13.06.2003

Missverständnisse in Falludschah

zurück

Missverständnisse in Falludschah

DIE Stationierung von Soldaten im Irak folgt einem einfachen Muster: Man errichtet einen Militärstützpunkt und schickt schwer bewaffnete Patrouillen aus. Dass sich Ansätze lokaler Verwaltung herausgebildet haben, die einen wichtigen Beitrag zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung leisten, scheint die Besatzer nicht sehr zu interessieren.

Die Stadt Falludschah, nordwestlich von Bagdad am Euphrat gelegen, ist berühmt für ihre vielen Moscheen; sie gilt als sehr konservativ, und ihre ausschließlich sunnitische Bevölkerung war für ihre engen Beziehungen zum gestürzten Regime bekannt. Dennoch befanden die Stammesführer und religiösen Würdenträger nach dem Fall von Bagdad, dass Widerstand zwecklos sei, und schickten Unterhändler zu den US-amerikanischen Streitkräften: „Falludschah will jetzt vor allem Frieden.“ Als die US-Truppen einrückten, stand die Stadt unter der Leitung eines improvisierten Rats der Notabeln. Es gab keine Kampfhandlungen.

Niemand war darauf vorbereitet, dass die „Befreier“ im Stadtzentrum Quartier bezogen, alle Hauptstraßen sperrten, Militärstreifen durch die Wohnviertel schickten und die Stadt mit Hubschraubern, die knapp über den Dächern kreisten, aus der Luft überwachten. Als das Militär schließlich eine Schule besetzte und vom Dach des Gebäudes aus die Umgegend beobachtete, machte sich Empörung breit: Die Schule befand sich in einem äußerst konservativen Wohnviertel, wo Frauen vor fremden Blicken geschützt zu sein hatten. Und nun saßen da amerikanische Wachtposten mit ihren Feldstechern. Die Bewohner protestierten mit einer Demonstration vor der Schule gegen die Verletzung ihrer Privatsphäre. Angeblich mischten sich auch einige Muslimbrüder und unverdrossene Saddam-Hussein-Anhänger unter die Menge, es wurden sogar Bilder des gestürzten Präsidenten hoch gehalten. Die Amerikaner erklärten später, es seien Schüsse gefallen, und daraufhin hätten die Soldaten in legitimer Selbstverteidigung das Feuer erwidert.

Die Fassaden der Häuser zeigen unzählige Einschusslöcher von Kugeln aus schweren Maschinengewehren. Einige Menschen wurden in ihren Wohnungen getroffen, von Schüssen, die offensichtlich nicht dem Zweck dienten, irgendwelche Angreifer am Vordringen zu hindern. Die Verletzungen belegen überdies, dass auch Explosivmunition und Gewehrgranaten eingesetzt wurden, die man aus M 16-Maschinengewehren verschießen kann. Ein Auto in einer Garage wies Dutzende von Einschusslöchern auf. Die Fassade des Schulgebäudes dagegen ist völlig unversehrt geblieben.

Die Besatzungsmacht fasste die Schießerei nicht etwa als peinlichen Zwischenfall auf, sondern reagierte mit der Errichtung neuer Straßensperren, verstärkten Personenkontrollen und Patrouillen. Es gab neue Demonstrationen und weitere Tote, US-Amerikaner starben beim Beschuss des militärischen Hauptquartiers mit Mörsergranaten. Gegen eine Eskalation der Gewalt nach dem Freitagsgebet glaubten sich die US-Truppen schützen zu können, indem sie vor jeder Moschee einen Panzer postierten. Zur Deeskalation trugen solche Maßnahmen natürlich nicht bei.

ES waren die Notabeln von Falludschah, die durch ihre pragmatische und maßvolle Haltung ein Blutbad verhinderten. Sie verhandelten mit den US-Truppen und erreichten, dass der Beobachtungsposten in der Schule aufgegeben wurde. Und sie ließen durch die Prediger in den Moscheen dazu aufrufen, Ruhe zu bewahren. Die Imame gingen so weit, alle Demonstrationen zu missbilligen – und ließen durch einen der ihren erklären, die Amerikaner hätten „durch ihr Verhalten die Demokratie in der Wiege erstickt“. Am Ende wurde die provisorische Stadtverwaltung für ihr Eingreifen belohnt: Die US-Militärführung setzte den Stadtkommandanten ab.

In vielen irakischen Städten gilt, dass es nicht die Besatzungstruppen sind, die das Mindestmaß an öffentlicher Ordnung gewährleisten – ihre Anwesenheit stellt im Gegenteil eher ein Konfliktpotenzial dar. In Falludschah hat die US-Militärmacht inzwischen einen neuen Stützpunkt in respektvoller Entfernung von der Stadt einrichten müssen. Natürlich kann es auch anderswo zu ähnlichen Eskalationen kommen. Dabei wird einiges davon abhängen, ob die Okkupation spürbare Vorteile für die Bevölkerung bringt. Ein Iraker kommentiert ironisch die derzeit katastrophale Versorgungslage und das Dahinschmelzen der Lebensmittelrationen aus der Vorkriegszeit: „Im Augenblick haben wir noch das zu verdauen, was uns Saddam zugeteilt hat. Und wir sind immer noch gespannt, was uns die Amerikaner vorsetzen werden.“

D. B.

Le Monde diplomatique vom 13.06.2003, von D. B.