Die ersten Europäer von Tiflis
Georgien ging es einst viel besser als den übrigen Sowjetrepubliken: Es gab subtropische Früchte, Gemüse, Wein und Brandy, die auf den Märkten der gesamten Sowjetunion verkauft wurden. Sollte es mit dieser Union je zu Ende gehen – eine vage Fantasie, die schließlich Wirklichkeit wurde –, stand eines fest: Selbst wenn alle andern hungern sollten, Georgien würde gut dastehen. Die Gewissheit schien unumstößlich – und war falsch. Der neue Präsident der Kaukasusrepublik, Michail Saakaschwili, setzt auf Georgiens Weg nach Europa – helfen soll ihm dabei der archäologische Fund des „ersten Europäers“.
Von NEAL ASCHERSON *
DER Tisch ist voll, die Wand bemalt, der Raum voller Stimmen!“, sagte Zurab. Wir saßen in einem mexikanisch-japanischen Restaurant in Tiflis, am Ende einer langen Nacht. Auf dem Tisch türmten sich Flaschen und Teller; die Tischgenossen waren noch protziger als das Dekor; das Geplärre der Kapelle übertönte die Stimme des reichsten Bierbrauers von Georgien, der seinen Leibwächter anbrüllte. „Ich spreche von Georgien“, rief Zurab. Wie, keinen Wein mehr? Eine schmale junge Frau kam, von Männern in schwarzen Lederjacken eskortiert, auf Zurab zu und gab ihm einen Kuss. „Weißt du, wer das war? Schewardnazes Enkelin. Sie arbeitet beim Fernsehen, für die Nachrichten. Und weißt du, wer diese wunderbare Nahaufnahme arrangiert hat – der Ausdruck auf Schewis Gesicht, als Mischa Saakaschwili an der Spitze der Menschenmenge ins Parlament einzog –, der fassungslose Blick, die Angst im Gesicht, das Zusammensacken? Sie hat das gemacht. Mit ihrem eigenen Großvater.“
Wenn Georgier eines hassen, so ist es die Leere, ob als Dunkelheit, Hunger, Einsamkeit oder Stille. Was ist das Leben wert, wenn nicht genug auf dem Tisch steht, um Fremde einzuladen, oder wenn die Wand ganz weiß ist, ohne diese verrückten politischen Plakate und Graffiti; oder wenn die Frauen nicht ihre leeren Teller wegschieben und zu singen anfangen oder wenn die Welt aufhört, über Georgien zu reden?
Die Zeit jetzt ist alles andere als leer. Schon weil in Tiflis die Lichter brennen und die Heizung funktioniert. Als ich das letzte Mal hier war, vor sieben Jahren, lasen die Leute bei Kerzenlicht und hockten den Winter über im Bett, mit Schal um den Kopf. Dies ist der erste Winter, in dem es die meiste Zeit Gas und Strom gibt. Zugegeben, ein paar Tage nach Amtsantritt des neuen Präsidenten Saakaschwili fiel im ganzen Land der Strom aus. Zugegeben, beim Anflug auf Tiflis schwebte das Flugzeug noch über Dörfer ein, die bis auf ein paar trübe Ölfunzeln stockdunkel waren. Und zugegeben, dass die Stromversorgung vor allem deshalb funktioniert, weil jetzt russische Unternehmen dafür zuständig sind, die im Zuge der Privatisierung die georgischen Firmen aufgekauft haben.
Den Georgiern ist klar, dass die große Hand, die den Strom einschaltet, ihn auch ausschalten kann. Saakaschwili lieben sie unter anderem dafür, dass er laut und unbekümmert sagt, was alle denken. So wie vor kurzem in einem Interview mit Le Monde: „Niemand außer den Russen wollte diese Firmen haben. Ich bin nicht aus Prinzip gegen russische Investitionen. Aber es ist einfach so, dass sie diese Sprüche über die Rückkehr des russischen Imperialismus nicht lassen können. Und die gehen uns einfach gegen den Strich.“
Michail Saakaschwili ist 36 Jahre alt, ein dunkler, etwas aufgedunsener Typ, der wild und oft ungeschützt drauflos redet. Und vollmundige Versprechen macht: Er werde mit der gigantischen Korruption aufräumen, er werde die chaotischen Staatsfinanzen in Ordnung bringen, er werde die Nation auf den Weg in die Europäische Union bringen, er werde die russischen Militärstützpunkte abschaffen, er werde das Problem der seit zehn Jahre andauernden Sezession der Abchasen angehen (wer weiß, wie). Bei den Präsidentschaftswahlen vom 4. Januar bekam er 97 Prozent der Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von 83 Prozent. Alle wollen seinen Optimismus teilen, wollen an ihre eigenen, hochfliegenden Erwartungen glauben. Liebevoll sprechen sie von „unserem Baby-Präsidenten“ und seiner schönen holländischen Frau Sandra, die sogar Georgisch lernt.
