlas auf der Suche nach deinen Schlagadern verbrachte: Donau, Seine, Rhein und Dnjepr. Ich spürte ihren Puls unter der grün-goldenen Haut der Ebenen und Hochflächen. Heute bin ich längst erwachsen und streue Pulver in die Waschmaschine. Ich stelle das Programm ein und beginne zu lesen: Danilo Kiš, Bohumil Hrabal, Joseph Roth, Dubravka Ugrešić, Fuhrleute von Péter Esterházy, Jakub Deml, Miodrag Bulatović, Ioan Groșan und Bildungsroman von Krzysztof Varga. Ich lese das alles, weil es Nacht ist, es draußen nichts zu sehen gibt und keine Reise bevorsteht. Ich lese eine Seite, eineinhalb, lege das Buch zur Seite und nehme das nächste, weil die Literatur die Geschichte und auch die Geographie nachahmt, und in diesem Fall muß sie sich aus Fragmenten, aus Bruchstükken, aus Blicken aus dem Auto zusammensetzen, weil es bei uns unmöglich ist, eine lange, sinnvolle Erzählung zu komponieren, die nicht langweiliger und weniger glaubwürdig wäre als das Leben und die Welt. Ähnlich schwierig und für andere vielleicht sogar unmöglich ist es, in unseren Sprachen mehr zu sagen, als in der Gebrauchsanweisung auf einer Packung Waschpulver steht. Ja Europa, ich habe das Programm „Hauptwäsche“ eingestellt, Temperatur 60 Grad, und jetzt kann ich die nächsten zwei Stunden über dich nachdenken. Draußen herrscht Frost, und der Mond hängt im Süden, irgendwo über Hidasnémeti. Dein Leib setzt sich aus Namen zusammen, und die Liebe besteht darin, daß die Worte mehr bezeichnen, als sie in Wahrheit bedeuten.

* * *

In Berlin fragte ich einmal einen bekannten Deutschen, wo Europa eigentlich endet. Für gewöhnlich stelle ich keine provokant wirkenden Fragen, aber A. war erwachsen, vernünftig und besaß eine ordentliche Portion vertrauenerweckender skeptischer Selbstironie. Außerdem tranken wir Jim Beam, und das Mittagessen war vorbei. Ich stellte die Frage aus reiner Neugier. Mich interessierte die Bedeutung der Gefühle, die mich stets begleiten, wenn ich über die hohe, düstere Brücke in Frankfurt an der Oder fahre. A. nahm einen Schluck, wurde ernst und formulierte dann eine Definition von einem geistigen Raum, der so weit reicht wie die Werte der liberalen Demokratie und Toleranz und die „postaufklärerischen“ Werte. Natürlich stimmte ich dieser Antwort zu, weil sie mich restlos zufriedenstellte: sie präzisierte nichts, schränkte nichts ein und störte auch nicht die Atmosphäre unserer Siesta nach dem Essen. Doch einen Moment später sagte mein Bekannter, der offenbar seine Theorie mit einem bildlichen Beispiel untermauern wollte: Zwischen ’33 und ’45 gehörte Deutschland nicht zu Europa.

Ich war mit meinem Jim Beam beschäftigt und dachte, daß es das wohl gar nicht mußte, weil Europa gleichsam in Deutschland aufgegangen war. Dann trat ich auf den Balkon hinaus, um eine Zigarette zu rauchen, meine Ironie verflüchtigte sich, und ich sah rauchend auf die nachmittägliche Güntzelstraße hinunter – nichts deutete darauf hin, daß sie je irgendwohin umgesiedelt worden wäre. Was A. mir gesagt hatte, erschütterte meine bisherige Vorstellung von Raum und Gemeinschaft doch irgendwie. Es zeigte sich, daß man einen Ort verlassen kann, während man gleichzeitig dort bleibt, und zwar ganz augenfällig. Ich rauchte und fragte mich: Wo war A.’s Heimat zwischen ’33 und ’45, wenn nicht hier, denn irgendwo mußte sie ja gewesen sein? Wahrscheinlich gab es sie damals gar nicht. Hier bestätigte sich meine alte Intuition, daß es nichts Schlimmeres gibt als die totale Nichtexistenz. Die Abwesenheit eines Staates oder einer Nation wird für die Gemeinschaft, die der Nation oder dem Staat angehört, zum reinen Horror. Ja, der alte Kontinent war wie eine Tramway, aus der man aussteigen kann, um etwas zu erledigen, und dann springt man an einer anderen Haltestelle wieder auf. Der alte Kontinent war auch wie eine kirchliche Gemeinschaft, aus der man sich auf eigenen Wunsch exkommunizieren kann, um dann wieder in ihren Schoß aufgenommen zu werden. Ach diese herrliche dynamische Souveränität und Subjektivität der Menschen im Westen. Mit derselben Leichtigkeit, mit der sie früher Gebiete durchmaßen, durchmessen sie jetzt Ideen.

Wenn man im Raum fest verwurzelt ist, fallen einem solche Experimente mit der Zeit möglicherweise leichter. Die Geschichte des Denkens begann schließlich erst richtig, als die Nomaden beschlossen, seßhaft zu werden und die Grundrisse künftiger Städte in den Sand oder die Steppe zeichneten. Eine ständige Behausung erwies sich als Voraussetzung einer unbeständigen, dynamischen Reflexion, und das Bewußtsein von der Zeit, ihren Kapricen und fließenden Eigenschaften war eine der ersten Entdeckungen. „Zwischen ’33 und ’45 gab es uns nicht.“ Aber es gab uns ja doch zwischen Seine und Wolga. Ich will nicht versuchen, diese Widersprüche aufzulösen, weil ich mich nicht verrückt machen will. Paradoxa sollte man als Glaubensgeheimnisse akzeptieren. Sie wecken Unruhe im Denken und erzeugen ein aufregendes Gefühl von Mehrdeutigkeit, das die Emotionen auf der Brücke in Frankfurt an der Oder bloß als momentane Stimmungsschwankung erscheinen läßt.

