13.06.2003

Das Menschenrecht auf Illusion

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Das Menschenrecht auf Illusion

Von JURI ANDRUCHOWYTSCH *

LÄNDER lassen sich, so könnte man sagen, einteilen in solche, aus denen man weggeht, und in solche, in die man geht. Deutschland gehört zweifellos zu den Letzteren. Ich lebe in einem Land, das man zu den Ländern des ersten Typs zählen könnte. Aus diesem Land geht man weg, vorübergehend und für immer.

Die Ukrainer migrieren, und es besteht Grund anzunehmen, dass es sich um eine Massenmigration handelt. Es gibt keine offizielle Statistik, denn diese Migration ist zu neunzig Prozent nicht legal. Nach der nicht offiziellen Statistik leben allein in Portugal an die 300 000 Ukrainer, ebenso viele in Griechenland und in Italien fast eine Million. Die Ukrainer emigrieren und mimikrieren, um nicht von der Polizei aufgegriffen, verhaftet und deportiert zu werden. Ungeachtet des beträchtlichen Risikos, in der Sklaverei, im Gefängnis oder im Bordell zu landen, migrieren sie weiter.

Schon seit einigen Jahren stelle ich mir immer wieder die gleichen Fragen: Was soll der Schriftsteller machen in einem Land, das man verlässt? Hier bleiben und alles ignorieren oder so tun, als wüsste er von nichts? Sich ins eigene Innere zurückziehen und diese Flucht stolz als „Verbannung“ bezeichnen? Welche Form der Niederlage wäre weniger schmerzlich? Welche käme einem Sieg gleich?

Vor einigenTagen stieß ich auf einen Artikel der englischen Zeitschrift Economist, in dem das Land, in dem ich lebe, vielleicht zum ersten Mal seit seiner Unabhängigkeit vor zehn Jahren, als ein „bedauernswertes“ Land bezeichnet wurde. Das Wort ist gefallen: „bedauernswert“. Ich kann mich nicht dagegen wehren, höchstens nach einer Geschichte suchen, die zu diesem Thema passt. Zum Beispiel die folgende.

Mein Freund, zwölf Jahre jünger als ich, lebt in Prag. Er stammt aus der ukrainischen Emigration der Zwanzigerjahre, gehört also schon zur dritten Generation ehemaliger Emigranten und hat –wie alle solche Nachkommen – Schwierigkeiten mit der Identitätsfindung. Einerseits ist er den Versuchungen der Assimilation ausgesetzt, ein normaler Tscheche zu werden und aus dem Ghetto der Familientradition auszubrechen, andererseits lockt die Treue zu diesem Ghetto und seinem Erbe, die Idee, eine unverfälschte ukrainische Identität zu bewahren. Hinzu kommt, dass mein Freund auch Dichter ist, die Frage der eigenen Identität also alles andere als eine leere Sache für ihn ist: Es geht schließlich um die Sprache, in der er seine Liebeserklärung an die Welt formuliert.

Mein Freund liebt die Frauen außerordentlich (ich drücke ihm – aus der Entfernung – brüderlich die Hand) und ist ständig verliebt. Und jede seiner neuen Flammen fragt bei der erstbesten Gelegenheit, warum er einen so seltsamen Vornamen habe. Sie wissen nicht, dass er nach dem größten ukrainischen Dichter des 19. Jahrhunderts heißt – für unsere patriotischen Intellektuellen der geistige Vater des Volkes. Seit einigen Jahren hat mein Freund es aufgegeben, eine ehrliche Antwort auf die unschuldige Frage seiner Liebsten zu geben. Er hat seine Gründe.

Denn einmal kam ein Mädchen, das er schon nach einer Woche für den wichtigsten Menschen auf Erden hielt, zu spät zum Rendezvous. Sie erklärte ihre Verspätung damit, dass sie, kaum aus dem Haus getreten, von einem vorbeifahrenden Auto von Kopf bis Fuß nassgespritzt worden sei. „Stell dir vor“, sagte sie und hatte zur Verdeutlichung einen Vergleich gefunden, „ich war schmutzig wie eine Ukrainerin!“ Für meinen mit einem so großen Namen beschenkten Freund wurde dieser Vorfall zur intimen Katastrophe. Er trennte sich von ihr.