Die „Rosenrevolution“ vom 22. November 2003 war eine Mischung aus Spontaneität und sorgfältiger Vorbereitung. Die Georgier regen sich immer noch über einen Guardian-Artikel auf, der den Aufstand als einen vom Westen organisierten Putsch beschrieb, „ein gut geplantes Drama mit Saakaschwili als von den Amerikanern ausgewähltem Hauptdarsteller“, bei dem die Georgier lediglich als Statisten oder Gäste einer gigantischen Straßenfete mitwirkten. Also eine Art „Regimewechsel light“ nach Patentrezept für die Etablierung prowestlicher Regierungen, von George Soros finanziert und in Belgrad durchgetestet? Diese Vorstellung ist eine Travestie. Die meisten Revolutionen sind genau eine solche Mixtur aus gewieften Aktivisten und Menschenmassen, die dann auf den Straßen mitmachen. Natürlich haben Saakaschwili und seine Berater den Sturm auf das serbische Parlament genau studiert, und natürlich konnten sie vor und nach ihrer Aktion auf die diplomatische Unterstützung des Westens zählen. Aber das war bei den Revolutionen von 1848 – und in einigen Fällen auch 1989 – nicht sehr anders. Erst eine Hand voll Revolutionäre in den Stadtzentren, dann die zaudernden Massen. Es war, glaube ich, ein georgischer Bauer, der bei einer Meinungsumfrage meinte: „Natürlich unterstütze ich die Opposition – aber erst wenn sie an der Macht ist.“
Die Novemberrebellen haben tatsächlich einiges riskiert. Politischer Wandel ohne Gewalt ist in Georgien die Ausnahme. Dies war die erste unblutige Revolution in Tiflis – einer Stadt, die im Lauf ihrer Geschichte vierzigmal niedergebrannt wurde. Die Demonstrationen im April 1989 endeten damit, dass 23 Menschen, überwiegend Frauen, auf der Treppe des Parlaments von sowjetischen Spezialeinheiten mit scharf geschliffenen Spaten abgeschlachtet wurden (mit dem gleichen schrecklichen Werkzeug sind die Revolten in den Gulag-Lagern niedergeschlagen worden). Auf die Unabhängigkeitserklärung von 1991 folgten ein Putsch und zwei Wochen lang schwere Kämpfe. Als Saakaschwili mit seinen Anhängern im November 2003 das Parlament stürmte, trug er unter seinem Mantel eine kugelsichere Weste, aber in den Händen hielt er eine rote Rose und keine AK-47.
Schewardnase, ein müder, zynischer, immer noch kluger Mann, hätte seine Leibwache anweisen können, ihn zu stoppen, aber er entschied sich dagegen. Saakaschwili hat jedoch noch andere Feinde. Jetzt ist er hinter den großen Dieben her, von denen viele ihre bewaffneten Banden und ganze Clans im Landesinneren mobilisieren können. Diese Leute haben sich daran gewöhnt, dass sie nach Belieben über die Staatseinnahmen verfügen können. Das Belgrader Modell hat seine dunkle Seite, und niemand in Georgien vergisst das Schicksal des serbischen Ministerpräsidenten Zoran Djindjic, der am helllichten Tage von Scharfschützen ermordet wurde, im Auftrag einer Koalition aus organisiertem Verbrechen und Geheimpolizei. Auch Schewardnadse hatte mehrere Mordanschläge, darunter eine Autobombe im Hof des Parlaments, nur knapp überlebt. Die Verehrer Saakaschwilis beten, dass seine Bodyguards ihr Handwerk gelernt haben – und dass man sie gründlich durchgecheckt hat.
Sie beten auch für Irakli Okruaschwili. Der neue, 30 Jahre alte Generalstaatsanwalt hat sich mächtig ins Zeug gelegt und mit einigen spektakulären Festnahmen der ganzen Nation Mut gemacht. Der Chef der Staatsbahnen, Akaki Chkaidse, wurde von einem Hubschrauber aufgegriffen, als er versuchte, in der halbautonomen Region Adschara unterzutauchen, angeblich mit 6 Millionen Dollar in der Tasche. Der Boss des Sportverbandes wurde auf dem Flughafen abgefangen und muss jetzt Fragen über den Verbleib von Ablösesummen für Fußballer und über seine ausländischen Bankkonten beantworten. Ein Direktor der Postbank wurde verhaftet, weil er 250 000 Dollar unterschlagen haben soll, und zwar aus einem Fonds für Flüchtlinge, die nach dem Sezessionskrieg von 1993 aus Abchasien vertrieben worden waren. Der frühere Energieminister David Mirtskulawa erlitt einen leichten Herzinfarkt, als man ihn beschuldigte, 6 Millionen Dollar, die für die Bezahlung der georgischen Stromimporte vorgesehen waren, in die eigene Tasche gesteckt zu haben.
Georgien ist ein armes, bergiges Land, flächenmäßig etwa so groß wie Schottland und mit ähnlich vielen Einwohnern. Ein georgischer Universitätsprofessor bekommt 15 Dollar pro Monat, vorausgesetzt der Gehaltsscheck trifft ein. Lehrer müssen so lange auf ihre jämmerlichen Gehälter warten, dass sie nur mit Privatstunden überleben können. Pensionen wurden seit Anfang 2003 nicht mehr ausgezahlt. Im Bezirk Gori haben die Ärzte seit letztem Juni kein Gehalt mehr gesehen. Dasselbe gilt in vielen Gebieten auch für die Abchasien-Flüchtlinge, die maximal 5 Dollar im Monat Unterstützung bekommen.
So etwas wie Festnahmen oder die Konfiszierung unterschlagener Gelder hätte es früher nie gegeben. Doch im Prinzip ist das neue Regime erstaunlich vorsichtig. In den Wochen nach dem Fall Schewardnadses wollten die Menschen in ganz Georgien in ihren eigenen Städten und Dörfern den Putsch von Tiflis nachmachen, also die alten Autoritäten verjagen und aufrechte Männer und Frauen an ihre Stelle setzen. Aber Saakaschwilis Leute schickten sie nach Hause. Das Letzte, was sie wollten, war eine spontane Revolution.
