08.04.2004

Die Perspektive Europas

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Die Perspektive Europas

AUS europäischer Sicht wird keine „forward strategy for freedom“ (Bush) benötigt, sondern eine gemeinsame Perspektive für den politischen und gesellschaftlichen Wandel im geopolitischen Umfeld Europas, die die Veränderungspotenziale der betreffenden Gesellschaften nutzt, ihre Würde wahrt und die enge Verbindung zwischen politischer und sozialer Unterentwicklung einerseits und ungelösten Territorialkonflikten andererseits nicht ignoriert.

[…] Während die USA bestrebt sind, Regime, die sich westlichen Interessen in der Region widersetzen, unter Hinweis auf ihre Demokratiedefizite mit Straf- und Zwangsmaßnahmen bis hin zum von außen erzwungenen Regimewechsel zu bedrohen, wird europäische Politik versuchen, reformfreudige Kräfte innerhalb der betreffenden Staaten zu unterstützen und existierende Regime durch Dialog, Hilfe und sanfte Konditionalisierung auf einen Reformweg zu bringen.

Zur Praxis europäischer Demokratieförderung gehört der oft unbefriedigende Grundsatz, Staaten da „abzuholen“, wo sie sind, und eher auf Beispielwirkung und Dialog als auf Drohung mit Regimewechsel von außen zu setzen. […]

Aus europäischer Sicht gilt es zudem, klar zu machen, dass eine Demokratisierung nah- und mittelöstlicher Staaten zwar eingefordert werden sollte, aber nicht zur Voraussetzung eines Engagements oder internationaler Bemühungen um Konfliktlösung erklärt werden darf. […]

Die europäische Sicherheitsstrategie betont zu Recht die zentrale Bedeutung, die eine friedliche Regelung des arabisch-israelischen (und vor allem des israelisch-palästinensischen) Konflikts für politische, sicherheitspolitische und wirtschaftliche Entwicklungen in der weiteren Region haben würde, und gibt einer solchen Regelung deshalb „strategische Priorität“. Tatsächlich werden westliche Strategien, die auf politische Veränderungen im Nahen und Mittleren Osten setzen, nur dann nachhaltigen Erfolg haben, wenn gleichzeitig oder zuvor eine beidseitig akzeptable Regelung des Nahostkonflikts erreicht wird. In der amerikanischen Debatte wird dies allzu häufig ignoriert.

Aus: Volker Perthes, „Europa und Amerikas ,Greater Middle East‘ “,SWP-Aktuell 5, Stiftung Wissenschaft und Politik (www.swp.berlin.org)

Le Monde diplomatique vom 08.04.2004