Wie Millionen andere Leute liebe auch ich die Stadt, in der er lebt – Prag, diese Quintessenz aller möglichen Mysterien und Chimären, Verflechtungen von Geheimnissen und Liebschaften, jene Alchemie von großen und kleinen Gesten, eine der wenigen Städte auf der Landkarte des Theatrum Mundi, wo das Reale und das Surreale, das Physische und das Metaphysische eine unzertrennliche Einheit bilden. Aber es gibt noch ein anderes Prag, das ich auf meinen nächtlichen Streifzügen kennen lernte, das Prag der ukrainischen Billigarbeitskräfte, meiner Landsleute, die in dieser Stadt legal oder illegal zu zehntausenden (zu hunderttausenden?) leben und die ich betrunken und schlecht gekleidet in irgendwelchen Winkeln und Ecken antreffe. Für einen lächerlich geringen Lohn verrichten sie die härteste und schmutzigste Arbeit in dieser Stadt, in der sie verenden und dem Suff verfallen oder wie räudige Hunde jederzeit und ohne Grund vom erstbesten Kapo der Mafia, die sie „vermittelt“ hat, verprügelt werden.

Das Mädchen meines Prager Freundes hatte Recht: hinausgedrängt aus einer menschlichen und menschenwürdigen Existenz, sind sie wirklich schmutzig. Nichts ist daran neu – wir haben es mit einer neuen Einwanderung von Proletariern nach Europa zu tun, und die Schuld daran kann man wohl nur einem wilden Kapitalismus geben.

Für jemanden wie mich, der immer noch in einem Land lebt und schreibt, aus dem andere weglaufen, bedeutet es das Ende einer Illusion, die ich wie eine in mir schlummernde Krankheit mit mir herumgeschleppt habe.

DAS Recht auf Illusionen gehört wohl zu den menschlichsten Grundrechten. Objektiv – und da bricht in mir der hausbackene Metaphysiker durch – hat die Illusion in jenen Sphären ihren Sitz, wo auch die Hoffnung angesiedelt ist. Meine persönliche Illusion bleibt, wenngleich durchgerüttelt und durchgeschüttelt, bis heute gültig, auch weil sie mich nach Westen schauen lässt, dorthin, wo über der Grenze die Sonne untergeht. „Europa – das ist …“, will ich immer wieder mit Worten sagen, die mich schwindeln lassen, und dabei unterlaufen mir die gröbsten Schnitzer.

Es ist gerade zehn Jahre her, seit ich mich zum ersten Mal in meinem „Europa – das ist …“ befand. Meine Illusion war also damals um zehn Jahre größer und jünger, sodass Sätze sich von selbst schrieben, die ich heute mit einer Mischung aus Beschämung und Belustigung wiederlese: „Den europäischen Menschen hat das Erbe geformt. Du kommst auf die Welt, umzingelt von Türmen und Gärten, die Jahrhunderte auf dem Buckel haben. Mag diese Architektur auch der Landschaft abgeschaut sein – die Namen ihrer Schöpfer sind bekannt. Das ist der Sieg über die vanitas vanitatum, diese Koordinaten der Beständigkeit und des Fortschritts markieren bestimmte absolute Werte – zu denen auch die besondere, einzigartige und unverwechselbare menschliche Persönlichkeit gehört.“

Solche Lobeshymnen auf Europa habe ich vor zehn Jahren gesungen! Als ich damals das erste Mal im Westen war, glaubte ich, auf einem anderen Planeten gelandet zu sein. Unsere ukrainische Unabhängigkeit war gerade zwei Monate alt, es war Januar, und es gab keinen Schnee, der junge Staat lag in Schmutz und Finsternis, der elektrische Strom wurde zwischen sechs und neun Uhr abends abgeschaltet, Kerzen und Streichhölzer verteuerten sich rapide, die Inflation galoppierte, man musste das Geld so rasch wie möglich ausgeben, zumindest in Alkohol umsetzen, aber Wodka gab es nur auf Karte, dazu die Kälte in den ungeheizten Wohnungen, Engpässe mit der Wasserversorgung und obendrein – dieser Heuler im Fernsehen hatte doch Recht! – keine Lebensmittel.

Und nach einem zweistündigen Flug findest du dich, Simpel und Tor, in einer Welt wieder, wo alles anders ist: eine Villa, ein Park, Kronleuchter und Kerzen, Jugendstilöfen, Kirschholzmöbel, Türklinken und -schlösser, Stille, heißes Wasser, Glühwein und – aus dem Fenster kann man die Alpen sehen. Dazu die Verlockung von Reisen und Abenteuer, Zügen und Autobahnen, Gebirgspässen und tausendjährigen Mauern, Bäumen und Türmen – alles, was in meinem hypothetischen „Europa – das ist …“ auch nur Erwähnung gefunden hatte, war da. Wie sollte einem da nicht die Idee kommen, dass „den europäischen Menschen die Berge und Wälder geformt haben“ und dass „das Sein nach Formvollendung verlangt“.

Ich war verliebt!