Der Druck im Kessel ist gewaltig. Aber das neue Regime will ihn nicht ausnutzen. Darüber unterhielt ich mich mit einem der Berater Saakaschwilis, Ghia Nodia vom Caucasus Institute for Peace, Democracy and Development. Wie kann man das Land umgestalten, ohne den Enthusiasmus der Menschen gegen das alte System zu mobilisieren? Man kann ja die bestechliche und demoralisierte Bürokratie schwerlich dazu bringen, sich selbst zu reformieren. Nodia meinte: „Ich denke, die Oppositionsführer haben sich richtig verhalten. Sie mussten bedenken, was passieren konnte, wenn sie die Leute ermutigt hätten, die Machthaber in Regionen mit ethnischen Minderheiten zu stürzen, zum Beispiel in der armenischen Region. Da wäre es womöglich zu echten Unruhen gekommen. Außerdem hatte man Angst vor einer Revolution, in der die Reichen nur deshalb attackiert werden, weil sie reich sind – und nicht aufgrund erwiesener Korruption.“
Als wichtigste Prioritäten nannte Nodia den Kampf gegen die Korruption und die Sanierung der Staatsfinanzen. Ich fragte, wie man von durch und durch korrupten Polizei- und Finanzbeamten erwarten könne, dass sie gegen Bestechung vorgehen und Steuern eintreiben. „Der öffentliche Dienst muss wieder funktionsfähig werden“, meinte Nodia. „Die Wirtschaft wurde vor einigen Jahren weitgehend privatisiert. Aber auch für private Firmen muss es Regeln geben. Wir haben Konkurrenz, aber eine, die ungeregelt und unfair ist. Hier gibt es lauter ‚graue‘ Steuern, die in die Taschen von Kriminellen wandern. Die Privatisierung ist viel zu weit gegangen, die Leute haben jeden Sinn für öffentliche Verantwortung verloren. Trainingsprogramme? Leider müssen wir mit den Apparaten auskommen, die wir geerbt haben.“ Das Gespräch mit Nodia hinterließ bei mir den Eindruck, dass sich Saakaschwili über die Mittel, mit denen er seine Ziele erreichen will, noch wenig Gedanken gemacht hat.
Eines Morgens stieg ich auf den Gipfel des Davidsberges. Oben angelangt schaute ich auf Tiflis hinab. Es war 16 Jahre her, dass ich den Anstieg zum letzten Mal bewältigt hatte, und der Hügel kam mir jetzt viel steiler vor. Damals war Georgien noch eine sowjetische Republik, die zwar politisch gefesselt und geknebelt war, aber eine enorme kulturelle Renaissance erlebte. Die Georgier machten wunderbare Filme, das Rustaweli-Theater präsentierte in Edinburgh einen Richard III., der das Publikum erschütterte, obwohl es kein Wort verstand. Die Nation entdeckte ihre Vergangenheit neu und verliebte sich in das, was sie da entdeckte. Besonders populär war damals die Geschichte von dem betagten Kommunisten, der aus der Partei rausflog, weil er einen Pass für eine Reise nach Israel beantragt hatte. Vor der Kontrollkommission nannte er als Grund, er habe nur ein Werk des Nationaldichters Schota Rustaweli aus dem 12. Jahrhundert ins Hebräische übersetzen wollen, „aus der ältesten und reinsten Sprache der Welt in die zweitälteste und zweitreinste“. Die Mitglieder der Kommission brachen in Tränen aus. Weinend unterzeichneten sie den Parteibeschluss, aber als der Verstoßene den Raum verließ, standen sie Spalier und küssten und umarmten ihn.
Ein Moskauer Freund hatte mir damals gesagt: „Georgien ist die mit Abstand beste und stärkste Einzelrepublik, keine andere hat eine solche kulturelle Energie.“ Es war ein toleranter Ort, wo die georgisch-orthodoxe Mehrheit friedlich mit den kleinen muslimischen Minderheiten zusammenlebte (das tut sie bis heute). Den Georgiern ging es besser als allen anderen, denn sie verkauften ihre riesigen Überschüsse an subtropischen Früchten, Gemüse, Wein und Brandy auf den Märkten der gesamten Sowjetunion. Sollte es mit dieser Union einmal zu Ende gehen – eine Fantasie, die vier Jahre später Wirklichkeit werden sollte – stand eines fest: Selbst wenn alle übrigen hungern sollten, Georgien würde alles gut überleben.
Die Gewissheit war unumstößlich, und sie war völlig falsch. Wirtschaftlich bedeutete die Unabhängigkeit für alle drei Kaukasusländer – Georgien, Armenien und Aserbaidschan – eine Katastrophe. Das planwirtschaftliche Industriesystem der Sowjetunion brach zusammen. Als ich neun Jahre danach zurückkehrte, waren die Vorstädte überall eine albtraumhafte Landschaft von toten, vor sich hin rostenden Fabriken. Und der Markt für georgische Produkte war ebenfalls ruiniert, weil auch der Rubel tot war und die russischen Familien kein Geld mehr hatten. Am Ende brach das den gesamten Kontinent umspannende Stromnetz zusammen. Es begannen die Winter mit Kerzenlicht und Wintermänteln statt Pyjamas.
Mit der Armut kam der Krieg. Der erste georgische Präsident war der unberechenbare Swiad Gamsachurdia. Der Archäologe und Nationalist wurde Ende 1991 durch einen Putsch abgesetzt. 1993 scheiterte sein Versuch, erneut an die Macht zu kommen; dabei wurde sein Heimatgebiet Mingrelien im Westen Georgiens durch einen Bürgerkrieg verwüstet. Zu dieser Zeit war ein Großteil des Landes bereits in die Hände von Warlords und ihrer Privatarmeen gefallen. 1992 wurde Eduard Schewardnadse, Gorbatschows Außenminister, zum Staatsoberhaupt gewählt. Er begann, die zentrale staatliche Autorität wiederherzustellen, konnte aber das Desaster in Abchasien nicht verhindern.
