08.04.2004

Gefühlte Demokratie

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Gefühlte Demokratie

DIE Attentate in Spanien am 11. März haben schmerzhaft ins Bewusstsein gerufen, dass die Welt ein Jahr nach der Bagdad-Offensive instabiler, gewalttätiger und gefährlicher scheint denn je. Allen Verheißungen von US-Präsident George Bush zum Trotz hat der „präventive“ Militärschlag den islamistischen Terrorismus nicht zu stoppen vermocht. Im Gegenteil gewann der Terror zusätzlich an Dynamik und erreichte Länder, die bislang verschont geblieben waren: Bali, Marokko, die Türkei und nun auch Europa. Die abscheuliche Tat traf Studenten und Arbeiter, darunter zahlreiche Einwanderer.

Abgesehen von möglichen internationalen Folgewirkungen scheint es angesichts der erheblichen Veränderungen auf der politischen Bühne Spaniens angebracht, einige Lehren aus den jüngsten Ereignissen zu ziehen. Es war das erste Terrorkommando, das unmittelbar vor Parlamentswahlen zuschlug und neben dem eigentlichen Attentat einen von Staatslügen begleiteten Medienrummel auslöste. Selten zuvor überlagerten sich in einem demokratischen Staat mit solcher Intensität drei Zeitlichkeiten: die Ereigniszeit, die Medienzeit und die politische Zeit.

Ein Schock dieser Größenordnung musste substanzielle Veränderungen nach sich ziehen. Welchen Stellenwert die Medien in unseren „Meinungsdemokratien“ besitzen, wissen wir, doch stellt sich nach den Anschlägen von Madrid die Frage, ob wir fortan nicht besser mit Virilio von „Emotionsdemokratien“ sprechen sollten. Denn unstrittig scheint, dass die durch die Tragödie von Atocha ausgelösten Gefühle die Entscheidung der Wähler beim Urnengang drei Tage später nachhaltig beeinflusst haben. Und dies umso mehr, als inzwischen erwiesen ist, dass José María Aznars Volkspartei – in allen Meinungsumfragen noch am Vorabend der Wahlen als klarer Sieger gehandelt – die Emotionen zum eigenen Vorteil auszuschlachten suchte, die Nachrichten manipulierte, alle Hinweise auf islamistische Attentäter beiseite wischte und ihren Lieblingsfeind ETA beschuldigte.

Solange das Land unter dem Schock der Anschläge stand, war der Wahlkampf ausgesetzt. An seine Stelle trat ein regelrechter Nachrichtenkrieg. Zur Täuschung der Öffentlichkeit mobilisierte Aznars Volkspartei alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel, insbesondere die öffentlichen Fernsehsender sowie die ihr nahe stehenden Tageszeitungen (El Mundo und La Razon) und Radiosender (Cope und andere).

Tageszeitungen wie El País und El Periódico sowie die Radiostation SER äußerten die Zweifel vieler Bürger an der offiziellen Version, die zudem auch unmittelbar per Mail oder SMS über ihre Zweifel kommunizierten. Innerhalb weniger Stunden entstand auf diese Weise am Samstagnachmittag ein überaus effizientes Netzwerk, das die Lügenpropaganda der Regierung demontierte und die Wähler mobilisierte. So gelang den Sozialisten von José Luis Rodríguez Zapatero der Sieg.

Diese außergewöhnlich hellsichtige Reaktion der Bürger auf Medienmanipulationen ist eine der Lehren, die die jüngsten Ereignisse bereithalten. Die Menschen in Spanien und anderswo lassen sich nichts mehr vormachen. Und sie sehen in den Falschinformationen der Medien eines der gravierendsten Probleme der heutigen Demokratie.

Der Partido Popular hatte seine Möglichkeiten, die Nachrichten zu kontrollieren, ausgiebig missbraucht. Er hatte den Irakkrieg, der von der Mehrheit der spanischen Bevölkerung abgelehnt wurde, mit Lügen gerechtfertigt und alles getan, um die eigene Verantwortung für die ökologische Katastrophe im Gefolge des Untergangs des Öltankers „Prestige“ herunterzuspielen. Nun dachte Aznars Partei wohl, die Bevölkerung werde dank der medialen Hypnose, die von einem solch grausamen Attentat ausgeht, problemlos eine weitere Lüge schlucken. Die kommunikative Revolte der Bürger machte ihr einen Strich durch die Rechnung.

Was das missliche Ende des Herrn Aznar angeht, der in Frankreich schon als „Vorbild für die Rechtsparteien“ gehandelt wurde, so sei an den weisen Rat erinnert, den die Alten ihren politischen Führern auf den Weg gaben, wenn sie zu Hochmut neigten: „Der tarpeische Felsen liegt unweit vom Capitol.“ Damals wusste jeder, was damit gemeint war: In unmittelbarer Nähe vom Hügel des Kapitols, auf dem die ruhmreichen Feldherren geehrt wurden, liegt der tarpeische Felsen, von dem aus man die Staatsverbrecher in den Tod stürzte.

Le Monde diplomatique vom 08.04.2004, von IGNACIO RAMONET