Wer kann mir erklären, warum mir heute, genau zehn Jahre später, wo ich zufällig wieder eine Einladung in die Villa im Park erhalten habe, das alles entglitten und vor meinen Augen verblasst ist? Woher kommt diese idiotische Einöde der Vorstadt, woher die Müllhalden? Woher die Sowjetisierung des Raumes? Warum erinnert Deutschland immer mehr an Germaschka? Warum ist es zehn Jahre später so viel weiter nach Osten gerutscht? Warum hat es seinen westlichen Glanz verloren, ohne von der Wärme des Ostens dazugewonnen zu haben? Wo ist es geblieben? Ist meine Illusion um zehn Jahre kleiner und älter geworden? Hat die ukrainische Landschaft in diesem Jahrzehnt solche Fortschritte gemacht, dass mich die deutsche nicht mehr begeistern kann? Das scheint mir wenig glaubhaft.

Ich vermute, an diesem Verschieben und Verdunkeln haben die Woolworth-Menschen einen nicht geringen Anteil. So kommt es immer, wenn es nur ums Nehmen geht.

VOR kurzem hat sich in einem kalifornischen Gefängnis der siebenundzwanzigjährige ukrainische Emigrant Mykola Soltys erhängt. Er hatte im Jahr zuvor ganz Amerika erschauern lassen – nachdem er mit einem Messer sechs Menschen getötet hatte, alle aus der Immigranten-Gemeinde, alle aus seinem Kreis, unter ihnen auch seine schwangere Frau und sein dreijähriger Sohn. Die besttrainierte Polizei der Welt, die amerikanische, konnte ihn zehn Tage lang nicht fassen, die ukrainisch-russische Gemeinde von Sacramento mied jede Zusammenarbeit, ihre Abgeschlossenheit und Isolation gepaart mit völliger Unkenntnis des Englischen machte es unmöglich, Näheres über den Täter in Erfahrung zu bringen. Für einige Zeit befand sich Mykola Soltys auf der von Ussama Bin Laden angeführten Liste der zehn gefährlichsten Verbrecher der Welt (oder auch der Feinde Amerikas, gibt es da überhaupt einen Unterschied?), und sein Bild mit den üblichen Attributen des WANTED hing an allen amerikanischen Straßenkreuzungen. Aber die aus Hollywood-Filmen bekannten Superdetektive stöberten ihn schließlich doch auf – im Haus seiner Mutter. Bei der Verhaftung leistete er keinen Widerstand. In einem Monat sollte die Gerichtsverhandlung beginnen. Aber er entzog sich dem Prozess, indem er sich das Leben nahm.

Was hatte er gewollt? Was hätte er von diesem Amerika gebraucht? Von der Welt? Vom Sein? Warum verlässt ein Mensch sein Land?

Der Fall Soltys ist ein besonderer Fall, und mein Freund übertreibt gewaltig, wenn er die ganze postsowjetische Emigration heute als die „Soltys-Emigration“ bezeichnet. Mein Freund ist Schriftsteller und hat ein Recht auf Übertreibung.

Ich sehe das übrigens ähnlich: mentale Unbestimmtheit, eine Fremdheit der ganzen Welt gegenüber, ein im tiefsten Innern verborgenes Trauma. Eines Tages hat man ein Messer in der Hand, und schon gibt es kein Zurück mehr.

IM Autobus, mit dem ich am 2. November 2001 von Lwiw nach München fuhr, befanden sich fast siebzig Personen, er war bis auf den letzten Platz besetzt. Im Bus, mit dem ich am 30. Januar 2002 von München nach Lwiw zurückfuhr, saßen sieben Personen, genau zehnmal weniger. Vielleicht war das Zufall, vielleicht aber auch eine Gesetzmäßigkeit. Eher trifft das zweite zu: Man fährt hin, aber man kommt nicht mehr zurück.

Niemand hat das Recht, anderen die Suche nach einem besseren Leben zu verbieten, auch nicht ein Schriftsteller. Die Migration, mit anderen Worten die Ausreise zwecks DWS (Dauerwohnsitz), ist eine Suche nach einem besseren Leben, unbestritten. Weshalb also machen mich diese Leute so gereizt? Woher kommt dieser fast zwanghafte Drang, sie nicht zwecks DWS in mein „Europa – das ist …“ ausreisen zu lassen? Zu den Gärten am Hang unter der Burg, zu den Bögen und Türmen, zu den tausendjährigen Bäumen und Mauern und vor allem – zu den Ketten der Alpen am Horizont vor dem Fenster? Doch all das gibt es nur noch in meiner persönlichen Illusion, ordentlich durchgeschüttelt und immer wieder korrigiert, die nur noch irgendwo in mir, in meinem Innersten, existiert. Denn in Wirklichkeit ist Europa ein sozialistisches Woolworth geworden, wo jeder nehmen kann, ohne irgendetwas dafür geben zu müssen.