Der Abchasienkrieg wäre leicht zu vermeiden gewesen. Abchasien ist ein kleines Gebiet an der Schwarzmeerküste, das privilegierten Russen von der Zarenfamilie bis zu Gorbatschow als Sommerresidenz gedient hatte. Die wenigen Städte waren kosmopolitisch geprägt, mit großen griechischen, jüdischen und russischen Minderheiten. Aber während der sowjetischen Periode wurden die einheimischen Abchasen durch zugewanderte Georgier und Mingrelier minorisiert. Als die Sowjetunion zerfiel, war Abchasien eine „autonome Republik“ innerhalb der Sowjetrepublik Georgien. Die von Abchasen dominierte KP hatte schon länger versucht, den georgischen Einfluss zurückzudrängen und den Beamtenapparat zu „abchasifizieren“. Als die sowjetischen Strukturen immer mehr bröckelten, wurde ihnen klar, dass Georgien seine Unabhängigkeit erklären und Abchasien seinem souveränen Territorium zuschlagen würde. Das wollte die Führung der Abchasen verhindern, indem sie den gleichen Autonomiestatus wie Georgien verlangte.
Vernünftige Politiker hätten sich auf irgendeine Form von „Konföderation“ geeinigt. Doch Paranoia und Misstrauen behielten die Oberhand. Nach gewaltsamen Demonstrationen marschierten georgische Milizen unter Chitowani in Abchasien ein und eroberten die Hauptstadt Suchumi. Rasch entwickelte sich ein umfassender Krieg, in dem die Abchasen durch russische Waffen und Flugzeuge, aber auch durch Banden nordkaukasischer Stammeskrieger unterstützt wurden. Auf beiden Seiten gab es Gräueltaten gegen die Zivilbevölkerung. Der Krieg endete 1993, als sich die georgische Armee zurückziehen musste und 200 000 Georgier und Mingrelier nach Georgien flohen. Sie sind bis heute in der georgischen Gesellschaft nicht integriert, hausen in stillgelegten Fabriken, verlassenen Militärbasen und heruntergekommenen Hotels.
Der Konflikt endete damit, dass die Russen die Region wieder unter Kontrolle hatten. 1993 retteten russische Truppen Schewardnadse gegen eine von Gamsachurdia geführte Rebellion, aber das hatte seinen Preis: Georgien musste der postsowjetischen GUS beitreten und die russischen Militärstützpunkte akzeptieren. In Abchasien besetzte eine russische Friedenstruppe die Frontzone an der Grenze zu Georgien; zugleich wurde der Kleinstaat in vieler Hinsicht zu einem russischen Protektorat.
Diesen ganzen Schutt muss Saakaschwili beiseite räumen, wenn er die geopolitischen Gewichte im Kaukasus verschieben und Georgien nach Westen orientieren oder gar auf den Weg in Richtung Europäische Union bringen will. Den Russen muss er die Aufgabe ihrer beiden letzten Militärbasen schmackhaft machen; und für Abchasien muss trotz ständiger russischer Obstruktion eine Lösung gefunden werden.
In meinen Augen stehen Gamsachurdia wie Saakaschwili für den von Tom Nairn beschriebenen janusköpfigen Nationalismus, dessen eines Gesicht nach rückwärts und nach innen starrt, auf eine mythische Vergangenheit und das verlorene Goldene Zeitalter der Nationalgeschichte, während das andere nach vorne und nach außen blickt, in eine modernisierende Zukunft, wobei die nationale Unabhängigkeit die Voraussetzung für den Anschluss an die Außenwelt darstellt. Aber viele Georgier hängen am Idealbild eines ewigen ethnisch definierten Georgien, dessen kulturelle und politische Kontinuität ungebrochen bis mindestens in die Bronzezeit zurückreicht. Es ist die „Swiadistische Vision“, die der tragische, zerrissene Altertumsforscher Gamsachurdia beschworen hatte, und sie ist so tief im Volk verwurzelt, dass der pragmatische Saakaschwili sie nicht einfach wegfegen kann.
Georgien in Europa? Die Vorstellung wirkt elektrisierend, aber sie löst bei vielen Georgiern auch Missbehagen aus. Bedeutet „europäisch zu werden“, dass man die Einzigartigkeit Georgiens aufgeben muss, das sich über Jahrtausende nicht nur dem christlichen Westen, sondern auch den Kulturen Persiens, der Türkei und all den anderen muslimischen Kulturen Westasiens geöffnet hat?
In dem großen Museum ist es dunkel und kalt. Es ist Montag. Das Museum ist geschlossen, und das Personal versucht zu sparen. Halb verborgen in einer Ecke der Eingangshalle beugen sich drei in Mäntel gehüllte Wachleute über ein Becken mit glühenden Kohlen. Einen Stock höher, in den beiden Räumen, wo David Lordkipanidse arbeitet, ist es warm und hell. Auf seinem Schreibtisch liegen zwei kleine, ungewöhnliche Objekte aus durchsichtigem Plastik. Es handelt sich um Miniaturabgüsse von Dmanisis-Schädel-Hominiden, die vor etwa 1,7 Millionen Jahren im heutigen Georgien lebten. Sie wurden seit 1999 gefunden, der letzte, erstaunlich vollständige kleine Schädel erst 2002. Ihre Entdeckung hat unsere Auffassung vom Ursprung des Menschen verändert. Davor hieß es, dass der frühe Mensch – Homo erectus – Afrika erst verlassen habe, als er ein größeres Gehirn und eine relativ fortgeschrittene Version von Faustkeil entwickelt hatte. Jetzt hat es den Anschein, als sei er schon eher aus Afrika aufgebrochen. Die in Dmanisi gefundenen Hominiden hatten Hirne, nicht größer als die der ostafrikanischen Oldowan-Hominiden, und sie gebrauchten dieselben einfachen Steinwerkzeuge.