Durch die Güntzelstraße fuhr ein gelber Autobus Nummer 115. Der Jim Beam prickelte angenehm in meinem Organismus. Ich fühlte mich wohl und gleichzeitig völlig gleichgültig. Morgen sollte ich diese Stadt verlassen, und ich wußte, daß ich weder Bedauern noch Sehnsucht verspüren würde. Vielleicht, weil Berlin, ähnlich wie Warschau, zu virtuell und unwirklich war. In Wahrheit ist es ja ’45 verschwunden, was die These von seiner Abwesenheit aus Mitteleuropa, freilich etwas später, bestätigen würde. Es ist verschwunden, und seine gegenwärtige Gestalt ist eine Illusion. „Ich hatte den Eindruck, die Welt habe keinen Zugang zu mir. Ich liebte die Berliner Mauer. […] Das war ein seltsamer, verrückter Ort. Er gehörte weder zu Westdeutschland noch zu Ostdeutschland.“ (Iggy Pop). Demnach mußten hier die Regeln von Träumen oder Fiebervisionen gelten. An manchen Stellen erinnerte die Stadt an die Träume von Emigranten aus den achtziger Jahren, an anderen an die Orte, aus denen all die Polen, Ungarn oder Jugoslawen geflohen waren, weil ihnen die Düsternis ihrer eigenen Länder wie ein unverdienter Fluch erschien. Sie kamen in ein Land der abertausend Spiegel, fanden sich zwischen riesigen Glasflächen wieder, in unendlichen Fluchten geschmolzenen Siliziums, polierten Stahls und Aluminiums, und konnten endlos ihr vervielfältigtes Spiegelbild betrachten. Dasselbe in Wien, dasselbe in Salzburg und in München, in Düsseldorf und in Frankfurt am Main. Als wäre ihr Europa umgeben von einem Kordon aus Spiegeln. Aus Glas erbaute Städte haben etwas zutiefst Unmenschliches. Sie erheben unsere Existenz zum Quadrat oder Kubik, um sie schließlich für ungültig zu erklären. Das mußte auf jene doppelt wirken, denen ihre eigene Existenz unvollständig und ungenügend erschien. […]

Ja, aber morgen sollte ich wegfahren, ohne Bedauern und Aussicht auf Heimweh. In der Wohnung hörte ich das Murmeln von Gesprächen, doch mit meinen Gedanken war ich schon am ehemaligen Ostbahnhof: früher Morgen zwischen den rötlichen Geflechten der Gleiskörper, über Friedrichshain geht die Sonne auf, ihr Schein kriecht langsam über den Bahnhof und erreicht die polierten Klippen von Daimler City, und ich bin wieder einmal mit dem Leben davongekommen, meine Seele hat keinen Schaden erlitten, sie hat nichts gewonnen und nichts verloren, weil sie unempfänglich ist für das Virtuelle, für Staaten und Städte, die im Rhythmus der Wünsche ihrer Bewohner auftauchen und wieder vergehen. Wenn das Wetter mitspielt, werde ich in sechs, sieben Stunden aus der Ferne die Hochhäuser von Warschau sehen, und das wird dann auch wieder nur eine etwas solider gefertigte Fata Morgana sein, deren Spiegelbild mir von Berlin durch die Luft folgte. Denn auch Warschau ist unwirklich und existiert kaum. Es war ein makabrer Einfall, diese bis zu den Grundmauern zerstörte Stadt wiederaufzubauen. Eine romantische Geste von der Art jener, die sich wegen der Größe des Vorhabens stets in ihre eigene Parodie verwandeln. Wenn man den Schöpfer oder geringere Kräfte nachahmt, die unabhängig vom menschlichen Willen wirken, mündet das immer in eine Niederlage oder Groteske. Wir sollten den Platz, der von der Stadt übrig geblieben ist, in Ruhe lassen. Höchstens ein wenig aufräumen und etwas Geschmackvolles danebenstellen. In den Ebenen findet sich dafür immer genug Platz. Die „Heldenstadt Warschau“ ist wie ein Zombie, denn die echten Helden, die ihr Leben ließen, sollten für immer tot sein und nur in der Erinnerung fortleben. Dort ist ihr Platz. Wenn man sie vom Tode erweckt, erinnern sie an Frankenstein. Was war das bloß für eine Idee, die Hauptstadt über den Leichen aufzubauen, und aus dem ganzen Land Waggonladungen von Ziegeln heranzuschaffen, die man aus anderen Städtewracks gebuddelt hatte, und schließlich Massen von Dorfbewohnern zu diesem makabren Auferstehungsfest zu locken, um den Leichnam der Stadt in Besitz zu nehmen und der historischen Gerechtigkeit Genüge zu tun.

Ja, vielleicht wird mein künftiger EuroCity von nirgendwo nach nirgendwo fahren.

* Polnischer Schriftsteller, 1960 in Warschau geboren, gilt als wichtigster jüngerer Gegenwartsautor Polens. Der Text ist dem Band „Mein Europa“ von Juri Andruchowytsch und Andrzej Stasiuk entnommen, der in der Übersetzung von Martin Pollack und Sofia Onufriv im Mai 2004 bei Suhrkamp in Frankfurt am Main erscheint. Zuletzt erschien von Andrzej Stasiuk „Das Flugzeug aus Karton. Essays, Skizzen, kleine Prosa“, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 2004.

Le Monde diplomatique vom 08.04.2004, von ANDRZEJ STASIUK