Ja, daran liegt es wohl, mich ärgert nicht, dass sie ein besseres Leben suchen, sondern dass dieses bessere Leben für sie voll und ganz in den Dimensionen von Woolworth aufgeht. Mich ärgert, dass sie von der Welt tatsächlich so bedauernswert wenig wollen: nämlich Sozialhilfe. Dass sie sich vom Sein lediglich einen gebrauchten Audi oder BMW erträumen. Dass sie von Deutschland die Germaschka wollen.

Ich sitze zwischen ihnen im Autobus, ein absurder Spion fast, der unfreiwillig ihre Gespräche mit anhört und schon durch seinen ausgeprägten Unwillen zu kommunizieren Verdacht erregt. Irgendwie ist er keiner von uns. Vielleicht hat ihn der polnische Zoll eingeschleust? Die Interpol? Die Abwehr?

Der Bus ist ein exterritorialer Raum, deshalb benehmen sie sich wie zu Hause. Ich will nichts Schlechtes sagen: Sie sind immer noch echte Kollektivisten, teilen das Essen, den Alkohol und die Zigaretten, schauen die neuesten russischen Gangsterfilme, wo tapfere Moskauer Banditen in den Straßen von Chicago ukrainische Nationalisten und schwarze Untermenschen abschlachten …

Dann essen sie wieder, trinken und stellen Überlegungen an, dann essen sie noch einmal und tauschen Ratschläge aus, wie man zum Beispiel die nicht mehr fernen deutschen Beamten um den Finger wickeln kann, in ihren Gesprächen tauchen, je näher man dem Grenzübergang in Görlitz kommt, immer mehr entstellte Germanismen auf (Wonchajm, sagen sie, und Fersischerung, und natürlich Finanzamp), denen man aber auch entnehmen kann, dass es keinen Sinn macht, diese Faschistensprache überhaupt zu lernen – sie werden ohnehin im russischen Rayon wohnen … Dann ist die Zeit für jene Witze gekommen, die sich vorwiegend um weibliche Geschlechtsorgane drehen. Ich kann daran nichts Witziges finden, ich bin wohl auch verbohrt und habe keinen Humor. Macht nichts, denke ich mir, noch sieben bis acht Stunden durchhalten, und ich bin euch los für ganze drei Monate! Irrtum: Immer wieder werde ich während meines Aufenthalts diesen bekannten Gesichtern begegnen und auf Schritt und Tritt so viel russische Sprache hören, dass die hiesige, faschistische, in der Tat geradezu entbehrlich scheint.

Alles geht seinen gewohnten Gang. Erfahrene Personen mit DWS erklären den Neuankömmlingen von oben herab die Spielregeln in Deutschland, verschreckte Pensionäre (sind sie gekommen, um hier zu sterben?) sind bereit, jeden Unsinn zu glauben, aufgeregte illegale Billiglohnarbeiter, deren Weg über München nach Italien führt, fangen schon mal an, ihre an den intimsten Stellen versteckten grünen Dollarnoten zu zählen, und von Zeit zu Zeit dringen Namen an mein Ohr, die für mich eine völlig andere, ja diametral entgegengesetzte Konnotation haben: Florenz, Ravenna, Neapel …

Vor der letzten Grenze hält man uns an. Weiter vorn ist das echte Europa, Europa-I, also das Beste, was Europa zu bieten hat – die Zone des Schengener Abkommens, so gut wie grenzenlos, eine Chimäre, die wirklich geworden ist, die Reisefreiheit.

Unsere Pässe werden von den Polen eingesammelt, zurückgegeben werden sie uns schon von den Deutschen. Wir müssen aus dem Bus aussteigen und an einem bestimmten Punkt mehr als eine Stunde warten. Einige der Pensionäre schauen angstvoll zu den deutschen Polizisten hinüber, weniger zu ihnen als zu ihren Schäferhunden. Das ruft bei manchem Erinnerungen wach. Das menschliche Denken ist assoziativ.

Dann taucht eine große rothaarige Polizistin mit unseren Pässen auf. […] Das Tor nach Germanien öffnet sich mit langsamem Knarren, Trompeten spielen, der bis auf den letzten Platz besetzte Bus fährt an.

Dieser Text erscheint nur in der deutschsprachigen Ausgabe

* geb. 1960, lebt als Schriftsteller in Iwano-Frankiwsk in der Westukraine. Der Text ist ein Vorabdruck aus seinem Buch „Das letzte Territorium“, aus dem Ukrainischen von Alois Woldan, mit Fotos von Tadeusz Rolke, Frankfurt (Suhrkamp), Juli 2003.

Le Monde diplomatique vom 13.06.2003, von JURI ANDRUCHOWYTSCH