Die beiden ersten fast vollständigen Schädel hatte 1999 der Paläontologe Leo Gabunia gefunden, der Vorgänger von Professor Lordkipanidse. Auch der trägt einen berühmten Namen: Sein Vater, der Archäologe Otar Lordkipanidse, hat die fantastischen Goldschätze in der aus der Eisenzeit datierenden Tempelstadt Wani in Westgeorgien ausgegraben. Seitdem waren die Georgier mehr denn je überzeugt, dass die Geschichte vom Goldenen Vlies nicht nur ein Märchen ist und es sich beim Königreich Kolchis, aus dem Jason das Vlies und Medea entwendet hatte, um einen direkten Vorläufer des modernen Georgien handelt.
Damit verkörpert sich auch in Vater und Sohn Lordkipanidse das janusköpfige Wesen des Nationalismus. Der Vater hob das Goldene Zeitalter ans Licht, an das seine Landsleute schon immer leidenschaftlich geglaubt hatten. Der Sohn hingegen, ein großer, charmanter Mann, leitet aus der entfernteren Vergangenheit eine Entwicklungslinie ab, die Georgien mit Europa und der Außenwelt verbindet. Den Fundort von Dmanisi als „Wiege der Europäer“ zu bezeichnen riecht – zugegeben – nach Propaganda. Politiker mögen den Ausdruck begeistert aufgreifen, aber Paläontologen werden dabei etwas bleich. Und nichts weist darauf hin, dass diese kleinen Wesen dabei waren, sich mit dem Faustkeil in Richtung Paris und Brüssel durchzuschlagen. Ihre Nachfahren können sich auch gen Osten verdrückt haben, Richtung Iran oder weiter nach Asien hinein. Professor Lordkipanidse sieht in seiner Entdeckung eine ungeheure Chance: „Dmanisi macht es Europa möglich, seinen Anteil am Ursprung der Menschheit zu reklamieren: Die hat man vorher nur in Afrika lokalisiert. Und das ist auch für Georgien ein Glücksfall. Die Geschichte vom Goldenen Vlies haben wir schon, und jetzt haben wir noch die vom ‚ersten Europäer‘.“
Im Hauptsaal des Museums glimmt eine einzige Lampe über den rekonstruierten Gesichtern eines Mannes und einer Frau und über den Kopien ihrer Schädel in Originalgröße. Ein demütiger, beflissener Ausdruck liegt in ihren Gesichtern. Die Schädel haben fast perfekte Zähne (das Leben der Hominiden war kurz). Aber die Augenhöhlen sind feindselige schwarze Tunnel, die in die Tiefe führen, ins Unbekannte. Die Woche danach sind sie mir mehrfach im Traum begegnet, ein doppelläufiges Dunkel, genau auf mich gerichtet.
Der junge Autor Dato Turaschwili gehört zu denen, die an „Georgien in Europa“ ihre Zweifel haben. Ich traf mich mit ihm in einer der Café-Buchhandlungen, die in Tiflis über Nacht entstanden sind. Er saß an einem Tisch, an dem die Gäste ihre alten Bücher für Gefängnisbüchereien abliefern. Für Turaschwili wäre es eine kulturelle Katastrophe, wenn Georgien mit der Mode gehen und als europäische Nation posieren sollte. Das hieße, sich mit einer totalen Amerikanisierung abzufinden. Als er dies sagte, schob ein anderer Autor neben uns verlegen lächelnd seinen Pullover hoch, um sein T-Shirt mit der Aufschrift „Fuck Bush“ vorzuzeigen. Turaschwili redete weiter: „Ich fände es schrecklich, wenn Georgien sich einem von Amerika beherrschten Westen anschließen würde, der den Antiislamismus zur Religion hat und auf der Idee eines unvermeidlichen Zusammenpralls der Kulturen beruht. Das wäre für Georgien genau das Falsche. Unsere Identität ist eng mit der muslimischen Welt verbunden, vor allem mit der iranischen und persischen Kultur.“ Um zu zeigen, was er damit meint, zog er sein jüngstes Buch aus einem Regal: ein Kinderbuch mit zarten Illustrationen, das die Geschichte der georgischen Prinzessin Tamara erzählt, die man gezwungen hat, einen Sultan der türkischen Seldschuken-Dynastie zu heiraten. Dass Turaschwili solche Bücher schreibt, hätte ich nicht gedacht, aber er klärte mich über die Bedeutung von Tamara auf: „Sie brachte unsere Völker enger zusammen und machte das Leben der Georgier unter den fremden Eroberern ein bisschen leichter. Sie lernte eine andere Lebensweise und fand Gefallen daran. Ja, sie nahm sich sogar den Gründer der Sufi-Religion zum Liebhaber.“
In ganz Transkaukasien haben sich die Identitäten, Religionen und Ethnien schon immer stark vermischt. Doch am Ende des 20. Jahrhunderts begann alles auseinander zu brechen. Nach ihrer Unabhängigkeit 1991 wurden Armenier, Muslime, Aseris und Georgier allesamt, wenn auch unterschiedlich stark, von der Krankheit infiziert, die in alten multikulturellen Gesellschaften nur allzu oft auf die Befreiung folgt: vom Bedürfnis, alle anderen auszuschließen. Die Armenier vertrieben die Aseris, die Aseris die Armenier, und die Abchasen warfen ihre Georgier hinaus. Die ganze Region, wirtschaftlich bereits am Ende, brach unter dem Gewicht von fast zwei Millionen Flüchtlingen zusammen. Inzwischen sind die jüdische und die griechische Minderheit in ihre „Heimatländer“ abgewandert, deren Sprache sie kaum noch sprachen. Die Grenzen zwischen den drei neuen Staaten wurden mehrfach zu von Blauhelmen oder russischen Soldaten bewachten Waffenstillstandslinien. Seit etwa fünf Jahren hat nun eine neue Phase des Desintegration begonnen, in der die USA und Russland um die Öl- und Erdgasvorkommen rund um das Kaspische Meer konkurrieren. Das bedeutet neuen Reichtum, und die aserbaidschanische Hauptstadt Baku ist heute wieder die internationale Ölmetropole, die sie schon zu Anfang des 20. Jahrhunderts war. Aber all das führte auch zum Wiederaufleben der Konkurrenz zwischen den Großmächten um die politische Vorherrschaft in der ganzen Region. Bislang sind die Amerikaner in Georgien und Aserbaidschan Sieger geblieben, während Armenien, das keine Energievorkommen hat und auch für die geplanten Pipelines keine strategische Bedeutung hat, weitgehend ignoriert wird.
Am meisten fürchten die Georgier die Rückkehr der Russen, ein Protektorat der Amerikaner wollen sie aber auch nicht werden. Um beide Gefahren einzudämmen, müssen sie zuallererst die territoriale Integrität sicherstellen. Um dies zu unterstreichen, ließ sich der neue Präsident noch am Tag seiner Amtseinführung in die autonome Provinz Adscharien im Südwesten Georgiens fliegen. In Saakaschwilis Konzept, die territoriale Integrität Georgiens wiederherzustellen, hat Adscharien heute die höchste Priorität. Die reiche Region mit ihrem subtropischen Klima, deren Bevölkerung vorwiegend muslimisch ist, war lange ein halb unabhängiges Lehen des „Präsidenten“ Aslan Abaschidse. Dieser charmante Gauner betreibt ein korruptes autokratisches Regime, das ihn und seine Familie aus den Steuern finanziert, die er nicht an die Zentralregierung in Tiflis abführt. In jüngster Zeit betreibt dieser Abaschidse die offizielle Sezession. Dass man ihn nicht ohne weiteres absetzen kann, liegt an Russland, das in der Hauptstadt Batumi noch einen Militärstützpunkt unterhält und Abaschidse gegen die Regierung in Tiflis unterstützt.
Saakaschwili verbrachte nur ein paar Stunden in Batumi. Das reichte, um mit Abaschidse eine Parade abzunehmen und sich die Treuebekundungen für seinen Gastgeber anzuhören, die eine eilends zusammengekarrte Menschenmenge artikulierte. Von weitem waren auch Parolen von Andersdenkenden zu hören, die Demokratie und eine „Rosenrevolution“ auch in Adscharien forderten. Noch versucht Abaschidse, diese Dissidenten durch Drohungen, Verhaftungen und Polizeiknüppel in Schach zu halten. Aber in Tiflis herrscht das Gefühl, dass es mit dem Regime zu Ende geht. Es gibt Gerüchte, Abaschidse habe bereits angeboten, die Hälfte der 10 Millionen Dollar zurückzuzahlen, die er an Steuern unterschlagen haben soll. Selbst den Russen müsste eigentlich daran gelegen sein, ihre Verluste zu minimieren, das heißt den Abaschidse-Clan auszufliegen und in irgendeiner gemütlichen Villa bei Moskau unterzubringen.
Dann hätte Georgien nur noch zwei Sezessionsprobleme. Das eine heißt Südossetien. In diesem Hügelland am Fuß des Kaukasus lebt die ethnische Minderheit der Osseten, die von sarmatischen Nomaden abstammt und ein indoiranisches Idiom spricht. Sie kämpft für das Recht, sich an Nordossetien anzuschließen, das auf der anderen Seite der russisch-georgischen Grenze liegt. Dieser Kampf verebbte 1992 und der Konflikt ist offenbar eingeschlafen. Der andere Sezessionsfall ist weitaus wichtiger und weit schwerer lösbar: der Fall Abchasien.
Der UN-Hubschrauber kurvt auf dem Weg nach Suchumi im großen Bogen über das Schwarze Meer, um den unruhigen Grenzabschnitt bei Gali zu vermeiden, wo ab und zu noch geschossen wird. Die abchasische Küste taucht auf, gesäumt von Palmen und Oleander, und überall die Eukalyptushaine, die vor langer Zeit von den Russen angelegt wurden, um das malariaverseuchte Sumpfland trockenzulegen. Hinter der Küste türmt sich eine weiße Wolkenbank auf. Und plötzlich ragen fast bis zum Zenit die strahlenden Silbergipfel der Kaukasuskette auf. Das Problem von Abchasien liegt zum Teil darin, dass zu viele Menschen dieses Land lieben.
Für Russen und Georgier war diese Küste gefühlsmäßig immer „ihre“. Hier verbrachten sie lange, herrliche Sommer und konnten den Schlamm, den Schnee und die Bürokratie vergessen. Hier ließen sich in der Zarenzeit pensionierte Generäle nieder, in ihren Sommerhäusern in Gagra oder Suchumi. Die sowjetische Nomenklatura errichtete gewaltige weiße Villen in Pitsunda oder Gudauta. Generationen von Georgiern verbrachten hier ihre Familienferien, verliebten sich, schrieben Bücher und entdeckten die Schönheit eines Landes, das für sie einfach ein weiteres Stück Georgien war. In den wenigen Städten und an der Küste sprach man vornehmlich Russisch und Georgisch. Wenn die Besucher die Abchasen überhaupt wahrnahmen, dann als pittoreskes Völkchen von freien Bauern mit einer seltsamen Sprache.
Suchumi ist heute ein verzweifelt stiller Ort. Man kann den großen Boulevard entlangwandern und als einziges Geräusch einen Fußball hören, den ein Junge gegen einen Baum kickt. Ab und zu fährt ein Auto vorbei, und alle paar Minuten holpert eine marschrutka (ein Kleinbustaxi) durch die Schlaglöcher. Zehn Jahre nach dem Sieg der Abchasen sieht im Zentrum von Suchumi noch jedes vierte Haus so aus, als sei es gerade geplündert worden. Ich war zuletzt 1994, neun Monate nach Kriegsende hier. Über der Stadt lag noch Brandgeruch, man sah Bombenkrater in den Straßen und frische Soldatengräber in den Parkanlagen. Seither wurden viele Ruinen abgerissen und ein paar der schönsten klassizistischen Bauten restauriert. Statt der Gräber gibt es jetzt ein modernistisches Kriegerdenkmal mit vielen Namen darauf. Es gibt Läden für Importwaren aus Russland oder der Türkei und kleine Restaurants und Cafés. Die Arbeiter in der Stadt sind nicht mehr auf die Fresspakete ihrer Verwandten vom Lande angewiesen. Es herrscht Normalität, wenn auch auf niedrigem Niveau.
Die Abchasen hatten gehofft, Anschluss an die Welt zu finden. Stattdessen fanden sie sich von ihr ausgeschlossen. Zuerst wurden alle Kommunikationswege mit der Außenwelt gekappt: Eisenbahn, Luft- und Seeverbindungen, auch die meisten Telefonkabel. Ab und zu ließ man ein türkisches Schiff mit lebensnotwendigen Lieferungen durch, aber für den Personenverkehr waren die Grenzen dicht. Die Abchasen wurden zu schweigenden Gefangenen in ihrem eigenen, von niemandem anerkannten Land. Eine kleine UN-Truppe (Unomig) wachte über den Waffenstillstand an der Grenze zu Georgien. Die Russen hatten zwar den Abchasen zum Sieg verholfen, aber jetzt setzten sie die Blockade um. Nach Ende der Kämpfe hatten ihre Soldaten – als „GUS-Friedenstruppen“ – die Waffenstillstandszonen besetzt. Zweifellos um den Druck auf Georgien aufrechtzuerhalten.
Heute ist die Blockade nicht mehr total. Letzten Sommer kamen ein paar tausend russische Feriengäste. Über die Nordgrenze werden wieder Kohle, Tabak und Mandarinen nach Russland exportiert, Schwarzmarktwaren wie Benzin wandern in die Gegenrichtung. 2002 boten die Russen an, die alten sowjetischen Pässe gegen russische auszutauschen. Damit können Abchasen nach Moskau fahren und sich Visa für Reisen in alle Welt besorgen. Seit 2003 ist die Eisenbahnlinie Suchumi–Moskau wieder offen.
Das erbost wiederum die Georgier, die für eine Lockerung der Blockade von den Abchasen Gegenleistungen haben wollen. Aber die Gespräche schleppen sich seit zehn Jahren hin. 1999 verlor die abchasische Regierung die Geduld und proklamierte die volle Unabhängigkeit. Das machte eine Lösung noch schwieriger, wiewohl Abchasien nur von zwei weiteren Nichtstaaten anerkannt wird – von Berg-Karabach und von der Republik Transnistrien, die sich von Moldawien losgesagt hat.
Könnte die georgische Revolution eine Änderung bringen? Es gibt ein paar Anzeichen für ein Umdenken. Georgier, die früher die Abchasen immer nur als eine Hand voll islamischer Fundamentalisten beschimpften – oder als Handlanger der Russen –, konzedieren ihnen heute widerstrebend eine Identität, auf die man Rücksicht nehmen müsse. Und Saakaschwili sagt, er wolle das Abchasien-Problem lösen.
Ich fragte Alex Rondeli, ob es einen Plan für eine große Versöhnungsgeste gibt. Rondeli ist der bekannteste politische Analytiker des Landes und Berater Saakaschwilis, ein großer, gescheiter Mann, der die russischen Absichten im Kaukasus mit bitterem Sarkasmus betrachtet: „Einen Plan? Wir orthodoxen Christen machen keine Pläne. Michail Saakaschwili muss erst mal fest im Sattel sitzen, Pläne macht er später.“ Abchasien werde sogar für die Russen zu einem Problem, das sie nicht mehr unter Kontrolle haben: „Da ist ein Pinocchio entstanden, der inzwischen seine eigene Seele hat. Aber die russischen Politiker wollen bei jeder Lösung Abchasien als Hebel erhalten, um Druck auf Georgien auszuüben.“ Rondeli plädiert für georgische Konzessionen, aber nur innerhalb gewisser Grenzen: „Wir könnten ihnen größtmögliche Autonomie geben, aber innerhalb eines einzigen Staates. Keine Konföderation, aber eine streng definierte Föderation, garantiert durch die internationale Gemeinschaft.“ Die müsse auch als Vermittler gewonnen werden. Zum Schluss sagt Rondeli: „Ich sage den Abchasen, bitte seid Abchasen und keine Russen.“
Doch in Suchumi ist das Misstrauen gegen die Absichten von Saakaschwili nach wie vor weit verbreitet. Nach zehn Jahren Isolierung ist die Regierung offenbar müde und erschöpft. Und sie sieht in jeder neuen Initiative zunächst eine Falle. Ich sprach mit Außenminister Sergej Schamba, der bei den Wahlen im November wahrscheinlich für das Präsidentenamt kandidieren wird. Er beginnt mit der üblichen Aufzählung der Sünden Georgiens und der Versuche, Abchasien zu destabilisieren. Auch von der Idee gegenseitiger Entschuldigungen hält er nicht viel: „Die georgische Seite schlägt nur eine andere Taktik ein, und zwar um einen Vorteil zu erzielen, nicht aus gutem Willen. Wir haben uns für nichts zu entschuldigen. Wir haben uns entschieden, und zwar für die Unabhängigkeit. Und es gibt hier keine Partei und keinen Politiker, der eine Rückkehr in den Staat Georgien befürwortet, oder eine gemeinsame politische Einheit mit Georgien.“
Die Tür ist zu. Schamba sagt, Georgien müsse erst einen inneren Wandel schaffen, die Korruption überwinden und politische und finanzielle Stabilität gewinnen, bevor man eine neue Beziehung aufbauen könne. Vielleicht spielt er nur auf Zeit. Und doch muss sich etwas ändern. Zwar gibt es keinen Grund, warum Abchasien mit seinen 180 000 Einwohnern als unabhängiger Ministaat am Schwarzen Meer nicht lebensfähig sein soll, dank Strandtourismus und Agrarexporten. Aber es muss eine besondere und enge Beziehung mit Georgien aufbauen, damit es nicht nach und nach von Russland geschluckt wird.
Denn Abchasien hat das Problem, dass seine zwielichtige Existenzform ziemlich vielen Leuten eine bequeme Nische bietet. Die Russen haben sich regelrecht festgesetzt. Ihre militärische Präsenz macht sie zum Oberaufseher des politischen Wandels in Georgien und im südlichen Kaukasus. Von der Blockade leben im Übrigen große „Familien“ russischer und abchasischer Gauner und Schmuggler, die mit Öl und Holz handeln. Die Moskauer Mafia hält, nachdem sie ihre örtlichen Konkurrenten umgelegt hat, das Monopol über die Haselnussproduktion in der Grenzprovinz Gali – ein erstaunlich lukratives Geschäft. Die türkischen Fischereiflotten greifen, nachdem sie das übrige Schwarze Meer leer geräumt haben, die Fischbestände an der abchasischen Küste ab, und es ist unklar, wer das Recht hat, sie daran zu hindern.
Georgien spielt derzeit eine Gastrolle in der Geschichte, die das Land mal eben zu einer Fahrt ins Blaue entführt. Dabei kann fast alles passieren. Mag sein, dass der „Baby-Präsident“ die Nation auf eine Spritzfahrt in Richtung Europa mitnimmt, an deren Ende ein freies pluralistisches System steht, ein funktionierender öffentlicher Dienst und eine Marktwirtschaft, die einen breiten Wohlstand bringt. Aber wenn alles schief geht, mag sich auch Saakaschwili als einer jener unberechenbaren Autokraten erweisen, die auf nationalistische Rhetorik setzen und sich dank dem alten Futterkrippensystem an der Macht halten.
Die USA unterstützen den neuen Präsidenten mit allen diplomatischen und finanziellen Mitteln. Die georgische Wirtschaft wird aus dem US-Budget 2004 mit 164 Millionen Dollar unterstützt, während eine neue IWF-Mission in Tiflis zähneknirschend die schreckliche Bilanz der verschleuderten Kredite studiert. Das US-Außenministerium drängt Russland, sich an seine 1999 gemachte Zusage zu halten und seine beiden letzten georgischen Militärbasen zu schließen. Ein kleines US-Militärkontingent hat begonnen, die georgische Armee auszubilden, angeblich im Rahmen des globalen „Kriegs gegen den Terrorismus“. All das dient dem zentralen Ziel, eine proamerikanische „Zone der Stabilität“ im südlichen Kaukasus zu schaffen. Damit will man den russischen Einfluss begrenzen und die westlichen Investitionen in die kaspischen Öl- und Gasvorkommen absichern, einschließlich der Pipelines, die durch Aserbaidschan und Georgien zum Mittelmeer und zum Schwarzen Meer führen.
Doch für solche Pläne gibt es irritierende Präzedenzfälle. In Lateinamerika haben die USA sich immer wieder voll hinter „unternehmerfreundliche“ Regime gestellt, ehe diese Zeit fanden, ihre Autorität mit friedlichen Mitteln auf ihr ganzes Territorium auszudehnen. Das Ergebnis kann eine unverhältnismäßig starke Regierung sein, deren Macht sich aus US-Geldern und Gewehrläufen speist. In Georgien führt die neue Verfassung einen Ministerpräsidenten und ein Kabinett nach westlichem Vorbild ein, aber sie gibt dem Präsidenten auch die Kontrolle über die Exekutive. Und das bei einem Parlament, in dem fast nur noch eine Partei vertreten ist.
Noch ist die enorme Begeisterung über „Mischa“ ungebrochen. Aber wie wird der Präsident reagieren, wenn die Reformen, die er durchsetzen muss, zu schmerzen beginnen und die Wähler sich von ihm abwenden? Saakaschwili hat einen schönen Satz gesagt: Seine Revolution sei die erste „samtene Revolution“ auf dem Gebiet der alten Sowjetunion. Das soll heißen: Sie wird nicht wie in Weißrussland oder Usbekistan oder auch in der Ukraine enden, wo neue Autokraten auf die alte Weise regieren – wie Baby-Breschnews in nationaler Tracht. Saakaschwili fordert eine rechtsstaatliche, ehrliche, einigermaßen faire Demokratie. Eine Vision, wie sie 1989 die Tschechen, die Polen und die Litauer hatten, auch wenn sie inzwischen gelitten hat. Saakaschwili scheint es ernst zu meinen. Und die Menschen in Georgien, denen ihr Talent für die Freuden des Lebens auch in den schlechtesten Zeiten nicht verloren ging, haben es verdient.
deutsch von Niels Kadritzke
© Le Monde diplomatique, Berlin
* Langjähriger Korrespondent und Kolumnist des Londoner Independent. Autor des Buches „Schwarzes Meer“, Berlin (Berlin Verlag) 1996. Wir danken der London Review of Books für die Überlassung der Rechte.